3.2.1. Stimme und Text
         in der Techno-Musik

Wie bereits in der Einführung erläutert, funktioniert Techno-Musik meist ohne Texte und ohne den Klang der menschlichen Stimme. Wenn überhaupt, dann taucht die Stimme in einer im Vergleich zu jeglichen Spielarten des traditionellen Popsongs reduzierten, relativierten oder zurückgenommenen Form auf. Diesbezüglich lassen sich mehrere verwendete Strategien analysieren. Dabei lässt sich zwischen Strategien unterscheiden, die bezüglich den Existenzweisen und Präsenzformen der Stimme reduzierend wirken und solchen Strategien, die sich derart auf das von der Stimme Ausgesagte und die Art und Weise dieses Aussagens beziehen.

Zunächst kann formuliert werden, daß das Auftauchen der Stimme in der Techno-Musik oft dergestalt stattfindet, daß sie nicht als dominante singuläre Tonspur auftritt. Zwar kann auch Techno-Musik derart verfaßt sein, daß die einzelnen Soundelemente und Tonspuren hierarchisch gegliedert sind, also die Präsenz einzelner die anderer deutlich überlagert, doch kann der menschlichen Stimme diesbezüglich keine privilegierte Stellung attestiert werden. Die Musik ist also nicht derart strukturiert, daß die singende oder sprechende Stimme als zentrale und übergeordnete Tonspur firmiert. Anders als in den meisten anderen Popmusiken wirken die einzelnen Musikstücke nicht so, daá sie von der Spur der Stimme beherrscht werden. Anstelle dessen wird die Stimme vergleichsweise eher wie ein Instrument eingesetzt. Sie stimmt zwar nicht nur Töne an, sondern produziert durchaus sinnvolle Aussagen, erfährt jedoch insofern eine Reduzierung ihres Status, indem sie lediglich als ein Element unter vielen fungiert.

Desweiteren muß die Stimme nicht wie im standardisierten, durch Strophe und Refrain strukturierten Popsong über die gesamte Dauer des einzelnen Musikstücks präsent bleiben. Sie wird häufig wie ein gesampletes Geräusch (ANM: Zum Sampling vgl. Abschnitt 4.2.3.) gehandhabt und bei Bedarf kurz in das Musikstück eingebaut. Die Musik weist der Stimme also auch häufig den Status einer - keineswegs privilegierten oder zentralen - Geräuschquelle zu.

Dem entspricht, daß die Stimme in Techno-Tracks kaum jemals die Funktion hat, eine Geschichte - ob singend oder sprechend - zu erzählen. Die Stimme tritt allenfalls situativ auf, ruft etwas oder spricht ein paar Worte. Die hierbei getroffenen Aussagen bestehen kaum in mehr als ein paar wenigen Zeilen, die meist den Status bloßer Parolen besitzen. "Set me free!" oder "Set your body free!", "Release yourself!" oder "Let the beat control your body!" sind vor allem in der House-Musik typische Textelemente. Als Adressaten dieser Aussagen kommen die Individuen nur als Tanzende - oder vielleicht sollte man genauer tanzende Körper sagen - in Frage. Auffällig ist, daß sich das Gesagte meist darauf beschränkt, Aufforderungen oder Befehle zu geben, die sich entweder direkt an den Körper richten oder sich zumindest auf das Verhältnis zu ihm beziehen. (ANM: Vgl. Abschnitt 4.3.2.)

Festzuhalten bleibt, daß in der Techno-Musik die Möglichkeit, mittels gesungenem oder gesprochenem Text Aussagen und Sinnzusammenhänge zu produzieren, kaum wahrgenommen wird. Hierin unterscheidet sie sich evidentermassen von anderen jugend- und subkulturgebundenen Popmusiken der letzten Jahrzehnte. Doppelt interessant wird der Zusammenhang, wenn man bedenkt, daß gerade das Medium der Songtexte für Jugendkulturen häufig die Funktion einer Kommunikations-, Verständigungs-, Reflexions- und Diskussionsebene besitzt.

Songtexte funktionieren diesbezüglich in der Regel auf zwei Achsen: zum ersten erfüllen sie die Funktion, Ideologie zu bilden, die die betreffende Kulturform von einer als majoritär begriffenen Allgemeinheit (Gesellschaft, Mainstream, Establishment etc.) abgrenzen soll. Exemplarisch hierfür kann Punk genommen werden - die erste Platte der Sex Pistols (Never mind the Bollocks, 1977), im allgemeinen als Urknall von Punk verhandelt (ANM: Vgl. Greil Marcus, Lipstick Traces), steckte mittels der in den Songtexten gemachten expliziten Aussagen (z.B. Anarchy, Fascist Regime, No Future) bereits ein ganzes Universum an Differenzen zwischen der eigenen Kultur und der antithetisch gesetzten Allgemeinheit ab.

Rekurrierend auf die im Einführungskapitel angerissenen beiden weiteren global existierenden jugendkulturellen Popmusiken Hiphop und Alternative Rock, läßt sich sagen, daß in ihnen durchaus eine aktualisierende Verwendung der Technik stattfindet, sich mittels eines durch explizite Aussagen konstituierten sinnhaften Bedeutungssystems von der Allgemeinheit zu unterscheiden. Insbesondere für Hiphop gilt, daß noch nie in einer Popmusik zuvor so viel geredet wurde. (ANM: Vgl Günther Jacob, Update YO! Rap Revolution, S.167)

Als zweite Funktion der Songtexte muß die subjektivierende Wirkung angeführt werden.(ANM: Zum Begriff der Subjektivierung vgl. Abschnitt 4.1.2.) Die gemachten Aussagen dienen als moralisch-ethische, soziale und praktische Anleitungen, an denen sich das an der betreffenden Kultur partizipierende Individuum im Alltag orientieren und sich durch die hierauf aufbauenden sozialen Praktiken und Verhaltensweisen subjektivieren kann.

Beide skizzierten Funktionen von Popmusik sind im Fall Techno, aufgrund des entweder reduzierten oder sogar abgeschafften Songtexts nicht gegeben. Im Gegenteil scheint es gerade für Techno-Musik konstitutiv zu sein, auf die Technik, mittels expliziter Aussagen in der Musik einerseits subkulturkonstituierend und andererseits auf die Individuen subjektivierend einzuwirken, zu verzichten.

Rainald Goetz beschreibt den gesamten Komplex fast wie eine Befreiung: Für ihn "hat Techno im Raum der Sprache gearbeitet und dort bekanntlich das Diktat der auktorialen Erzählung durch einen die Musik immerzu mit sprachlicher Mitteilung und dem Gestus des Expressiven behelligenden Text abgeschafft. Gerade anfangs, 1988, beim ersten Acid-House-Boom, kam einem das wie eine Erlösung vor. Kein Rock-Geschrei, kein Rap-Teaching mehr: das pure Parlament der vielen Stimmen eines kollektiven Glücks: Monotonie und Einzelworte, Fetzen, Reste. Nichtkohärenz, Nichttext. Danke." (ANM: Rainald Goetz, Die Ordnung der Ekstase, S. 18)