EXKURS:
Wie kann man überhaupt über Musik sprechen?

"Wie stellt es nun die Sprache an, wenn sie die Musik interpretieren soll?
Anscheinend leider sehr schlecht." (Roland Barthes)
(ANM: Barthes, Die Rauheit der Stimme, in: Sinn 269)

Über Musik zu sprechen scheint zunächst einmal etwas ganz alltägliches zu sein. Fast alle Menschen haben ihre Lieblingsmusik oder Lieblingslieder, worüber sich die meisten auch bisweilen mit anderen unterhalten. Auf der alltagsdiskursiven Ebene scheint dies regelmäßig, und ohne größere Probleme zu verursachen stattzufinden. Die Diskursführung untersteht hier meist einem Regime des individuellen Geschmacks, das die Funktion hat, konstatierte Differenzen - auf die diese Diskurse prinzipiell immer zusteuern - derart zu situieren, daß diese Differenzen Bestand haben können und keine Notwendigkeit entsteht, sie, in welcher Form auch immer auflösen zu müssen. Die getroffenen Aussagen gehen dabei selten über sich identifizierende Formulierungen wie "das gefällt mir," oder "das finde ich gut" hinaus.

Spezifiziert sich diese Perspektive des Sprechens über Musik aus einer solchen Position der Umittelbarkeit, so nimmt sie häufig einen sogenannten Fan-Standpunkt ein. Dieser kennzeichnet sich primär durch sein unbedingt apologetisches Eintreten für die jeweils präferierte Musik und deren Produzenten. Im klassischen Sinne spricht der Fan-Standpunkt mit ausgeprägter Systematik unkritisch und unbedingt affirmierend von seinem Gegenstand.

Die von Roland Barthes beklagte Schwierigkeit des Sprechens über Musik beginnt vermutlich erst dort, wo diesem bestimmte Aufgaben und Funktionen zugewiesen werden. Also beispielsweise, wenn der Versuch unternommen werden soll, eine gehörte Musik textlich zu beschreiben. Analog des von Foucault bestimmten Begriffs der Bedeutung (ANM: Vgl. 3.4.2.4) kann demgemäß über Musik nur gesprochen werden, wenn ihrer konkreten Verfaßtheit die Organisationsweise eines sprachlichen Systems unterstellt wird. "Weil wir es mit einer Sprache über die Sprache zu tun haben", (ANM: Jacques Derrida, Die Struktur, das Zeichen und der Diskurs im Spiel der Wissenschaften vom Menschen, S. 435) steht man bei diesem Vorhaben im unmittelbaren Sinne sofort vor einem Übersetzungsproblem, da keinerlei allgemeingültige Normen und Konventionen vorliegen, anhand der die Sprache der Musik in wörtliche oder schriftliche Rede übersetzt werden kann. Es findet sich abermals, wie schon in den Problemen Ulf Poschardts betreffs des Verhältnisses seines wissenschaftlichen Diskurses zum Gegenstand DJ-Culture, eine der Ethnolgie vergleichbare Ausgangsposition.

Von daher überrascht es kaum, daá Levi-Strauss in seinen "Mythologica" das Projekt der Analyse von Mythen derart definiert, daß es "sich ganz natürlich vom Beispiele der Musik beeinflussen lassen" (ANM: Claude Levi-Strauss, Das Rohe und das Gekochte, S. 29) muß. Das Sprechen über Mythen und das Sprechen über Musik stellen also ganz ähnliche Probleme dar.
Jacques Derrida bestimmt die entsprechende Argumentation von Levi-Strauss aus der Ouverture von "Das Rohe und das Gekochte" wie folgt:

"Es gibt keine Einheit oder absolute Quelle des Mythos. (...) Der Diskurs über diese a-zentrische Struktur, als die der Mythos zu verstehen ist, kann selbst kein Subjekt oder absolutes Zentrum haben. Will er die Form und und die Bewegung des Mythos nicht verfehlen, muß er die Gewaltsamkeit vermeiden, die darin bestünde, eine Sprache zu zentrieren, die eine a-zentrische Struktur beschreibt. Man muß hier also auf den wissenschaftlichen oder philosophischen Diskurs, auf die episteme, verzichten, die die absolute Forderung stellt, zur Quelle, zum Zentrum, zum Grund, zum Prinzip usf. zurückzugehen. Im Gegensatz zum epistemischen Diskurs muß der strukturelle Diskurs über die Mythen, der mytho-logische Diskurs selbst mythomorph sein. Er muß die Form dessen haben, worüber er spricht."
(ANM: Derrida , Die Struktur, das Zeichen ...., S. 433)

Auch Derridas Interpretation leitet aus der Verfaßtheit des Gegenstands Rückschlüsse auf notwendige Bedingungen des Diskurses ab, die dieser erfüllen muß, um jenen beschreiben zu können.

