Postkoloniale Theorie
und die »Spurensuche« nach Widerstand
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Katrin Amelang und Oliver Schupp

 

 

 
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Intro  
 

Im Seminarplan sind die Postkolonialen Theorien als Themengebiet innerhalb der Befassung mit Theorien des Widerstands eingeordnet. Diese Verbindung war für uns nicht immer offensichtlich, somit gestaltete sich unsere Befassung mit postkolonialen Theorien eher als »Spurensuche« nach Momenten und Möglichkeiten von Widerstand. Ausgehend von einer Einordnung postkolonialer Theorien und allgemeinerer Kritik an ihnen, möchten wir die drei klassischen Vertreter (häufig auch »holy trinity« genannt) Edward Said, Gayatri Spivak und Homi Bhabha, welche als MigrantInnen aus postkolonialen Gebieten kommend heute an US-amerikanischen Universitäten lehren, in einzelnen Kapiteln genauer vorstellen. Abschließend werden wir unsere Ergebnisse und aufgeworfenen Fragestellungen hinsichtlich der Verbindung von postkolonialen Theorien und Widerstand zusammenfassend darstellen.

 

 

Postkoloniale Theorien – Einordnung und Kritik weiter / zurück
 

Die postkolonialen Theorien bzw. Postcolonial Studies werden als Unterabteilung der Cultural Studies betrachtet. Da beide wenig Eingang in deutsche akademische Diskussionen gefunden haben bzw. in diesen kaum präsent sind, wird im folgenden die Einordnung der Cultural Studies der der postkolonialen Theorie vorangestellt. Eingehend sei darauf verwiesen, dass die folgende kurze Darstellung den »vielstimmigen« Cultural Studies und ihrer Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen durch theoriepolitische Verschiebungen und Diskurskorrekturen nicht umfassend erfassen kann.(1) Die nur schwer zu definierenden Cultural Studies sind keine akademische Disziplin im herkömmlichen Sinne. Laut Dominik Bloedner (1997) und Douglas Robinson (1997) sind sie eher als offenes interdisziplinäres Projekt zu verstehen, welches inhaltlich und methodisch von Anthropologie, Soziologie, Gender Studies, Ethnic Studies, Literaturkritik, Geschichte, Psychoanalyse, Politikwissenschaften und Philosophie Gebrauch macht, und die Untersuchung von vielfältigen kulturellen Texten, Formen und Praktiken mit Kulturkritik [critics of culture] verbindet. Sie beziehen sich theoretisch auf das Hegemonie-Konzept von Antonio Gramsci(2) und »typically describe themselves and their work as ›counterhegemonic‹.« (Robinson 1997, 13) So strukturieren Machtbeziehungen Gesellschaften und ihre Kultur, wobei Kultur Bedeutungen erst hervorbringt und damit als Ort politischer Intervention zu betrachten ist. AkteurInnen bewegen sich also zwischen individuellem Handeln und gesellschaftlicher Fremdbestimmung. Von diesen theoretischen Grundannahmen wird die Verpflichtung zu einer politisch emanzipatorischen Perspektive abgeleitet (vgl. Bloedner 1997, 35). Die Cultural Studies sind in der 50er Jahren in Großbritannien im Zusammenhang mit der Entstehung der britischen »New Left« als Ergebnis intellektueller und politischer Tradition zu sehen und wurden 1964 mit dem Centre for Contemporary Cultural Studies (zugehörig zum Lehrstuhl für englische Literatur) erstmalig im akademischen Rahmen institutionalisiert (vgl. ebd., 36f.). Als einer der wichtigsten – und hier zulande wohl auch bekanntesten – Vertreter gilt Stuart Hall.

