Über Musik zu sprechen scheint zunächst einmal etwas ganz alltägliches zu sein. Fast
alle Menschen haben ihre Lieblingsmusik oder Lieblingslieder, worüber sich die meisten
auch bisweilen mit anderen unterhalten. Auf der alltagsdiskursiven Ebene scheint dies
regelmäßig, und ohne größere Probleme zu verursachen stattzufinden. Die
Diskursführung untersteht hier meist einem Regime des individuellen Geschmacks, das die
Funktion hat, konstatierte Differenzen - auf die diese Diskurse prinzipiell immer
zusteuern - derart zu situieren, daß diese Differenzen Bestand haben können und keine
Notwendigkeit entsteht, sie, in welcher Form auch immer auflösen zu müssen. Die
getroffenen Aussagen gehen dabei selten über sich identifizierende Formulierungen wie
"das gefällt mir," oder "das finde ich gut" hinaus.
Spezifiziert sich diese Perspektive des Sprechens über Musik aus einer solchen Position
der Umittelbarkeit, so nimmt sie häufig einen sogenannten Fan-Standpunkt ein. Dieser
kennzeichnet sich primär durch sein unbedingt apologetisches Eintreten für die jeweils
präferierte Musik und deren Produzenten. Im klassischen Sinne spricht der Fan-Standpunkt
mit ausgeprägter Systematik unkritisch und unbedingt affirmierend von seinem Gegenstand.
Die von Roland Barthes beklagte Schwierigkeit des Sprechens über Musik beginnt vermutlich
erst dort, wo diesem bestimmte Aufgaben und Funktionen zugewiesen werden. Also
beispielsweise, wenn der Versuch unternommen werden soll, eine gehörte Musik textlich zu
beschreiben. Analog des von Foucault bestimmten Begriffs der Bedeutung (ANM: Vgl. 3.4.2.4)
kann demgemäß über Musik nur gesprochen werden, wenn ihrer konkreten Verfaßtheit die
Organisationsweise eines sprachlichen Systems unterstellt wird. "Weil wir es mit
einer Sprache über die Sprache zu tun haben", (ANM: Jacques Derrida, Die Struktur,
das Zeichen und der Diskurs im Spiel der Wissenschaften vom Menschen, S. 435) steht man
bei diesem Vorhaben im unmittelbaren Sinne sofort vor einem Übersetzungsproblem, da
keinerlei allgemeingültige Normen und Konventionen vorliegen, anhand der die Sprache der
Musik in wörtliche oder schriftliche Rede übersetzt werden kann. Es findet sich
abermals, wie schon in den Problemen Ulf Poschardts betreffs des Verhältnisses seines
wissenschaftlichen Diskurses zum Gegenstand DJ-Culture, eine der Ethnolgie vergleichbare
Ausgangsposition.
Von daher überrascht es kaum, daá Levi-Strauss in seinen "Mythologica" das
Projekt der Analyse von Mythen derart definiert, daß es "sich ganz natürlich vom
Beispiele der Musik beeinflussen lassen" (ANM: Claude Levi-Strauss, Das Rohe und das
Gekochte, S. 29) muß. Das Sprechen über Mythen und das Sprechen über Musik stellen also
ganz ähnliche Probleme dar.
Jacques Derrida bestimmt die entsprechende Argumentation von Levi-Strauss aus der
Ouverture von "Das Rohe und das Gekochte" wie folgt:
"Es gibt keine Einheit oder absolute Quelle des Mythos. (...) Der
Diskurs über diese a-zentrische Struktur, als die der Mythos zu verstehen ist, kann
selbst kein Subjekt oder absolutes Zentrum haben. Will er die Form und und die Bewegung
des Mythos nicht verfehlen, muß er die Gewaltsamkeit vermeiden, die darin bestünde, eine
Sprache zu zentrieren, die eine a-zentrische Struktur beschreibt. Man muß hier also auf
den wissenschaftlichen oder philosophischen Diskurs, auf die episteme, verzichten, die die
absolute Forderung stellt, zur Quelle, zum Zentrum, zum Grund, zum Prinzip usf.
zurückzugehen. Im Gegensatz zum epistemischen Diskurs muß der strukturelle Diskurs über
die Mythen, der mytho-logische Diskurs selbst mythomorph sein. Er muß die Form dessen
haben, worüber er spricht."