Demnach bedingt die strukturelle Organisationsform der Mythen und der Musik einen sie beschreibenden Diskurs, der dieser, von Derrida als "a-zentrisch" bestimmten Organisationsform, Rechnung trägt. Die gängigen Sprechweisen, die häufig zum Einsatz kommen, wenn es darum geht, komplexe Phänomene in Sprache zu fassen, also der sogenannte epistemische Diskurs, sind in diesem Fall zu verwerfen. Derrida unterstellt, die Konstruktionslogik von Mythen und Musik einerseits sowie der epistemischen Diskurse andererseits gehorchten differenten Organisationsprinzipien, wodurch sich das Sprechen vom Ersten in den Rastern des Zweiten zwangsläufig als unpassend abqualifiziert.
Der Gedanke kann nur derart verstanden werden, daß die Forderung Derridas darin besteht, über ein als a-zentrisch bestimmtes Phänomen könne nur in einem gleichermaßen a-zentrisch verfaßten Diskurs gesprochen werden. Der epistemische Diskurs wird dieser Bedingung nicht gerecht; die Argumentation kann also in dem Sinne aufgefaßt werden, daß formuliert werden kann, der epistemische Diskurs sei nicht in der Lage, den Mythen und der Musik gerecht werdende Diskurse zu produzieren. Dies impliziert, daß der epistemische Diskurs bei diesen spezifischen Themen nicht der privilegierte Diskurstyp ist, der den Gegenstand adäquat zu beschreiben vermag. Anstelle dessen insistiert Derrida auf einen Diskurstyp, dessen strukturelle Verfaßtheit der seines Gegenstands entsprechen muß. Dieser Diskurstyp muß also "mythomorph" sein. "Er muß die Form dessen haben, worüber er spricht." (ANM: ebd., Derrida, 433)

Interessant ist die in jener Derridaschen Bestimmung enthaltene Transformation des Verhältnisses zwischen einem Diskurs und seinem Thema hinsichtlich der Frage, inwiefern der Diskurs Erkenntnis über das Thema, Wissen um das Thema und im weiteren Sinne auch Wahrheit über das Thema zu produzieren in der Lage ist. Derridas Bestimmung impliziert keineswegs, daá der Diskurs die Qualität der Produktion von Wahrheit zwangsläufig durch die Explikation des sinnhaften Gehalts seiner Aussagen gewinnt. Derart definiert, kann dem Kriterium des Aussagens einer 'richtigen', 'korrekten' und damit 'wahren' Beschreibung des Themas nicht die zentrale Funktion zugewiesen werden.

Um die in der Derridaschen Bestimmung enthaltene Bewegung besser zu verstehen, kann der Rückgriff auf eine Überlegung Michel Foucaults helfen. In "Die Ordnung des Diskurses" unterscheidet er die historisch variierenden Bedingungen des Verhältnisses zwischen dem Diskurs und der Wahrheit demgemäß, daß einerseits Diskurstypen analysiert werden können, deren Bezug zur Wahrheit in dem liegt, was sie tun oder sind. Andererseits existieren Diskurstypen, deren Bezug zur Wahrheit sich ausschließlich in dem findet, was sie sagen. (ANM: vgl. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 14) Diesem zweiten Typus von Diskursen kann nach Derrida zweifellos der epistemische Diskurs zugeordnet werden.

Die Forderung nach einem mythomorphen Diskurs, um über die Mythen (und die Musik) zu sprechen, bezieht sich zuallererst auf die Bestimmung des Charakters der Existenz- und Seinsweise dieses Diskurses. Diese kann in Abgrenzung zum epistemischen Diskurs bestimmt werden. Über die inhaltlichen Aussagen, die ein dieser Forderung gerecht werdender Diskurs produzieren würde, kann Derrida allerdings kaum nähere Angaben machen. (ANM: Vgl. hierzu Abschnitt 3.5.1., wo dieser Gedanke noch einmal ausführlich aufgegriffen wird.)

