3.2.2. Die Implikationen
         für das Zuhören

Die massive Reduzierung der Bedeutung der menschlichen Stimme und der von ihr gemachten Aussagen soll nun hinsichtlich der Frage, wie sich das Hören von Musik vorgestellt werden kann und zu welchen diesbezüglichen Modifikationen Techno-Musik zwingt, diskutiert werden.
Hierbei werde ich mich vor allem auf Roland Barthes' Aufsatz "Zuhören" (ANM: in: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt 1990, S. 249-263) beziehen.

Die moderne Form des Zuhörens leitet sich nach Barthes historisch aus den christlichen Praktiken der Beichte her. Er koppelt das moderne Zuhören eng an das Zuhören des Psychoanalytikers und sein Thema ist demgemäß: "das Unbewußte des anderen, seine Sprache hören". (ANM:Barthes 259) Der Begriff des Unbewußten ist hier allgemein verwendet, das heißt er meint auch "dessen weltliche Formen: das Implizite, das Indirekte, das Zusätzliche, das Hinausgezögerte". (ANM:260) Das Zuhören bedeutet auch Sondieren und dieses Sondierte konstituiert Intimität. Privilegierte Einheit dieses Zuhörens ist für Barthes die Stimme, die er als "Materialität des Körpers, die der Kehle entsteigt, dem Ort, an dem das Lautmetall gehärtet und gestanzt wird" (ANM:259) definiert. "Als Körperlichkeit des Sprechens liegt die Stimme in der Artikulation des Körpers und des Diskurses, so daß das Zuhören in der Hin- und Herbewegung zwischen beiden vor sich gehen kann."(ANM:259) Die beiden genannten Artikulationen (Körper und Diskurs) geben also eine Art Rahmen für das moderne Zuhören ab.

Es kann angenommen werden, daß die Struktur des von Barthes analysierten modernen Zuhörens, auch was das Hören von Musik - und insbesondere von Popmusik - anbelangt, Gültigkeit besitzt.

Als Indiz können unzählige Texte aus Rock- und Pop-Journalismus genommen werden, die ihr Sprechen zumeist im von Barthes aufgezeigten Schema zwischen Körper und Diskurs situieren. Als Beispiel bietet sich der bekannte amerikanische Popjournalist Greil Marcus an, der sich zu den Sex Pistols wie folgt äußert: "... allerdings brauchte man sich God save the Queen nur ein einziges Mal anzuhören, und jeder Sinn war dahin. Der verzehrende Abscheu in Johnny Rottons Stimme (We love our Queen/We mean it, man/God save - damit endete dieser Vers), die grelle Unversöhnlichkeit der Musik waren so intensiv, daß sie Unversöhnlichkeit zu einem alles umfassenden neuen Wert schlechthin machten; allein wie God save the Queen klingt, läßt an Forderungen denken, die keine Regierungskunst je erfüllen könnte." (ANM: Greil Marcus, Lipstick Traces, S. 18)

Barthes` Überlegungen entsprechend bewegt sich Marcus' Analyse in einem Raum, der einerseits von den Aussagen der Sex Pistols und andererseits von Johnny Rottons Stimme umrissen wird, um aus beidem schließlich seine Schluáfolgerung zu kombinieren.

Demgegenüber verzichtet Techno-Musik weitestgehend auf die Stimme, läßt also die privilegierte Einheit modernen Zuhörens außen vor. Eine Marcus' Analyse vergleichbare Herangehensweise scheint daher ausgeschlossen. Techno-Musik kann demnach also nicht Gegenstand dieses Zuhörens sein oder um es anders zu formulieren: Barthes' modernes Zuhören entspricht kaum der Art und Weise, wie Techno-Musik gehört wird.