Genauso heterogen wie die Cultural Studies sind auch die Postcolonial Studies akademisch schwer zu definieren: »Postcolonial criticism and theory alike comprise a variety of practices, performed within a range of disciplinary fields in a multitude of different institutional locations around the globe.« (Moore-Gilbert 1997, 5) Die Entstehung der Postcolonial Studies ist mit dem Entkolonialisierungsprozess in den 1940/50/60ern sowie der Entstehung der Cultural Studies verbunden, und sie sind zwischen literaturwissenschaftlichen und kulturtheoretischen Ansätzen einzuordnen (vgl. Robinson 1997, 13 u. Grimm 1997a, 39). Die häufige Zuordnung der Postcolonial Studies zu Lehrstühlen von Literatur kann als Nähe zu den Literaturwissenschaften interpretiert werden, wichtiger ist diesbezüglich aber die zentrale Rolle der britischen Commonwealth Literature Studies(3) für die Konstitution postkolonialer Kritik im »westlichen« akademischen Rahmen (vgl. Moore-Gilbert 1997, 26ff.). Weitere theoretische Einflüsse und Bezüge postkolonialer Theorie sind die Arbeiten von Frantz Fanon, Antonio Gramsci, Karl Marx, Jacques Lacan, Louis Althusser, Jacques Derrida und Michel Foucault.
Kann man allgemein ausgedrückt sagen, dass sich die Postcolonial Studies mit der Geschichte des Kolonialismus und dessen gegenwärtigem Fortwirken beschäftigen (vgl. Grimm 1997a, 39), so wird es bei der genaueren Definition des postkolonialen Forschungsfeldes schon schwieriger. Was gehört zum Untersuchungsgegenstand und was nicht? Robinson unterteilt die darüber stattfindenden Kontroversen in drei Stränge. Er unterscheidet zwischen der Untersuchung der ehemaligen europäischen Kolonien 1) seit der Unabhängigkeit, 2) seit der Kolonialisierung sowie 3) aller Kulturen/ Gesellschaften/Nationen etc. bezüglich ihrer Machtbeziehungen zu anderen Kulturen/ Gesellschaften/Nationen etc., wobei er erstere Ansätze als vorherrschend in der postkolonialen Theorie sieht (vgl. Robinson 1997, 13ff.). Auch Moore-Gilbert stellt erstere zwei Bereiche heraus, sieht sie aber eher als Ergebnis einer historischen Bedeutungsverschiebung innerhalb postkolonialer Debatten. Beziehend auf Aijaz Ahmad verweist er darauf, dass es Anfang der 1970er noch um die Beschreibung der Situation ehemaliger Kolonien nach der Entkolonialisierung ging, der Untersuchungsbereich aber in den 1980ern auf den Beginn der Kolonialisierung ausgeweitet wurde (vgl. Moore-Gilbert 1997, 9). Ein weiterer Ansatz wird von E.G. Rodríguez verfolgt. Für sie umschreibt der Begriff Postkolonialismus »ein Bewusstsein und einen Zustand, der weiterhin über Spuren und Effekte kolonialer Geschichte den Alltag im Norden und im Süden bestimmen.« (Rodríguez 2000)
Verwiesen sei des weiteren auf das Präfix »post«, was einerseits das zeitliche »nach« der formalen Dekolonisierung markiert, andererseits darüber hinausweisend in Verbindung mit anderen Phänomenen der Postmoderne und Globalisierung auf das veränderte Fortwirken von Machtverhältnissen im Hintergrund des kolonialen Diskurses verweist (vgl. Bloedner 1998, 35). Post-Begrifflichkeiten bei Homi Bhabha verweisen auf ein »Darüber Hinaus«, auf die von den postkolonialen Subjekten bewohnten Zwischenräume an den Rändern der Moderne und ihrer »großen Geschichte« [master narrative] der Einheitlichkeit. Postkoloniale Perspektive ist dann eine Perspektive von diesen Rändern aus - den ehemals kolonialen Länder sowie von Minoritäten (Migration, Diaspora) in der Welt (vgl. Bhabha 2000, 6ff.).
Weitere Diskussionen des Konzeptes, was denn nun als postkolonial gelte, stehen im Zusammenhang mit einer Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven und AkteurInnen des postkolonialen Feldes. Offen und stark diskutiert ist zum Beispiel der Punkt, inwieweit es legitim ist, nicht nur postkoloniale Kulturen zu analysieren, sondern auch die Kulturen der Kolonisierenden. Ebenfalls umstritten ist die Frage, inwiefern »interne/innere Kolonien« wie Schottland, Wales und Irland im Falle von England/Großbritannien oder so genannte »white settler colonies« wie Kanada, Australien, Neuseeland und die USA, bei denen die »Opfer-Täter-Perspektive« komplex und abhängig vom Blickwinkel ist, ebenfalls einzubeziehen sind (vgl. ebd. 9ff.; Robinson 1997, 14). Daraufhin vergleicht dann Moore-Gilbert das schwer einzuschränkende Konzept postkolonialer Kritik mit feministischer Kritik, die sich historisch und regional nicht beschränken lässt und auf eine Vielzahl unterschiedlicher Kontexte anwendbar ist (vgl. Moore-Gilbert 1997, 12). An dieser Stelle sei auf diese Diskussionen eher als Hintergrund für die weitere Auseinandersetzung mit dem Thema verwiesen, als eine Positionierung oder Lösung unsererseits anzubieten.
Die Definition von Moore-Gilbert liefert einen weiten, aber nicht beliebigen Rahmen um das Feld postkolonialer Kritik abzustecken:

»(Post)colonial criticism can still be seen as a more or less distinct set of reading practices, if it is understood as preoccupied principally with analysis of cultural forms which mediate, challenge or reflect upon the relations of domination and subordination – economic, cultural and political – between (and often within) nations, races or cultures, which characteristically have their roots in the history of modern European colonialism and imperialism and which [… ] continue to be apparent in the present era of neo-colonialism.« (ebd.)
Abschließend lassen sich die verschiedenen Ansätze postkolonialer Kritik / Theorie, als »reading practices« verstanden (vgl. Robinson 1997, 15) und mit der Aufgabe verbunden die essentialisierenden, totalisierenden und eurozentristischen Diskurse des »Westens« zu entlarven und zu dekonstruieren (vgl. Bloedner 1998, 38) wohl am ehesten auf einen Nenner bringen.

