Die massive Reduzierung der Bedeutung der menschlichen Stimme und der von ihr gemachten
Aussagen soll nun hinsichtlich der Frage, wie sich das Hören von Musik vorgestellt werden
kann und zu welchen diesbezüglichen Modifikationen Techno-Musik zwingt, diskutiert
werden.
Hierbei werde ich mich vor allem auf Roland Barthes' Aufsatz "Zuhören" (ANM:
in: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt 1990, S. 249-263) beziehen.
Die moderne Form des Zuhörens leitet sich nach Barthes historisch aus den christlichen
Praktiken der Beichte her. Er koppelt das moderne Zuhören eng an das Zuhören des
Psychoanalytikers und sein Thema ist demgemäß: "das Unbewußte des anderen, seine
Sprache hören". (ANM:Barthes 259) Der Begriff des Unbewußten ist hier allgemein
verwendet, das heißt er meint auch "dessen weltliche Formen: das Implizite, das
Indirekte, das Zusätzliche, das Hinausgezögerte". (ANM:260) Das Zuhören bedeutet
auch Sondieren und dieses Sondierte konstituiert Intimität. Privilegierte Einheit dieses
Zuhörens ist für Barthes die Stimme, die er als "Materialität des Körpers, die
der Kehle entsteigt, dem Ort, an dem das Lautmetall gehärtet und gestanzt wird"
(ANM:259) definiert. "Als Körperlichkeit des Sprechens liegt die Stimme in der
Artikulation des Körpers und des Diskurses, so daß das Zuhören in der Hin- und
Herbewegung zwischen beiden vor sich gehen kann."(ANM:259) Die beiden genannten
Artikulationen (Körper und Diskurs) geben also eine Art Rahmen für das moderne Zuhören
ab.
Es kann angenommen werden, daß die Struktur des von Barthes analysierten modernen
Zuhörens, auch was das Hören von Musik - und insbesondere von Popmusik - anbelangt,
Gültigkeit besitzt.
Als Indiz können unzählige Texte aus Rock- und Pop-Journalismus genommen werden, die ihr
Sprechen zumeist im von Barthes aufgezeigten Schema zwischen Körper und Diskurs
situieren. Als Beispiel bietet sich der bekannte amerikanische Popjournalist Greil Marcus
an, der sich zu den Sex Pistols wie folgt äußert: "... allerdings brauchte man sich
God save the Queen nur ein einziges Mal anzuhören, und jeder Sinn war dahin. Der
verzehrende Abscheu in Johnny Rottons Stimme (We love our Queen/We mean it, man/God save -
damit endete dieser Vers), die grelle Unversöhnlichkeit der Musik waren so intensiv, daß
sie Unversöhnlichkeit zu einem alles umfassenden neuen Wert schlechthin machten; allein
wie God save the Queen klingt, läßt an Forderungen denken, die keine Regierungskunst je
erfüllen könnte." (ANM: Greil Marcus, Lipstick Traces, S. 18)
Barthes` Überlegungen entsprechend bewegt sich Marcus' Analyse in einem Raum, der
einerseits von den Aussagen der Sex Pistols und andererseits von Johnny Rottons Stimme
umrissen wird, um aus beidem schließlich seine Schluáfolgerung zu kombinieren.
Demgegenüber verzichtet Techno-Musik weitestgehend auf die Stimme, läßt also die
privilegierte Einheit modernen Zuhörens außen vor. Eine Marcus' Analyse vergleichbare
Herangehensweise scheint daher ausgeschlossen. Techno-Musik kann demnach also nicht
Gegenstand dieses Zuhörens sein oder um es anders zu formulieren: Barthes' modernes
Zuhören entspricht kaum der Art und Weise, wie Techno-Musik gehört wird.
