4.3.5. Die
         Dezentrierungs-These

Insgesamt kann aufgrund der zusammengetragenen Aspekte durchaus von einer aufgewerteten und exponierten Bedeutung des Körpers in den Erlebnis- und Erfahrungsweisen der Techno-Kultur gesprochen werden.
Dies deutete sich bereits bei der Untersuchung der in Techno-Musik enthaltenen Vocal-Samples an. "As disco lyrics make clear, make obvious, make painfully redundant, the beat brooks no denial. It moves us, controls us, deprives us of our will. Dancing becomes a form of submission to the overmastering beat." (ANM: Walter Hughes, zit. nach: Ulf Poschardt, DJ Culture, S. 113)

Für die Frage der Identitätsformation ist der skizzierte Zusammenhang des "Penetriert- und Kontrolliertwerdens durch den Beat" (ANM: Ulf Poschardt, DJ-Culture, S. 116) vom besonderem Interesse. Er korreliert nach meiner Aufassung deutlich mit den Beschreibungen der 'Trancezustände', die durch das Tanzen herbeigeführt werden. Beide Aspekte können als gewollte und mehr oder weniger selbstbestimmt produzierte Veränderungen und Eingriffe in die individuelle physische und psychische Integrität durch das Individuum selbst bezeichnet werden.
Eines der zentralen Themen der postmodernen Kultur, die Auflösung und Zersetzung des Subjekts der Moderne, das Jameson als "monadenähnliches Gefäß" (ANM: Jameson, Postmoderne, S. 60) definiert, vollzieht sich demnach auf Techno-Parties in sinnbildlichster Art und Weise: Durch Einfürung der Drogensubstanzen in das als Gefäß definierte Subjekt lösen sich dessen Grenzen auf, es findet ein Prozeß der Entgrenzung statt. Die aufgewertete Funktion des Körpers in der Techno-Kultur findet offenbar in den Praktiken des Drogengebrauchs und des stundenlangen Tanzens ihre konkreten Ausdrucksformen.

Da Drogengebrauch und stundenlanges Tanzen als weit verbreitete Verhaltensweisen in der Techno-Kultur angesehen werden müssen, kann auf eine allgemeine Tendenz der von den Einzelnen bewußt gewählten Dezentrierung und Entgrenzung der Subjekte geschlossen werden. Dabei handelt es sich auch um konkrete und intendierte Eingriffe der Individuen in die Integrität ihrer Körper, die tendenziell einer Produktion spezifischer Körperlichkeit verglichen werden können.
Die feststellbare Tendenz der Dezentrierung entspricht demnach einem weiteren Merkmal postmoderner Kultur: der "Substitution des entfremdeten Subjekts durch das fragmentierte Subjekt". (ANM: Jameson, Postmoderne, S. 59)
In diesem Sinne kann auch das Argument von den erreichten Trancezuständen verstanden werden. Andreas, ein Techno-Begeisterter beschreibt dies wie folgt: "Leute, die etwas gespickt haben, sind manchmal viel zu auffällig. Die sind in einer ganz anderen Welt, tanzen, als ob sie auf dem Mars wären. Ja. Trip to Mars. Sie tanzen für sich allein. Du kannst mit ihnen nicht mehr richtig reden, du kannst mit ihnen nicht tanzen, du kannst mit denen praktisch nichts anfangen." (ANM: zit. nach: Regula Bochsler/Markus Storrer, Talking Technoheads II, S. 174)

Der kommunikative Konsens zwischen den Subjekten scheint so aufgebrochen. In den Vordergrund rücken dann, je nach Sichtweise, entweder das was Jameson unter der "neuen Oberflächlichkeit" (ANM: Jameson, Postmoderne, S. 50) fasst, oder aber die von ihm konstatierte "neue emotionale Grundstimmung". (ANM: Jameson, S.50)
"Die Beziehungen an Parties sind im seltensten Fall sehr tief. Es sind einfach Partybeziehungen. Man mag die Leute schon, geht auch mal tiefer, aber eher selten. (...) Geistig ist es oberflächlich, aber emotional ist es ehrlich. Emotional sind diese Beziehungen überhaupt nicht oberflächlich." (ANM: Nader, zit. nach: Regula Bochsler/Markus Storrer, Talking Technoheads II, S. 175)