2.4. Einordnung der Techno-Kultur in die skizzierte Situation
       und Darstellung des Forschungsvorhabens

Subjekt- und Identitätsentwürfe im Techno

Den Referenzrahmen Techno-Kultur in dieses Dispositiv einzuordnen fällt zunächst äußerst schwer. Einen verallgemeinerbaren Entwurf von Subjektivität, der sich obendrein auf eine dergestalte identitäre Stilfigur reduzieren ließe, scheint es kaum zu geben. Zwar existieren Versuche, den Akteur DJ zu einer solchen zu stilisieren (ANM: insbesondere Ulf Poschardt ist hier zu nennen, was später zu diskutieren sein wird, siehe Abschnitt 4.3.3.), doch bezweifle ich massiv, daß dies der Techno-Kultur gerecht wird.

Zwar kursieren desöfteren Parolen wie 'Jeder ist ein DJ', dennoch bleibt das Faktum, daß DJ's - seien es professionell arbeitende oder sogenannte Home-DJ's - nur einen verschwindend geringen Anteil der Leute ausmachen, die sich auf die Techno-Kultur beziehen und auf Techno-Parties gehen.

Gleichfalls fällt es schwer, der Techno-Kultur eine assoziierte Minderheit zuzuordnen. Zwar findet sich auch hier die Verwendung von Termen wie "Nations, Tribes and Families" (ANM: insbesondere die jeweiligen Motti solcher Großveranstaltungen wie der "Love Parade" oder des halbjährlich stattfindenden Riesen-Raves "Mayday" müssen hier genannt werden. Deren Titel lauten beispielsweise "We are one family" oder "One Nation under one Groove"), doch muß bezweifelt werden, daß dies über den Status bloßer Parolen hinausgeht.

Für eine sinnvolle und haltbare Diskussion auf der Basis des Identitätsparadigmas scheinen keine der in Frage kommenden Kriterien gegeben. Gesellschaftliche Ausschließungsmechanismen, die sich anhand der Begriffe Rasse, Klasse und Geschlecht oder vergleichbaren herleiten ließen und dadurch eine homogene Gruppe oder gar Minderheit konstituieren, existieren im Fall der Techno-Kultur wohl kaum.
Für Ulf Poschardt markiert die Techno-Kultur daher "einen entscheidenden Bruch. Während die Referenzkulturen von Disco, House und Hiphop aus den Ghettos kamen, ist die europäische DJ Culture überwiegend Produkt der mittelständischen Jugend." (ANM: Ulf Poschardt, Denn Kunst heißt neue Kunst, S. 146)

Formen politischer oder politisch codierbarer Identitätsentwürfe, die den aus Hiphop und Neo-Nationalismen abgeleiteten Begrifflichkeiten, vergleichbar wären und die eine über den Status bloßer Parolen hinausgehende Selbstinszenierung als Minderheit erlauben, existieren demnach wohl kaum in der Techno-Kultur.

Insgesamt scheint der Rahmen Techno-Kultur beim ersten Hinsehen also eher derart strukturiert, daß er sich den in den 90er Jahren gängigen Mustern identifikationsstiftender Stilfiguren und politisch codierbarer identitärer Subjektivitäten versperrt oder sich doch zumindest anders organisiert.


Zur Entstehung der Idee dieser Diplomarbeit

Vor diesem Hintergrund entstand die Idee zu dieser Untersuchung.
Wichtig ist hierfür die Einschätzung, daß mir die skizzierte, am Paradigma der primär politisch codierten Identität orientierte Herangehensweise im Falle Techno-Kultur wenig brauchbar erscheint.