(ANM: Derrida , Die Struktur, das Zeichen ...., S. 433)
Auch Derridas Interpretation leitet aus der Verfaßtheit des Gegenstands Rückschlüsse
auf notwendige Bedingungen des Diskurses ab, die dieser erfüllen muß, um jenen
beschreiben zu können.
Demnach bedingt die strukturelle Organisationsform der Mythen und der Musik einen sie
beschreibenden Diskurs, der dieser, von Derrida als "a-zentrisch" bestimmten
Organisationsform, Rechnung trägt. Die gängigen Sprechweisen, die häufig zum Einsatz
kommen, wenn es darum geht, komplexe Phänomene in Sprache zu fassen, also der sogenannte
epistemische Diskurs, sind in diesem Fall zu verwerfen. Derrida unterstellt, die
Konstruktionslogik von Mythen und Musik einerseits sowie der epistemischen Diskurse
andererseits gehorchten differenten Organisationsprinzipien, wodurch sich das Sprechen vom
Ersten in den Rastern des Zweiten zwangsläufig als unpassend abqualifiziert.
Der Gedanke kann nur derart verstanden werden, daß die Forderung Derridas darin besteht,
über ein als a-zentrisch bestimmtes Phänomen könne nur in einem gleichermaßen
a-zentrisch verfaßten Diskurs gesprochen werden. Der epistemische Diskurs wird dieser
Bedingung nicht gerecht; die Argumentation kann also in dem Sinne aufgefaßt werden, daß
formuliert werden kann, der epistemische Diskurs sei nicht in der Lage, den Mythen und der
Musik gerecht werdende Diskurse zu produzieren. Dies impliziert, daß der epistemische
Diskurs bei diesen spezifischen Themen nicht der privilegierte Diskurstyp ist, der den
Gegenstand adäquat zu beschreiben vermag. Anstelle dessen insistiert Derrida auf einen
Diskurstyp, dessen strukturelle Verfaßtheit der seines Gegenstands entsprechen muß.
Dieser Diskurstyp muß also "mythomorph" sein. "Er muß die Form dessen
haben, worüber er spricht." (ANM: ebd., Derrida, 433)
Interessant ist die in jener Derridaschen Bestimmung enthaltene Transformation des
Verhältnisses zwischen einem Diskurs und seinem Thema hinsichtlich der Frage, inwiefern
der Diskurs Erkenntnis über das Thema, Wissen um das Thema und im weiteren Sinne auch
Wahrheit über das Thema zu produzieren in der Lage ist. Derridas Bestimmung impliziert
keineswegs, daá der Diskurs die Qualität der Produktion von Wahrheit zwangsläufig durch
die Explikation des sinnhaften Gehalts seiner Aussagen gewinnt. Derart definiert, kann dem
Kriterium des Aussagens einer 'richtigen', 'korrekten' und damit 'wahren' Beschreibung des
Themas nicht die zentrale Funktion zugewiesen werden.
Um die in der Derridaschen Bestimmung enthaltene Bewegung besser zu verstehen, kann der
Rückgriff auf eine Überlegung Michel Foucaults helfen. In "Die Ordnung des
Diskurses" unterscheidet er die historisch variierenden Bedingungen des
Verhältnisses zwischen dem Diskurs und der Wahrheit demgemäß, daß einerseits
Diskurstypen analysiert werden können, deren Bezug zur Wahrheit in dem liegt, was sie tun
oder sind. Andererseits existieren Diskurstypen, deren Bezug zur Wahrheit sich
ausschließlich in dem findet, was sie sagen. (ANM: vgl. Michel Foucault, Die Ordnung des
Diskurses, S. 14) Diesem zweiten Typus von Diskursen kann nach Derrida zweifellos der
epistemische Diskurs zugeordnet werden.
Die Forderung nach einem mythomorphen Diskurs, um über die Mythen (und die Musik) zu
sprechen, bezieht sich zuallererst auf die Bestimmung des Charakters der Existenz- und
Seinsweise dieses Diskurses. Diese kann in Abgrenzung zum epistemischen Diskurs bestimmt
werden. Über die inhaltlichen Aussagen, die ein dieser Forderung gerecht werdender
Diskurs produzieren würde, kann Derrida allerdings kaum nähere Angaben machen. (ANM:
Vgl. hierzu Abschnitt 3.5.1., wo dieser Gedanke noch einmal ausführlich aufgegriffen
wird.)