Trotz des Hype um die Postcolonial Studies wäre es falsch anzunehmen, dass sie sich im akademischen Bereich(4) bereits etabliert hätten. Besonders aus verwandten Forschungsfeldern wird starke und häufig polemisch-feindselige Kritik artikuliert, die der neuen Perspektive generell die Relevanz als wissenschaftliche Disziplin abspricht. Der Historiker Russell Jacoby beispielsweise zweifelt an den interdisziplinären Ambitionen der postkolonialen Theorie:

«As they move out from traditional literature into political economy, sociology, and anthropology, do the postcolonial theorists master these fields or just poke about? Are they serious students of colonial history and culture or do they just pepper their writings with references to Gramsci and hegemony?« (Jacoby 1995, 32)


Die Stärke und Anziehungskraft der Postcolonial Studies hat sich offensichtlich im Laufe ihrer Entwicklung auch als zentrales (bisher noch ungelöstes) Problem herausgestellt. Die große Dehnbarkeit des Konzeptes, lässt befürchten, dass die postkoloniale Form der Kulturanalyse aus Mangel an Trennschärfe (gegenüber benachbarten akademische Modi der Kulturanalyse) in sich zusammenfällt. Kritik und Ablehnung begleiten die Postcolonial Studies zwar schon seit ihrem ersten akademischen Auftreten, aber die zunehmende Intensität der Angriffe wirft Zweifel daran auf, ob sie sich als feste Größe in den Kulturwissenschaften etablieren können.
Die Kritik aus den traditionellen kulturwissenschaftlichen Disziplinen ist teilweise sicherlich politisch motiviert(5) und teilweise auch das Resultat üblicher disziplinärer Konkurrenz. Aber darauf zu reduzieren ist sie nicht. Es gibt Berührungspunkte zu Kritikern der postkolonialen Theorie, die auf demselben diskursiven Terrain anzusiedeln sind wie die postkoloniale Theorie selbst. Aus marxistischer Perspektive hat Aijaz Ahmad in seinem Werk In Theory: Classes, Nations, Literatures eine grundlegende Kritik am Konzept der postkolonialen Theorie formuliert, die die wesentlichen Kritikpunkte, welche auch von anderer Seite hervorgebracht wurden, beinhaltet. Wir beziehen uns deshalb im folgenden Abschnitt auf die Kritik von Ahmad.
Seine Kritik an der postkolonialen Theorie organisiert sich um vier Pole. Der erste Pol betrifft die Implikationen des institutionellen Ortes der RepräsentantInnen der postkolonialen Theorie. In diesem Zusammenhang müsse die postkoloniale Kritik als Aktivität eine privilegierten Klassenfraktion migrantischer Intellektueller gelesen werden, die mit den materiellen Kämpfen in den Ländern der »Dritten Welt«(6) nichts zu tun hat (vgl. Moore-Gilbert 1997, 18). Nach Ahmad reproduzierten die postkolonialen TheoretikerInnen die internationale Arbeitsteilung der bestehenden kapitalistischen Formation auf wissenschaftlich-akademischer Ebene: Die kulturellen Ressourcen aus der »Dritten Welt« werden in die westlichen Metropolen exportiert, um dort von Wissenschaftlern wie Edward Said zu Endprodukten veredelt zu werden. Das vorwiegenden Zielpublikum dieser »Kulturproduktion« ist die kulturelle Elite in den Metropolen, teilweise wird das Ergebnis aber auch als »Theorie« in die Dritten Welt reexportiert. (vgl. ebd., 18).
Ebenfalls unter diesen Kritikpunkt des institutionellen Ortes fällt die Selbstwahrnehmung der postkolonialen KritikerInnen. Wenn z.B. Said davon spricht, dass sich der »Kampf um Dekolonisation (...) von den Peripherien ins Zentrum bewegt« (Said 1990, 30) hat, kommt darin für Ahmad eine unreflektierte Selbststilisierung zum Ausdruck:

»In solchen Formulierungen wird der ›Kampf um Dekolonisation‹ zu einer vornehmlich literarischen oder literaturwissenschaftlichen Angelegenheit, und die akademische Elite der Intelligenzija reklamiert – der verblüffenden Diskrepanz zwischen Fakten und Selbstwahrnehmung ungeachtet – für sich die Rolle der revolutionären Avantgarde der ganzen Welt.« (Ahmad 92, 208).