Als Beispiel hierfür kann Anette Webers Essay "Miniaturstaat Rave-Nation" angeführt werden. Weber analysiert dort mit dem anhand Diederichsen illustrierten Identitätsbegriff und kommt zu vernichtenden Ergebnissen. "So bezeichnet sich die Techno-Community als Nation. Gerade die Subalternen versuchten immer wieder, Begriffe wie Nation umgekehrt zu besetzen, um sich für einen Augenblick mit der Macht auf eine Stufe stellen zu können: Die prominentesten Beispiele sind sicher die verschiedenen Versionen von Black Mationalism. Die Techno-Nation agiert allerdings nicht von unten gegen eine Mehrheit und nutzt dabei deren Konzepte, sondern sie passt sich der Form real existierender Mehrheitsnationen an." (ANM: Anette Weber, Miniaturstaat Rave-Nation, S. 47)

Meine These ist, daß solche Herangehensweisen mit ziemlicher Zwangsläufigkeit derart vernichtende Urteile nach sich ziehen und daher kaum in der Lage sind, zum Thema Techno-Kultur brauchbare Aussagen zu formulieren.

Konterkarieren kann man Webers Argumentation mit Auszügen aus einem Gespräch zwischen Rainald Goetz und Sven Väth, in dem sie prinzipiell ein ähnliches Thema diskutieren:

"Sven: ... Was ich aber generell ablehne, das sind Parolen. So Sachen wie ´Forward ever, backwards never´ oder ´No more fucking Rock'n'Roll´. Wo ich denke, der Spruch ist eigentlich geil, aber als Parole ist das Quatsch.

R.: Ich verstehe die Parolen von Low Spirit eher als Punk, als Witz.

Sven: Für mich ist das Rock'n'Roll.

R.: Das macht ja nichts. Ich will das trennen: was die Leute sagen über ihre Sachen und wie das wirklich abgeht, wirkt und funktioniert. ... so ist die Gefahr bei Low Spirit vielleicht, plötzlich wirklich allen Ernstes im gesellschaftlichen Diskurs politisch was sagen zu wollen." (ANM: Rainald Goetz/Michi Kern, Sven Väth - Maniac Love. The Tokyo Tapes, in: Tempo September 94, S.72/73)

Sowohl Anette Weber als auch Sven Väth und Rainald Goetz diskutieren vorliegende Parolen aus der Techno-Kultur. Die diesen gegenüber eingenomme Haltung unterscheidet sich jedoch enorm. Weber nimmt den Aussageinhalt der Parolen sehr ernst und unterstellt ihm, er würde für oder im Namen von Techno sprechen. Sie behandelt die Parolen als repräsentative Sprechakte, die implizite Aussagen über die Organisationsweise und Verfasstheit der Techno-Kultur beinhalten, welche auf ihre gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen hin befragt werden können. Demgegenüber bestimmen Väth/Goetz derartige Parolen übereinstimmend als "Quatsch" und "Witz", da sie nichts mit Techno zu tun haben.

Genau diese Diskrepanz in der Herangehensweise scheint mir auf ein Grundproblem zu verweisen, das sich stets aufbaut, wenn versucht wird, sich mit Techno analytisch und wissenschaftlich auseinanderzusetzen.

Für die Techno-Kultur scheint es einen äußerst spezifischen Umgang mit Sprache und eine hieraus resultierende genauso spezifische Funktion dieser zu geben. Zunächst kann vermutet werden, daß es sich hierbei um eine deutliche geringere Bedeutung von Sprache handeln könnte. Der weitgehende Verzicht von Techno-Musik auf Sprache und der im Väth/Goetz-Zitat anschaulich dargestellte vergleichsweise laxe Umgang mit ansonsten bedeutungsvollen Begriffen zeigen dies an.


Das Forschungsvorhaben

Mit den beiden Stichworten Sprache und identitäre Subjektentwürfe sind die beiden folgenden Untersuchungsfelder bereits grob umrissen. Die beiden Aspekte geben ziemlich genau die Komplexe an, welche die Techno-Kultur von anderen vergleichbaren Pop- und Jugendkulturen vordergründig unterscheiden.

Das Forschungsvorhaben kann also auf die übergeordnete Frage zugespitzt werden:
Welche Rolle spielen die Kategorien der Sprache und der Identität im Rahmen der Techno-Kultur.