"Wenn die Mytho-logik mytho-morph ist, haben dann alle Diskurse
über die Mythen gleiche Geltung? Wird man jeden erkenntnistheoretischen Anspruch, der
zwischen mehreren Qualitäten des Diskurses über den Mythos unterscheiden soll, aufgeben
müssen? Eine klassische, doch unvermeidliche Frage. Man kann sie solange nicht
beantworten - und ich glaube, daß Levi-Strauss sie nicht beantwortet -, als das Problem
des Verhältnisses von Philosophem oder Theorem einerseits und Mythem oder Mythopoem
andererseits nicht ausdrücklich gestellt worden ist. Und das ist keine kleine
Sache!" (ANM: Jacques Derrida, Die Struktur, das Zeichen ...,434f)
Der dargestellte Zusammenhang kann dahingehend interpretiert werden, daß er eine
Grenze beschreibt, an die Diskurse über die Musik mit einer gewisssen Zwangsläufigkeit
stoßen. Den Gedanken historisierend, kann geschlossen werden, daß für das Thema der
Musik nach Derrida kein zufriedenstellendes und die abgeleiteten Bedingungen erfüllendes
Sprechen vorliegt, "weil es sich hier um einen Typus, (...) historischen Fragens
handelt, dessen Konzeption, Bildung, Austragung und Arbeit wir heute nur erst
abzuschätzen vermögen". (ANM: Derrida, ebd., 442)
Wesentlich pragmatischer scheint Roland Barthes sich dem Thema anzunähern. Zwar äußert
auch er sich im Sinne Derridas: "Über die Musik läßt sich kein anderer Diskurs
halten als der der Differenz - der Bewertung", (ANM: Roland Barthes, Die Musik, die
Stimme, die Sprache, S. 279) beläßt es aber nicht hierbei, sondern entscheidet sich
dafür, innerhalb der konstatierten Situation zu sprechen:
"Es ist also sehr schwer, von der Musik zu sprechen. Viele
Schriftsteller haben sich gut zur Malerei geäußert; keiner, so glaube ich, hat sich gut
zur Musik geäußert, nicht einmal Proust. Der Grund dafür liegt darin, daß es sehr
schwierig ist, die Sprache, die dem Bereich des Allgemeinen angehört, mit der Musik zu
verbinden, die dem Bereich des Unterschieds angehört. Kann man sich also zuweilen darauf
einlassen, über Musik zu sprechen, wie ich dies heute tue, so nicht, um wissenschaftlich
oder ideologisch, das heißt allgemein - in der Kategorie des Allgemeinen - zu
kommentieren, sondern um offen, aktiv einen Wert zu vertreten und eine Bewertung
hervorzubringen."
(ANM: Barthes, Die Musik, die Stimme, die Sprache, S. 280)
Die zentrale sprachliche Kategorie der "Musikkritik (...) oder der Gespräche
über Musik: das ist oft das gleiche" (ANM: Barthes, Die Rauheit der Stimme, S. 269)
ist für Barthes das Adjektiv. "Die Musik erhält aus natürlicher Neigung sofort ein
Adjektiv." (ANM: ebd.) Dies gilt sowohl für die klassische Musik, deren
Notations-Einheiten oft mit Adjektiven wie "allegro" oder "andante"
überschrieben sind, als auch für das Sprechen über Popmusik, in dem es von die Musik
beschreibenden Begriffe wie "hart" und "schnell" oder emotional
codierten Adjektiven wie "ausdrucksstark" und "einfühlsam" nur so
wimmelt.
In der Geschichte des Schreibens und Sprechens von Popmusik führte die Techno-Musik in
dieser Hinsicht fraglos zu spezifischen Schwierigkeiten. Exemplarisch können hierfür die
Probleme der Zeitschrift "Spex" mit Techno-Musik genommen werden. So konstatiert
Christoph Gurk, daß "die Beschäftigung (...) mit Techno ein Heft wie dieses an die
Grenzen seines Selbstverständnisses bringt". (ANM: Spex 4-97, C.Gurk, Studio 1,
S.65) "Spex" hatte sich jahrelang vor allem mittels eines sehr speziellen
Sprechens über Musik profiliert, daß sich sehr stark auf die Ebene der
sprachlich-textlichen Aussagen der Musik und die soziale, künstlerische und politische
Situiertheit der Musiker oder der verhandelten Musikstile innerhalb gesellschaftlicher
Kontexte bezog.