In dieses Schema passt für Ahmad auch Saids Unterscheidung zwischen »kolonialen« und »postkolonialen« Intellektuellen. Said bestimmt den »kolonialen Intellektuellen« als Nicht-Europäer, der während der kolonialen Periode aus der Perspektive kultureller europäischer Dominanz geschrieben und sich dabei mit der europäischen Kultur identifiziert hat. Den »postkulturellen Intellektuellen« unterscheidet vom »kolonialen« neben der historischen Zuordnung zur neokolonialen Epoche vor allem die Fähigkeit, gleichzeitig außerhalb europäischer Traditionen zu stehen und (auch deshalb) die Waffen des kritischen europäischen Denkens besser zu beherrschen. In Grimms Paraphrase Saids: »Sie nutzten die einst exklusiv dem ›Europäer‹ vorbehaltenen Techniken und Diskurse und wendeten sie ›im Herzen der westlichen Metropole‹ gegen sie.« (Grimm 1997b, 37) Ahmad kritisiert an dieser Unterscheidung die periodische Einteilung und wendet sich vor allem gegen die Behauptung von Said, dass eine Kombination von »Third World Origin« und »Metropolitan Location« (Said 1990, 29) heute unbestreitbare Vorteile für den Kampf gegen Kolonialismus und Imperialismus hätte – eine (Selbst)Einschätzung in der postkolonialen Kritik, die laut Grimm weiterhin vorherrscht (vgl. Grimm 1997b, 38).
Ein zweiter Pol der Kritik betrifft die Hierarchisierung, die laut Ahmad der Wahl des Untersuchungsobjektes eingeschrieben ist. Der favorisierte Gegenstand in der postkoloniale Theorie sei der koloniale Diskurs, d.h. die (imaginierte) Vorstellung der Kolonisiererenden über das kolonisierte Territorium. Nach Ahmad hat diese selektive Auswahl zum einen die Konsequenz, dass dem kulturellen Kanon des Westens eine privilegierte Position zugewiesen wird. Zum anderen verlagert es die Aufmerksamkeit, »from the facts of current neo-colonialism to the less contentious area of fiction produced in the era of formal imperialism now safely past«. (Moore-Gilbert 1997, 19) Nach Ahmad präferiert die postkoloniale Theorie im Anschluss konsequent die Texte der migrantischen Intelligenzija im Westen und nimmt sie als authentische Stimme des Volkes ihres Herkunftsland wahr. Was dabei außer Blick gerate, sind die Klassenverhältnisse – sowohl in den Ländern der Dritten Welt, als auch zwischen den MigrantInnen der westlichen Metropolen. Theoretische Konzepte wie das der Hybridität von Bhabha affirmierten die privilegierte Position postkolonialer Intellektuelle (vgl. Grimm 1997b, 37).
Der dritte Pol ist der methodische Bezugpunkt der postkolonialen Theorie. Said, Spivak und Bhabha verwenden praktisch ausschließlich methodische Ansätze aus der kritischen Theorie Westeuropas. Ahmad bewertet die Entwicklung der Theoriebildung in Westeuropa und den USA seit den 60er Jahren äußerst kritisch. So habe sich die Theorie der akademische Linken vom vorherigen Gegenstand, den konkreten sozialen Kämpfen abgewendet und den Fokus auf das textuelle Engagement gelegt, welches »reading as the appropriate form of politics« (Ahmad 1992, 3) betrachtete. In diesen Kontext platziert Ahmad konsequenterweise auch Saids postkoloniale Analyse. Sie habe nichts mehr zu tun mit den wirklichen Befreiungskämpfen in der Dritten Welt (vgl. Moore-Gilbert 1997, 20).
Der letzte Kritik-Pol ist das rhetorische Instrumentarium der postkolonialen Theorie. Die Komplexität der Sprache wird als Symptom für den Willen der postkolonialen Theorie gewertet, dass Forschungsfeld zu dominieren und dabei selbst unangreifbar zu werden. Es ist die Rede von »mystificatory vocabulary« (Huggan 1989, 38), dass sich mit der methodischen Bezugnahme auf den Poststrukturalismus in die Sprache der postkolonialen Theorie eingeschlichen habe. Besonders der dekonstruktivistische Ansatz Spivaks und Bhabhas Hybriditätskonzept sind diesen Angriffen ausgesetzt.(7) Um die Kritik genauer einordnen zu können, werden wir im folgenden die wichtigsten Konzepte von Said, Spivak und Bhabha darstellen.

 

(1) F ür einen umfassenderen Einblick siehe u.a. Jan Engelmann [Hg.] (1999) Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies Reader. Frankfurt/New York

(2) Wobei im Bezug auf dieses kulturalistische/materialistische und strukturalistische Stränge der Cultural Studies zu unterscheiden sind: » Hegemonie als Kultur ist eine Frage materieller Produktion, Reproduktion und Konsumption, Hegemonie als Struktur ist ein Fall für textuelle Analyse.« (Milner 93, 81)

(3)Mit formaler Dekolonisierung die Untersuchung der Literatur, später Kunst, Geschichte u. Politik von Nationen, welche historisch zum British Commonwealth gehörten bzw. später weiterer ehemaliger Kolonialstaaten.