Erläuterung der Vorgehensweise

Im ersten Hauptteil soll ausführlich die Frage nach der Funktion und der Funktionsweise der Sprache in der Techno-Kultur gestellt werden. Dies erklärt sich auch vor dem Hintergrund, daß Techno immer wieder gerne als sprachlose Kulturform bezeichnet wird. Diese Behauptung scheint mir zwar vordergründig nachvollziehbar, dennoch darf nicht vergessen werden, daß auf Techno-Parties natürlich auch gesprochen wird.

Die Untersuchung der Funktion von Sprache wird sich konkret in fünf Teile gliedern. Nach den einleitenden Vorbemerkungen schließt sich eine Auseinandersetzung mit dem vielleicht offensichtlichsten Anzeichen der besonderen Funktion der Sprache an: der Tatsache, daß in Techno-Musik in der Regel nicht gesprochen wird.

Im darauffolgenden Teil wird die Frage gestellt, welche Schwierigkeiten (offenbar stets, wie sich zeigen wird) auftauchen, wenn versucht wird, über Techno in essayistischer, wissenschaftlicher und literarischer Form zu sprechen. Hieraus können erste weiterführende Ableitungen zur Situation der Sprache in der Techno-Kultur gewonnen werden.

Im vierten Teil werden ausführlich die vorliegenden Techno-Zeitschriften und die in ihnen enthaltenen Diskurse analysiert. Das Vorgehen stützt sich dort vor allem auf Foucaults Konzept der Diskursanalyse. Dieser Ansatz abstrahiert weitgehend vom Wahrheits- und Bedeutungsanspruch der untersuchten Aussagen und entwickelt eine Analyseform, die sich auf den spezifischen Bereich des Diskursiven beschränkt. (ANM: vgl. Abschnitt 3.4.1.) Dies erscheint insofern hilfreich, als aufgrund des bereits angedeuteten 'laxen Umgangs mit der Sprache' in der Techno-Kultur sich nach meiner Recherche eine Situation darstellt, daß mit in Techno-Zeitschriften enthaltenen Aussagen prinzipiell so gut wie jede inhaltliche Konstruktion belegt werden kann.

Die Ergebnisse dieser Teile werden schließlich im fünften Abschnitt zusammenfassend diskutiert. Dabei wird die Frage nach dem vorliegenden Diskurstyp geklärt.


Der zweite Hauptteil wird hinsichtlich der Frage nach Konzepten von Subjekt und Identität in der Techno-Kultur ausgerichtet.

Zu Beginn steht dabei eine ausführliche Thematisierung der theoretischen Eingepasstheit der beiden Kategorien in das Denken des Poststrukturalismus und der Postmoderne, die als Basis der weiteren Untersuchung dient. Es schließt sich die Auseinandersetzung mit der Existenzweise der Autorkategorie an, verstanden als spezifische Form eines identifizierbaren Subjekts. In einem dritten Teil wird gesondert die Funktion und Eingebundenheit des Körpers in die Alltagspraktiken der Techno-Kultur diskutiert, woraus sich erste Ableitungen zur Frage der spezifischen Verfaßtheit von Identität ergeben. Im abschließenden vierten Teil soll schließlich die Frage nach der vorliegenden Art und Weise der Identitätsformation im Rahmen Techno-Kultur zusammengefaßt und beantwortet werden.

Die Untersuchung wird sich, was das Material aus der Techno-Kultur anbelangt, weitgehend auf umfangreich vorliegende Techno-Zeitschriften stützen. Die vorliegende Literatur im Feld wissenschaftlicher und analytisch-reflexiver Auseinandersetzungen mit dem Thema ist dagegen eher rar gesät. Hier sind besonders "Techno", das von Philip Anz und Patrick Walder herausgegeben wurde und Ulf Poschardts "DJ-Culture" zu nennen, auf die ich im Laufe der Arbeit immer wieder zurückgreifen werde.