Die Diskurse in "Spex" behandelten also regelmäßig anderswo geführte
Diskurse. Techno-Musik verweigerte sich zunächst einer unmittelbaren Einordnung in diese
Raster der Verfaßtheit und Produktion von Diskursen. Für "Spex"-Redakteur
Michael Kerkmann hat sich beispielsweise durch Techno-Musik "die Kommunizierbarkeit
der Musik verschoben. Von Seiten eher Nichteingeweihter besteht häufig ein Unbehagen
gegenüber Sounds, die sich fast unmerklich, wie von hinten, in die Gehörgänge mogeln.
In ihrer Wahrnehmung klingt die Musik nicht selten formal oder leer und stellt eine
gewisse Unangreifbarkeit zur Schau." (ANM: Michael Kerkmann, Paroles, Polkas und
Parolen, in Spex 11-96, S. 34)
Die genannten Aspekte der wahrgenommenen Formalität, Leere und Unangreifbarkeit umreißen
grob die Probleme, die Techno für die Sprechweisen von "Spex" verursachte. Kurz
und prägnant kann formuliert werden, daß dem spezifischen Diskurstyp aus
"Spex" in der Techno-Musik und -Kultur schlicht und einfach die bereits
diskursiv vorliegenden Anknüpfungspunkte fehlten. Kerkmann sieht dann auch erst
"eine Ansatzmöglichkeit für viele Hörer, für die Begriffe wie Techno oder Acid
eher Problematisches bezeichnen, (...) sobald so etwas wie eine subjektive Stimmung
vernommen werden kann und das blöde Wort Autorentechno um die Ecke schielt". (ANM:
Michael Kerkmann, PPP, Spex 11-96 S. 35)
Das auch in "Spex" praktizierte Sprechen über Musik, das primär auf
adjektivischen Kriterien basiert, scheint durch Techno auf eine Art und Weise, auf die
jeder, der sich daran versucht, stößt, in seiner Funktionalität und Gültigkeit
suspendiert. Offenbar wird es in jedem Fall dem Gegenstand nicht gerecht. Der ins
Blickfeld von "Spex" gerückte Gegenstand Techno zwingt das dort praktizierte
Sprechen also zu einer Selbst-Problematisierung und führt zu einer diskursiven Situation,
die prinzipiell der anhand Derridas und Barthes' skizzierten Problemstellung entspricht.
Gurk vollzieht daher auch die Barthes' obenstehender Formulierung ähnliche Geste:
"Genauso blöde wäre es aber auch, die Herausforderung, die eine Platte wie diese
hier immer noch an den Rest der Musikwelt formuliert, zu ignorieren, nur weil es für die
Auseinandersetzung mit ihr noch keine Tradition oder eingeführte Sprache gibt."
(ANM: Gurk, Studio 1, Spex 4-97, S. 65, es handelt sich um eine CD von Studio 1)
Im vorliegenden Fall tauchte also ein neues musikalisches Objekt auf, das die
Funktionalität der adjektivischen Sprache erheblich in Zweifel zieht und zur Suche nach
anderen Möglichkeiten des Diskurses zwingt. Eine etwas andere, aber nichtsdestotrotz
vergleichbare Konzeption hinsichtlich der Frage, wie zu einer anderen Sprache über Musik
gelangt werden könnte, gibt Barthes:"Nicht durch den Kampf gegen das Adjektiv (durch
die Umlenkung dieses Adjektivs, das einem auf der Zunge liegt, auf irgendeine
substantivische oder verbale Umschreibung) hat man eine gewisse Aussicht, den
Musikkommentar zu reinigen und von der prädikativen Zwangsläufigkeit zu befreien;
anstatt die Sprache über Musik direkt verändern zu wollen, wäre es angebrachter, das
musikalische Objekt als solches, wie es sich der Rede anbietet, zu verändern: die
Wahrnehmungs- oder Erkenntnisebene zu modifizieren: den Berührungsstreifen zwischen Musik
und Sprache zu verlagern." (ANM: Roland Barthes, Die Rauheit der Stimme, S. 270)
Während er für den Versuch, die Wahrnehmung des musikalischen Objekts zu verändern,
optiert, verändert sich der Diskurs von "Spex" aufgrund des Auftauchens eines
neuen musikalischen Objekts, das seinerseits andere Wahrnehmungs- und in deren Gefolge
schließlich auch andere Sprechweisen von Musik generiert.
Eine genauere Spezifikation seines Vorschlags gibt Barthes leider nicht. Seine in dieser
Hinsicht spärlichen Andeutungen können vielleicht am ehesten als Aufruf zu einem
experimentelleren, sich jenseits der Kategorien des Adjektivs konstituierenden und
formierenden Sprechen aufgefaßt werden.