(4)Selbst im angelsächsischen und anglo-amerkanischen Raum steht die Etablierung als akademische Disziplin noch aus. Der kultur- und sozialwissenschaftliche Bereich in der BRD kam über eine erste Wahrnehmung noch nicht hinaus. Von einer Institutionalisierung im Hochschulbereich kann keine Rede sein.

(5) Siehe z.B. John McKenzie, der folgendes bezeichnendes Urteil über die postkoloniale Theoire fällt: »nothing represents the naïveté and lack of sophistication of the left-wing literary critics« (MacKenzie 1995, 36).

(6)Ein Begriff, der dem Paradigma der nachholenden Entwicklung der Dritten Welt anhaftet und deshalb sicherlich problematisch ist. Moore-Gilbert spricht in einer Fußnote Ahmads Strategie an, dieses Problem zu umschiffen (»In Theory makes an eloquent case against the use of this term.«). Die Problematik ist durch den Nicht-Gebrauch des Begriffs allerdings nicht gelöst. Moore-Gilbert entscheidet sich für die Benutzung des Begriffes. Wir folgen diesem Verfahren.

(7) »Ahmad’s In Theory laments the ›very arcane‹ nature of Homi Bhbha’s style and ›the inflationary‹ rhetoric of postcolonial theory more generally.« (Moore-Gilbert 1997, 21)

EDWARD SAIDS KONZEPT DES ORIENTALISMUS weiter / zurück
 

Durch Edward Saids Schlüsselwerk Orientalism wurde 1978 der Raum für die Colonial Discourse Analysis als akademische Richtung innerhalb der Literatur- und Kulturtheorie eröffnet. Es gab zwar bereits zuvor Ansätze, die im nachhinein sicherlich in das Umfeld postkolonialer Kritik gerückt werden können (erwähnt seien hier nur die Namen Frantz Fanon und Aimé Césaire), aber sie konnten keinen vergleichbaren Feedback im akademischen Bereich einleiten. »Erst mit Saids Buch richtete sich das Forschungsinteresse auf den orientalistischen beziehungsweise den kolonialen Diskurs.« (Grimm 1997a, 39).
Saids diskursanalytischer Ansatz in Orientalism geht davon aus, dass die beiden geographischen und kulturellen Pole »Orient« – »Okzident« und das binäre Verhältnis zwischen ihnen sozial konstruiert sind. Kennzeichnend für den Diskurs über den Orient ist erst einmal der Ort seiner (Re-)Produktion. Er ist in erster Linie ein Text des Westens im Westen: »the Orient is an idea that has a history and a tradition of thought, imagery, and vocabulary that have given it reality and presence in and forth the West.« (Said 1978, 5). Das bedeutet aber nicht, dass der diskursive Orient nur ein Hirngespinst des Westens ohne Referenz auf der Ebene des Realen wäre. Said gibt zwar zu bedenken, dass es eine Beziehung zwischen Orientalismus und dem »realem« Orient geben muss, schließt dieses Thema aber aus dem Untersuchungsfeld des Orientalismus aus. Was ihn interessiert, ist »the internal consistency of Orientalism and its idea about the Orient (the East as career) despite or beyond any correspondence, or lack thereof, with ›real‹ Orient.« (Said 1978, 5)
Um sich diesem Gegenstand anzunähern, bedient sich Said zweier theoretischer Konzepte. Zum einen übernimmt er das Machtkonzept und den Diskursbegriff von Michel Foucault. Foucault distanziert sich in Sexualität und Wahrheit I von einem Machtbegriff, der in erster Instanz mit Unterdrückung und Verhinderung verknüpft ist. Auch wenn es diesen Machttyp noch gibt (Souveränitätsmacht), ist sie in den (nach)aufklärerischen Gesellschaften (des Westens)(8) von anders operierenden Machtformen »kolonisiert«. Dort konzipiert Foucault Macht auch als ein »›impersonal‹ force operating through a multiplicity of sites and channels, constructing what he calls a ›pastoral‹ regime, through which it seems to control its objects by re(-)forming them, and in so doing, making them conform to their place in the social system as objects of power.« (Moore-Gilbert 1997, 36). Darüber hinaus übernimmt Said Foucaults Argument, dass der Diskurs seine eigenen Wissensobjekte konstruiert und Macht erzeugt und wirken lässt (vgl. ebd.). Mit der macht- und diskurstheoretischen Perspektive von Foucault kann Said den Orientalismus als einen spezifischen Macht-Wissens-Komplex beschreiben, der den Orient als das »Andere« des Westens konstruiert:

»Nimmt man das späte 18. Jahrhundert als grob umrissenen Ausgangspunkt, so lässt sich Orientalismus als eine umfassende Institution für die Beschäftigung mit dem Orient diskutieren und analysieren (...) Ohne Orientalismus kann man die unglaublich systematische Disziplin nicht verstehen, mit Hilfe derer es der europäischen Kultur gelang, den Orient politisch, gesellschaftlich, militärisch, ideologisch, wissenschaftlich und imaginär in der an die Aufklärung anschließenden Epoche zu organisieren.« (Said 1978, 3)

Der zweite zentrale theoretische Bezugspunkt für Said ist das Hegemoniemodell von Antonio Gramsci. Said sieht in Gramscis Hegemoniekonzept vor allem ein geeignetes Modell, um die Dynamiken von Herrschaft und Subordination zu erfassen. Für ihn ist die Gramscianische Unterscheidung zwischen »civil and political society« nützlich, weil sie es ermöglicht, den Ort der repressiven Gewalt vom Ort der Konsensbildung zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang stellt Said Gramscis Verständnis von Hegemonie als kulturelle Definitionsmacht einer sozialen Gruppe heraus und bezeichnet es als ein »indispensable concept for any understanding of cultural life in the industrial West« (ebd., 7). Mit diesem Begriff versucht Said die Wirkungsmacht, Stabilität und Dynamik des kolonialen Diskurses zu erfassen:

»It is hegemony, or rather the result of cultural hegemony at work, that gives Orientalism the durability and the strength I have been speaking about so far (…). the major component in European culture ise precisely what made the culture hegemonic both in and outside Europe: the idea of European identitiy as a superior one in comparison with all the non-European peoples and cultures.« (ebd.)