Zusammengefasst ergibt sich, daß in der Techno-Musik der Umfang der bereits in der Musik
enthaltenen Vorbedingungen des Hörens dieser wesentlich geringer zu sein scheint als in
anderen Popmusiken. Doch mag dieser erste Eindruck trügen, denn bislang hat sich
lediglich die Ungültigkeit und das Nichtfunktionieren einiger spezifischer Aspekte des
Zuhörens herausgestellt. In einem späteren Teil wird zu klären sein, ob und an welchen
Stellen Techno-Musik wieder - dann möglicherweise völlig different verfasste -
Vorbedingungen setzt.
Um ein letztes Mal zu Barthes' Text zurückzukehren: "Beim Anhören eines klassischen
Musikstücks wird der Zuhörer aufgefordert, dieses Stück zu entziffern, das heißt
(durch seine Bildung, seinen Fleiß, seine Sensibilität) dessen Aufbau zu erkennen, der
genauso kodiert (vorbestimmt) ist wie der eines Palastes derselben Epoche; beim Anhören
einer Komposition (das Wort ist hier in seinem etymologischen Sinne zu verstehen) von Cage
jedoch höre ich jeden einzelnen Ton nacheinander, nicht in seiner syntagmatischen
Ausdehnung, sondern in seiner rohen und gleichsam vertikalen Signifikanz: Indem sich das
Zuhören dekonstruiert, veräußerlicht es sich und zwingt das Subjekt zum Verzicht auf
seine Intimität." (ANM: Roland Barthes, Zuhören, S. 263)
Im Sinne des Abbaus der Konventionen des modernen Zuhörens können also durchaus
geschlossen werden, daß sich auch in der Techno-Musik das Zuhören dekonstruiert.
Vorbedingungen wie Bildung, Fleiá und Sensibilität sind hier sicherlich suspendiert.
Dies gilt jedoch in vergleichbarem Maß für alle Popmusiken. Darüber hinaus - und hierin
besteht ein Spezifikum der Techno-Kultur - ist die Vorbedingung der Kennerschaft von
Sprache und den auf ihr beruhenden Distinktionen als Vorbedingung des Hörens ebenso
suspendiert.
Die Dekonstruktion des Zuhörens darf sich hierbei allerdings nicht als quasi vollständig
zu Ende geführter Prozeß vorgestellt werden, in dem Sinne, daß nun formuliert werden
kann, Techno-Musik sei per se dekonstruierende oder bereits dekonstruierte Musik. Neben
der zunächst offen bleibenden Frage, ob es nicht direktere Verbindungen von der Musik zu
den individuellen Körpern gibt (ANM: VGL: Abschnitt 4.3.) und sich hieraus eventuell
andere Vor-Raus-Setzungen ableiten lassen, muß zumindest eingeräumt werden, daß auch
die musikalischen Strukturen von Techno wie ein Code behandelt und demgemäß entziffert
werden können. Zwar sind die Kompositionsanordnungen der Musik in der Regel relativ
einfach (ANM: Vgl. Manuela Keller, Eine Musikanalyse, Techno 123-131) und diese Art des
Entzifferns stellt alles andere als eine verbreitete oder gar in relevantem Maße
diskursivierte Technik dar, dennoch kann ihre Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden. Es
kann allenfalls davon ausgegangen werden, daß sich dieser entzifferbare Code aufgrund
seiner vergleichsweise simplen Strukturiertheit wohl kaum in historisch bestehende
Diskurse des Entzifferns musikalischer Codes sozial integriert und diskursiv integrieren
läßt.
Recht plastisch und mit einigem Pathos formuliert Rainald Goetz den Zusammenhang derart:
"Techno: Abschied vom Terror der Tonalität, dem Knast der Akkordwechsel in Kadenzen,
diesen alten Traum der Frühmoderne, für den sich angeblich ja auch der sogenannte Jazz
interessiert hat ... - erst Techno hat das musikalisch wirklich plausibel gemacht und
popularisiert. Musik, die nochmal ganz am Anfang anfängt und alles, jedes Element neu
erfindet. Das ist das Irre, stumpf und naiv, geschichtslos, größenwahnsinnig, - und eben
wirklich auch groß." (ANM: Rainald Goetz, Die Ordnung der Ekstase, S. 16/17)