4.4.3. Subjektivierung
         und Techno-Kultur II

Da im Vorhergehenden festgestellt wurde, daß die Subjektivierungsweise, sich mittels Geständnissen und dem Aussagen der Wahrheit über das eigene Selbst als Subjekt zu konstituieren und spezifische Identität aufzubauen, in der Techno-Kultur kaum zum Tragen kommt, stellt sich die Frage, anhand welcher ordnenden Prinzipien die gewonnenen Bestimmungen bezüglich der Frage der Identitätsformation gruppiert und zusammengefaßt werden können.
Die beiden anderen von Foucault beschriebenen Konzepte, jenes der Subjektivierung durch die Wissenschaften und jenes der Subjektivierung durch die binär strukturierten Teilungspraktiken (ANM: Vgl. Abschnitt 4.1.2.) scheinen hierfür evidentermaßen nicht in Frage zu kommen. Wie in Abschnitt 3.5. ausgeführt, haben die Diskurse der Techno-Kultur kaum etwas mit der Verfaßtheit wissenschaftlicher Diskursformationen gemein und bezüglich der Teilungspraktiken fanden sich in der gesamten Untersuchung keine Hinweise, die eine gesonderte Bedeutung derer im kulturellen Referenzrahmen Techno anzeigen.


Aspekte der tendenziellen Auflösung identitärer Subjektivität

Es kann daher davon ausgegangen werden, daß sich der Frage nach Kriterien der Identitätsformation in der Techno-Kultur anders angenähert werden muß. Unter Zuhilfenahme von Foucaults Diktum "Wir müssen neue Formen der Subjektivität zustandebringen, indem wir die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen." (ANM: Foucault, Das Subjekt und die Macht, S. 250), soll im Folgenden versucht werden, Indizien zusammmenzutragen, die dafür sprechen, daß die Kategorien des Subjekts und der Identität in der Techno-Kultur eher unter dem Aspekt ihrer Veränderbarkeit und jeweils historischen Konstruiertheit betrachtet werden müssen.



Identität und diskursive Identifizierung in den Sprachspielen


In diesem Teil soll die Frage diskutiert werden, wie die in Abschnitt 3 gefundenen Ergebnisse bezüglich des vorliegenden Diskurstyps und der Funktion der Sprache in der Techno-Kultur hinsichtlich der Wirkungsweise identifizierender Zuschreibungen in den Alltagspraktiken und - diskursen der Individuen eingeschätzt werden können. Als Orientierungshilfe wird dabei die gewonnene Ableitung, daß sich Identität in der Techno-Kultur unter dem Aspekt ihrer Historizität und Modifizierbarkeit vorfindet, dienen.

Wie gezeigt, kann die von Foucault beschriebene Subjektivierungsweise via Geständnistechnologie kaum in der Techno-Kultur gefunden werden. Hiermit unmittelbar verbunden ließ sich ebenfalls auf die weitgehende Abwesenheit der Kategorie der Bedeutung und der Technik der Interpretation in den Diskursen der Techno-Kultur schließen. Geständnisse und ihre auswertenden Interpretationen können als Diskurspraktiken verstanden werden, in denen sich die Individuen nachhaltig subjektivieren.
Es kann daher gefolgert werden, daß mit der deutlich reduzierten Rolle dieser Subjektivierungsform eine Tendenz einhergeht, dernach sich die verwickelten Individuen in den Sprachspielen nur auf begrenzte Art einander zu erkennen geben. Als deutlicher Hinweis hierauf kann das festgestellte Charakteristikum der Oberflächlichkeit verstanden werden.

Zusammenfassend kann daher angenommen werden, daß sich die in der Techno-Kultur gegenüberstehenden Individuen vergleichsweise wenig voneinander wissen. Da angewandtes Wissen über andere Individuen sich zwangsläufig aus deren vorgängigen Erzählungen und Praktiken herleitet, kann auf eine reduzierte Funktion der jeweiligen Geschichte der Individuen in den Diskursen geschlossen werden.
Die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, daß in den Sprachspielen Aussagen auftauchen, für die gilt, daß sie als diskursive Praktik funktionieren, die "das Individuum (...) an seine Identität fesselt", (ANN: Foucault, Das Subjekt und die Macht, S. 246) kann so als wesentlich begrenzter angesehen werden.