Zusammengefasst ergibt sich, daß in der Techno-Musik der Umfang der bereits in der Musik enthaltenen Vorbedingungen des Hörens dieser wesentlich geringer zu sein scheint als in anderen Popmusiken. Doch mag dieser erste Eindruck trügen, denn bislang hat sich lediglich die Ungültigkeit und das Nichtfunktionieren einiger spezifischer Aspekte des Zuhörens herausgestellt. In einem späteren Teil wird zu klären sein, ob und an welchen Stellen Techno-Musik wieder - dann möglicherweise völlig different verfasste - Vorbedingungen setzt.

Um ein letztes Mal zu Barthes' Text zurückzukehren: "Beim Anhören eines klassischen Musikstücks wird der Zuhörer aufgefordert, dieses Stück zu entziffern, das heißt (durch seine Bildung, seinen Fleiß, seine Sensibilität) dessen Aufbau zu erkennen, der genauso kodiert (vorbestimmt) ist wie der eines Palastes derselben Epoche; beim Anhören einer Komposition (das Wort ist hier in seinem etymologischen Sinne zu verstehen) von Cage jedoch höre ich jeden einzelnen Ton nacheinander, nicht in seiner syntagmatischen Ausdehnung, sondern in seiner rohen und gleichsam vertikalen Signifikanz: Indem sich das Zuhören dekonstruiert, veräußerlicht es sich und zwingt das Subjekt zum Verzicht auf seine Intimität." (ANM: Roland Barthes, Zuhören, S. 263)

Im Sinne des Abbaus der Konventionen des modernen Zuhörens können also durchaus geschlossen werden, daß sich auch in der Techno-Musik das Zuhören dekonstruiert. Vorbedingungen wie Bildung, Fleiá und Sensibilität sind hier sicherlich suspendiert. Dies gilt jedoch in vergleichbarem Maß für alle Popmusiken. Darüber hinaus - und hierin besteht ein Spezifikum der Techno-Kultur - ist die Vorbedingung der Kennerschaft von Sprache und den auf ihr beruhenden Distinktionen als Vorbedingung des Hörens ebenso suspendiert.

Die Dekonstruktion des Zuhörens darf sich hierbei allerdings nicht als quasi vollständig zu Ende geführter Prozeß vorgestellt werden, in dem Sinne, daß nun formuliert werden kann, Techno-Musik sei per se dekonstruierende oder bereits dekonstruierte Musik. Neben der zunächst offen bleibenden Frage, ob es nicht direktere Verbindungen von der Musik zu den individuellen Körpern gibt (ANM: VGL: Abschnitt 4.3.) und sich hieraus eventuell andere Vor-Raus-Setzungen ableiten lassen, muß zumindest eingeräumt werden, daß auch die musikalischen Strukturen von Techno wie ein Code behandelt und demgemäß entziffert werden können. Zwar sind die Kompositionsanordnungen der Musik in der Regel relativ einfach (ANM: Vgl. Manuela Keller, Eine Musikanalyse, Techno 123-131) und diese Art des Entzifferns stellt alles andere als eine verbreitete oder gar in relevantem Maße diskursivierte Technik dar, dennoch kann ihre Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden. Es kann allenfalls davon ausgegangen werden, daß sich dieser entzifferbare Code aufgrund seiner vergleichsweise simplen Strukturiertheit wohl kaum in historisch bestehende Diskurse des Entzifferns musikalischer Codes sozial integriert und diskursiv integrieren läßt.

Recht plastisch und mit einigem Pathos formuliert Rainald Goetz den Zusammenhang derart: "Techno: Abschied vom Terror der Tonalität, dem Knast der Akkordwechsel in Kadenzen, diesen alten Traum der Frühmoderne, für den sich angeblich ja auch der sogenannte Jazz interessiert hat ... - erst Techno hat das musikalisch wirklich plausibel gemacht und popularisiert. Musik, die nochmal ganz am Anfang anfängt und alles, jedes Element neu erfindet. Das ist das Irre, stumpf und naiv, geschichtslos, größenwahnsinnig, - und eben wirklich auch groß." (ANM: Rainald Goetz, Die Ordnung der Ekstase, S. 16/17)