"Wenn die Mytho-logik mytho-morph ist, haben dann alle Diskurse über die Mythen gleiche Geltung? Wird man jeden erkenntnistheoretischen Anspruch, der zwischen mehreren Qualitäten des Diskurses über den Mythos unterscheiden soll, aufgeben müssen? Eine klassische, doch unvermeidliche Frage. Man kann sie solange nicht beantworten - und ich glaube, daß Levi-Strauss sie nicht beantwortet -, als das Problem des Verhältnisses von Philosophem oder Theorem einerseits und Mythem oder Mythopoem andererseits nicht ausdrücklich gestellt worden ist. Und das ist keine kleine Sache!" (ANM: Jacques Derrida, Die Struktur, das Zeichen ...,434f)

Der dargestellte Zusammenhang kann dahingehend interpretiert werden, daß er eine Grenze beschreibt, an die Diskurse über die Musik mit einer gewisssen Zwangsläufigkeit stoßen. Den Gedanken historisierend, kann geschlossen werden, daß für das Thema der Musik nach Derrida kein zufriedenstellendes und die abgeleiteten Bedingungen erfüllendes Sprechen vorliegt, "weil es sich hier um einen Typus, (...) historischen Fragens handelt, dessen Konzeption, Bildung, Austragung und Arbeit wir heute nur erst abzuschätzen vermögen". (ANM: Derrida, ebd., 442)

Wesentlich pragmatischer scheint Roland Barthes sich dem Thema anzunähern. Zwar äußert auch er sich im Sinne Derridas: "Über die Musik läßt sich kein anderer Diskurs halten als der der Differenz - der Bewertung", (ANM: Roland Barthes, Die Musik, die Stimme, die Sprache, S. 279) beläßt es aber nicht hierbei, sondern entscheidet sich dafür, innerhalb der konstatierten Situation zu sprechen:

"Es ist also sehr schwer, von der Musik zu sprechen. Viele Schriftsteller haben sich gut zur Malerei geäußert; keiner, so glaube ich, hat sich gut zur Musik geäußert, nicht einmal Proust. Der Grund dafür liegt darin, daß es sehr schwierig ist, die Sprache, die dem Bereich des Allgemeinen angehört, mit der Musik zu verbinden, die dem Bereich des Unterschieds angehört. Kann man sich also zuweilen darauf einlassen, über Musik zu sprechen, wie ich dies heute tue, so nicht, um wissenschaftlich oder ideologisch, das heißt allgemein - in der Kategorie des Allgemeinen - zu kommentieren, sondern um offen, aktiv einen Wert zu vertreten und eine Bewertung hervorzubringen."
(ANM: Barthes, Die Musik, die Stimme, die Sprache, S. 280)

Die zentrale sprachliche Kategorie der "Musikkritik (...) oder der Gespräche über Musik: das ist oft das gleiche" (ANM: Barthes, Die Rauheit der Stimme, S. 269) ist für Barthes das Adjektiv. "Die Musik erhält aus natürlicher Neigung sofort ein Adjektiv." (ANM: ebd.) Dies gilt sowohl für die klassische Musik, deren Notations-Einheiten oft mit Adjektiven wie "allegro" oder "andante" überschrieben sind, als auch für das Sprechen über Popmusik, in dem es von die Musik beschreibenden Begriffe wie "hart" und "schnell" oder emotional codierten Adjektiven wie "ausdrucksstark" und "einfühlsam" nur so wimmelt.

In der Geschichte des Schreibens und Sprechens von Popmusik führte die Techno-Musik in dieser Hinsicht fraglos zu spezifischen Schwierigkeiten. Exemplarisch können hierfür die Probleme der Zeitschrift "Spex" mit Techno-Musik genommen werden. So konstatiert Christoph Gurk, daß "die Beschäftigung (...) mit Techno ein Heft wie dieses an die Grenzen seines Selbstverständnisses bringt". (ANM: Spex 4-97, C.Gurk, Studio 1, S.65) "Spex" hatte sich jahrelang vor allem mittels eines sehr speziellen Sprechens über Musik profiliert, daß sich sehr stark auf die Ebene der sprachlich-textlichen Aussagen der Musik und die soziale, künstlerische und politische Situiertheit der Musiker oder der verhandelten Musikstile innerhalb gesellschaftlicher Kontexte bezog.
Die Diskurse in "Spex" behandelten also regelmäßig anderswo geführte Diskurse. Techno-Musik verweigerte sich zunächst einer unmittelbaren Einordnung in diese Raster der Verfaßtheit und Produktion von Diskursen. Für "Spex"-Redakteur Michael Kerkmann hat sich beispielsweise durch Techno-Musik "die Kommunizierbarkeit der Musik verschoben. Von Seiten eher Nichteingeweihter besteht häufig ein Unbehagen gegenüber Sounds, die sich fast unmerklich, wie von hinten, in die Gehörgänge mogeln. In ihrer Wahrnehmung klingt die Musik nicht selten formal oder leer und stellt eine gewisse Unangreifbarkeit zur Schau." (ANM: Michael Kerkmann, Paroles, Polkas und Parolen, in Spex 11-96, S. 34)