Die sozialen Beziehungsgefüge können daher als flexibler und flüchtiger als in vergleichbaren kulturellen Formationen beschrieben werden. Bochsler/Storrer zitieren aus von ihnen geführten Interviews mit Techno-Begeisterten hierzu wie folgt:
"Techno ist wie ein Spielplatz, auf dem man mehr ausprobieren kann. auch unter Leuten, mit denen man keine enge Beziehung hat." (ANM: Nader, zit. nach Bochsler/Storrer, Talking Technoheads II, S. 173)

Die Möglichkeit identifizierende Zuschreibungen in den Sprachspielen zu verwenden, wird folglich durch das nur begrenzte Wissen voneinander erheblich eingeschränkt. Dieser Einschränkung entspricht die Tatsache, daß die Funktion der Sprache in der Techno-Kultur in keinster Weise darin verortet werden kann, daß mittels dieser ethische Normen (ANM: Dies heißt nicht, daß die Techno-Kultur als frei von Normen gesetzt werden soll. Es kann sicherlich davon ausgegangen werden, daß sie, wie alle anderen sozialen Formationen vielfältige Normen strukturierend beinhaltet. Entscheidend und von Bedeutung ist hier einzig der Aspekt, daß sich keine in den Diskursen explizierten Normen finden, die juridisch eingeklagt werden könnten.) und Verhaltensregeln expliziert werden, auf welche die Individuen verpflichtet werden könnten. (ANM: Vgl. Abschnitt 3.5.2.) Insofern entfällt auch weitgehend die Möglichkeit, die Individuen hinsichtlich bestehender fixierter Normen differenzierend zu beschreiben und durch diese Beschreibung zu subjektivieren.
Dieser Aspekt korreliert deutlich mit Foucaults Konzept einer Subjektivierungsform, nach der die Individuen durch binär strukturierte Teilungspraktiken subjektiviert werden. Eine vorliegende und explizierte Verhaltensregel kann als Teilungspraktik verstanden werden, da nach ihr die Individuen hinsichtlich des Kriteriums der Einhaltung oder Übertreteung der Norm in binärer Form identifiziert werden können. Regula Bochsler und Markus Storrer spitzen den gesamten Zusammenhang wie folgt zu:
"In diesem von Normen entrümpelten Raum kann mit Beziehungen und Rollen gespielt werden. Therapie - nein, danke. Parties machen mehr Spaß." (ANM: Bochsler/Storrer, Talking Technoheads II, S. 173)


Teilungspraktiken und diskursive Identifizierung


Ein konkretes Beispiel für die relativierte Bedeutung von Teilungspraktiken kann abschließend gegeben werden. Poschardt beschreibt die historische Entstehung der Techno-Kultur aus der Disco-Kultur der 70er Jahre. Für ihn ist dabei "Disco (...) ohne eingehende Thematisierung von Homosexualität nicht zu verstehen. (...) Disco wurde zur Vorzeigekultur der schwulen Minderheit." (ANM: Poschardt, DJ-Culture , S. 112)
Poschardt zufolge eignete sich die Gay-Community in den 70er Jahren die Disotheken an und erfand gewissermaßen Disco. Die Disco-Kultur und die in ihrem Rahmen möglichen Verhaltensweisen "sicherten der schwulen Community einen Ort, wo sie, jenseits aller gesellschaftlichen Repressalien, die eigene Sexualität (...) ausleben konnte". (ANM: Poschardt, DJ-Culture, S. 111)

Die im allgemeinen gesellschaftlichen Rahmen identifizierend wirkende Teilungspraktik der Gruppierung der Individuen hinsichtlich der Kriterien 'heterosexuell/homosexuell' wurde damit in ihrer strukturierenden Funktion im kulturellen Rahmen Disco suspendiert. Diese Tendenz findet sich auch in der Techno-Kultur - wenn auch in abgeschwächter Form - noch enthalten. Belegen läßt sich dies mit Äußerungen, die Bochsler/Storrer in ihren Interviews mit Techno-Begeisterten erfuhren:
"In der Technoszene kommt es generell nicht darauf an, welches Geschlecht du hast oder auf welches Geschlecht du stehst." (ANM: Jasmine, Zit nach: ebd, S. 173)
Eine einordnende Identifikation der Individuen im Sinne des Kriteriums 'homo- und heterosexuell' findet demnach in der Techno-Kultur kaum statt.

Zusammengefaßt ergibt sich also in der Techno-Kultur eine weitgehende Abwesenheit der skizzierten Subjektivierungsform, nach der sich Individuen durch Geständnispraktiken in Subjekte verwandeln. Anstelle dessen kann auf die systematische Verankerung sozialer und diskursiver Techniken geschlossen werden, die die Verfaßtheit individueller Identität als stets historische, konstruierte und veränderbare Größe situieren.
Der Begriff der Identität verliert so zumindest einen Teil seiner konnotativen Bedeutung. Da Identität demnach allenfalls als sich stetig modifizierende Form begriffen werden kann, kann der Begriff kaum im strengen Sinne aufrechterhalten werden. Im Medium der Sprache können so, in Abwandlung der These Kerkmanns (ANM: Vgl. Abschnitt 3.5.2.) allenfalls fotografische Zwischenergebnisse bezüglich des Identitätskriteriums formuliert werden. Bis diese allerdings ausgesprochen und formuliert sind, hat sich die konkrete Verfaßtheit der betreffenden Identität längst wieder verschoben.