Mit diesem theoretischen Werkzeug kann Said auf die bedeutungs- und realitätsstiftende Macht des kolonialen Diskurses hinweisen und die Asymmetrie des (Macht)Verhältnisses zwischen dem Westen und dem Osten erfassen. Um zu verdeutlichen, wie tief seiner Ansicht nach die Vorstellung vom Orient im Denken des Westens verwurzelt ist, führt Said eine Unterscheidung zwischen »latentem« und »manifestem« Orientalismus ein. »Latent« bezeichnet in diesem Zusammenhang die wesentliche Struktur des Diskurses, das jedem westlichen Denken als binäres Trennlinie zwischen dem »Eigenen« und dem »Anderen« zugrunde liegt. Mit »Manifest« wird der differierende Ausdruck der Struktur, der an der Oberfläche des Diskurses auftaucht, bezeichnet. Damit versucht Said die kulturellen Differenzen, die unterschiedlichen wissenschaftlichen und nationalen Traditionen etc. in den Griff zu bekommen.
Der literatur- und kulturtheoretisch neue Ansatz von Said bereitete den Weg für eine breite Relektüre von literarischen Texten, Reiseberichten, akademischen Diskursen u.a. Sie wurden nicht mehr alleine als Produkte des Kolonialismus gelesen, sondern als für den Prozess der Kolonisierung selbst konstitutive diskursive Praktiken analysiert. Das förderte nach Grimm zwar &raqskursanalyse (post)kolonialer Texte inzwischen heftig umstritten. Das hängt stark zusammen mit einigen Unstimmigkeiten in dem Werk. Das betrifft zum einen die Frage der Homogenität des kolonialen Diskurses. Was für einen Stellenwert haben in diesem Zusammenhang die nationalen Differenzen der Kolonialmächte? Genauso ist ungeklärt, inwiefern es sinnvoll ist, nationale Traditionen und Geschichte als quasi-monolithische Blöcke zu betrachten, wie es Saids Werk vorführt.
Eine zweite große Unklarheit steckt in Saids Verständnis der historischen Entwicklung des kolonialen Diskurses. An manchen Stellen scheint Said von wichtigen Brüchen in der historischen Entwicklung auszugehen. an anderen, vielleicht zentraleren Stellen legt Said großen Wert auf die Kontinuitäten und die innere Kontingenz des Diskurses. Die zweite Lesart legt z.B. ein Zitat aus dem einleitenden Teil von Orientalismus nahe, dass Grimm zum Beleg für ihre Kritik an dem totalisierenden und statischen Begriff des Orientalismus anführt (vgl. ebd.). Dort wird Orientalismus definiert als »Denkweise, die auf einer ontologischen und epistemologischen Unterscheidung zwischen ›dem Orient‹ und (in der Regel) ›dem Okzident‹ beruht (...) Dieser Orientalismus ermöglichst es, Aischylos beispielsweise mit Victor Hugo und Dante mit Karl Marx zusammenzubringen.« (Said 1978, 3).
Besonders folgenreich erscheint die Einführung der Unterscheidung zwischen »latentem« und »manifestem« Orientalismus, legt sie doch nahe, dass die einzelnen manifesten Differenzen nichts an der grundlegenden Struktur des Denkens im Westen verändern, denn in letzter Instanz ist immer die Struktur determinierend. Die Härte der Kritik an dem essentialistischen, strukturalistischen Impetus ist stark davon abhängig, wie der hoch der Stellenwert dieser Unterscheidung für das Gesamtwerk eingeschätzt wird. Stellt sie eine grundlegende Säule von Saids Konzept dar oder ist sie eher als (sicherlich kritikwürdiges) Anhängsel zu betrachten?
Eine weitere unstimmige Annahme von Said betrifft seine Trennung zwischen den europäischen Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien und dem europäischen Rest. Besonders im Hinblick auf die imperialistische Vergangenheit Deutschlands ist Saids Trennung nicht ganz schlüssig. Er schließt Deutschland explizit aus seinen Betrachtungen zu dem Thema aus mit der Begründung, dass Deutschland keine Weltmacht gewesen wäre und deshalb auch keine nationalen Interessen im Orient gehabt hätte (vgl. Said 1978, 19; Moore-Gilbert 1997, 46).
Von feministischer Seite wird sein Bezug auf die Rolle der Geschlechterverhältnisse für die Konstitution das kolonialen Diskurses häufig als inadäquat betrachtet (vgl. dazu. Moore-Gilbert 1997, Endnote 60, 213). Kritisiert wird seine Annahme, dass die kolonialen Texte die Beziehung zwischen der »eigenen« und der kolonisierten Kultur geschlechtsneutral bzw. männlich konzipieren würde. Außerdem wird in Frage gestellt, ob die Kolonistinnen wirklich eine so unbedeutende Rolle gespielt haben, wie die Abwesenheit von Autorinnen und Wissenschaftlerinnen in Saids Betrachtung vermuten lässt oder ob die Privilegierung von Texten männlicher Autorenschaft nicht Saids (männlichen) Blick geschuldet ist. Auch wird die implizite Annahme Saids, dass die westlichen Frauen in den Kolonien einfach als stille Mittäterinnen zu betrachten wären, problematisiert. Es wird nahe gelegt, dass aufgrund der Erfahrung geschlechtsspezifischer Unterdrückung die Haltung gegenüber der Ideologie des Imperialismus ambivalenter gewesen wäre, eine differenziertere Betrachtung angebracht wäre.
Die Beurteilung der Frage nach der inneren Kontingenz und historischen Beständigkeit des Diskurses und der Stellenwert des latenten Orientalismus hat starke Konsequenzen auf die Möglichkeit des Widerstandes gegen die herrschende Ordnung und das bestehende hierarchische Repräsentationssystem. Muss davon ausgegangen werden, dass Said ein totalisierendes Konzept vorschwebt, »die den orientalistischen Diskurs mit »Europa«, dem »Westen«, dem »europäischen Wissen« insgesamt identifizierte« (Grimm 1997a, 40) wie Grimm nahe legt? Dann wäre Widerstand eher als Randerscheinung zu sehen und seine Wirkungsmächtigkeit äußerst begrenzt. Für Moore-Gilbert ist Saids beschränkende Konzeptionalisierung des Widerstandes in Orientalism stark verknüpft mit seiner theoretischen Präferenz von Foucault und dessen Verständnis von Macht und Diskurs.(9) Die Wahrnehmung von Widerstand in den imperialistischen Zentren bleibt nach Moore-Gilbert jedenfalls ungenügend. Dass auch der Widerstand in den kolonisierten Ländern für Said keine größere Rolle spielt, dürfte anhand seines definitorischen Ausschlusses des »realen« Orient nicht verwundern.
Auch wenn Moore-Gilbert diese Tendenzen in Teilen von Saids Werk sieht, präsentiert er noch eine zweite, alternative Lesart. Es sei ein Missverständnis, so Moore-Gilbert, in Saids Werk überhaupt keine Zeichen von Widerstand zu entdecken. Das ließe sich ins Besondere im Hinblick auf Saids weitere textliche Produktion sagen, in denen er insgesamt einen größeren Teil seiner Aufmerksamkeit der nicht-westlichen kulturellen Produktion widmet. In der Essaysammlung Culture and Imperialism (1993) erkennt Said in weit höherem Ausmaße die Wirkungen des metropolischen Widerstandes genauso wie die Formen des Widerstandes von den globalen Rändern an (vgl. Moore-Gilbert 1997, 64). Mit dem Fokus auf migrantische und exilierte Intellektuelle schlägt Said eine Brücke zwischen beiden Polen. Die Figur des Migranten ist bei Said versehen mit einer oppositionellen Grundhaltung und durch seine transkulturelle Position in der Lage, nicht wie eine große Menge der Intellektuellen in der Dritten Welt in die theoretischen Sackgassen zu geraten. Saids Abfeiern der kritischen Intellektuellen mit Peripherie-Ursprüngen ist allerdings auch wieder problematisch (vgl. Grimm 1997b, 37). Insgesamt bleibt es unklar, ob Widerstand von Said als Randerscheinung betrachtet wird oder ein Faktor für die spezifische Ausformung des (post)kolonialen Diskurses) spielen kann.
Trotz dieser Unstimmigkeiten bezüglich Homogenität des Diskurses, Geschlecht und Widerstand, muss Saids Intervention in das akademische Fell anerkannt werden. Eine der wichtigsten Fragen, die mit dem Erscheinen von Orientalism erst auf die Tagesordnung der Kulturwissenschaften kam und damit das akademische Feld für die postkoloniale Theorie geöffnet hat, ist die nach der Repräsentierbarkeit kultureller Differenzen ohne in essentialistische Identitätsmodelle zurückzufallen und ohne die verschiedenen Kulturen als beliebig austauschbare Dinge zu handeln.