Die genannten Aspekte der wahrgenommenen Formalität, Leere und Unangreifbarkeit umreißen grob die Probleme, die Techno für die Sprechweisen von "Spex" verursachte. Kurz und prägnant kann formuliert werden, daß dem spezifischen Diskurstyp aus "Spex" in der Techno-Musik und -Kultur schlicht und einfach die bereits diskursiv vorliegenden Anknüpfungspunkte fehlten. Kerkmann sieht dann auch erst "eine Ansatzmöglichkeit für viele Hörer, für die Begriffe wie Techno oder Acid eher Problematisches bezeichnen, (...) sobald so etwas wie eine subjektive Stimmung vernommen werden kann und das blöde Wort Autorentechno um die Ecke schielt". (ANM: Michael Kerkmann, PPP, Spex 11-96 S. 35)
Das auch in "Spex" praktizierte Sprechen über Musik, das primär auf adjektivischen Kriterien basiert, scheint durch Techno auf eine Art und Weise, auf die jeder, der sich daran versucht, stößt, in seiner Funktionalität und Gültigkeit suspendiert. Offenbar wird es in jedem Fall dem Gegenstand nicht gerecht. Der ins Blickfeld von "Spex" gerückte Gegenstand Techno zwingt das dort praktizierte Sprechen also zu einer Selbst-Problematisierung und führt zu einer diskursiven Situation, die prinzipiell der anhand Derridas und Barthes' skizzierten Problemstellung entspricht. Gurk vollzieht daher auch die Barthes' obenstehender Formulierung ähnliche Geste: "Genauso blöde wäre es aber auch, die Herausforderung, die eine Platte wie diese hier immer noch an den Rest der Musikwelt formuliert, zu ignorieren, nur weil es für die Auseinandersetzung mit ihr noch keine Tradition oder eingeführte Sprache gibt." (ANM: Gurk, Studio 1, Spex 4-97, S. 65, es handelt sich um eine CD von Studio 1)

Im vorliegenden Fall tauchte also ein neues musikalisches Objekt auf, das die Funktionalität der adjektivischen Sprache erheblich in Zweifel zieht und zur Suche nach anderen Möglichkeiten des Diskurses zwingt. Eine etwas andere, aber nichtsdestotrotz vergleichbare Konzeption hinsichtlich der Frage, wie zu einer anderen Sprache über Musik gelangt werden könnte, gibt Barthes:"Nicht durch den Kampf gegen das Adjektiv (durch die Umlenkung dieses Adjektivs, das einem auf der Zunge liegt, auf irgendeine substantivische oder verbale Umschreibung) hat man eine gewisse Aussicht, den Musikkommentar zu reinigen und von der prädikativen Zwangsläufigkeit zu befreien; anstatt die Sprache über Musik direkt verändern zu wollen, wäre es angebrachter, das musikalische Objekt als solches, wie es sich der Rede anbietet, zu verändern: die Wahrnehmungs- oder Erkenntnisebene zu modifizieren: den Berührungsstreifen zwischen Musik und Sprache zu verlagern." (ANM: Roland Barthes, Die Rauheit der Stimme, S. 270)

Während er für den Versuch, die Wahrnehmung des musikalischen Objekts zu verändern, optiert, verändert sich der Diskurs von "Spex" aufgrund des Auftauchens eines neuen musikalischen Objekts, das seinerseits andere Wahrnehmungs- und in deren Gefolge schließlich auch andere Sprechweisen von Musik generiert.

Eine genauere Spezifikation seines Vorschlags gibt Barthes leider nicht. Seine in dieser Hinsicht spärlichen Andeutungen können vielleicht am ehesten als Aufruf zu einem experimentelleren, sich jenseits der Kategorien des Adjektivs konstituierenden und formierenden Sprechen aufgefaßt werden.