(8) Diese (regionale) Differenzierung kommt Foucault als westlichen Intellektuellen nicht in den Sinn. Seine genealogischen Untersuchungen der Macht sind sicherlich in Hinsicht auf die Blindheit gegenüber internationalen Dominanzverhältnissen und den Effekten der asymmetrischen internationalen Arbeitsteilung zu untersuchen.

(9) Nach Moore-Gilbert scheint Foucault die entscheidende Quelle für Saids unzulänglichen Begriff von Widerstand zu sein, was nicht immer ganz nachvollziehbar ist. So meint er u. a. , dass Said in seiner pessimistischen Foucaultianischen Perspektive annimmt, dass die Macht sich nur auf Seiten der Kolonisiererenden befände. (Moore-Gilbert 1997, 51). Eine Lesart, die die Frage aufwirft, ob Said Foucaults Machtkonzept fehlinterpretiert oder ob Moore-Gilbert Vorbehalte gegenüber Foucault hat.

Gayatri Spivak – Silencing the Subaltern weiter / zurück
 

Wenn in dem kleinen Rahmen von sechs Seiten Text ein Ausschnitt aus Spivaks Beitrag zur postkolonialen Theorie vermittelt werden soll, muss die Darstellung sich auf zwei der wesentlichen Bestandteile beschränken: den dekonstruktivistischen Ansatz und ihrer Konzeptionalisierung der Subalternität.(10)

Der Versuch, Spivak einer bestimmten theoretischen »Schule« zuzuordnen, stellt sich dar als quasi unlösbare Aufgabe. Das ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass sie selbst es ablehnt, einer bestimmten politischen master-narrative den Vorzug zu geben. Es spricht natürlich einiges dafür, die englische Übersetzerin von Derridas Of Grammatology (1967, übersetzt 1976) dem Dekonstruktivismus zuzuordnen, was ihrem eigenen Selbstverständnis allerdings nicht entspricht. Auch wenn sie den großen Einfluss von Derrida auf ihre eigenen theoretische Ausrichtung in In Other Worlds bestätigt, meint sie an in einem Interview: »I’m not a deconstructivist.« (Spivak 1995, 308).
Weitere wesentliche theoretische Einflüsse kommen aus der feministischen, der marxistischen und der psychoanalytischen Theorie. Spivak deshalb als »feminist Marxist deconstructivist« (Colin McCabe in Spivak 1988c, ix) zu bezeichnen ist sicherlich nicht falsch, trägt aber die Implikation, dass Spivak ihre verschiedenen Einflüsse systematisch zu einer eigenen konsistenten Form der Kulturanalyse verbinden wollte, als Schönheitsfehler. Spivak besteht darauf, dass für Kritik »the absence of a totalizable analytic foothold« (Zitat in Moore-Gilbert 1997, 79) notwendig ist, was (wenigsten teilweise) den eklektischen Stil ihrer Arbeiten erklärt.
Was Moore-Gilbert als wichtigen positiven Unterschied zu Said und Bhabha herausstellt (neben weiteren Differenzen zwischen Spivaks und Saids Perspektive, denen hier nicht weiter nachgegangen werden kann), ist die Anerkennung der »ambiguities of her own position as privileged Western-based critic of (neo-)colonialism.« (Moore-Gilbert 1997, 77). Das bedeutet weiter, dass Spivak nicht annimmt, dass es einen objektiven, unkontaminierten Platz außerhalb der Analysemodi und -objekte gibt, zu dem die RepräsentantInnen der postkolonialen Theorie (durch persönliche Erfahrung und kulturelle Wurzeln) einen privilegierten Zugang hätten.

Auch wenn sich Spivak selbst nicht der dekonstruktivistischen Theorie zuordnet, ist ihre Anwendung derselben doch ein zentraler Bestandteil ihrer textuellen Praxis. Sie betrachtet zum einen die dekonstruktivistische Perspektive als eine mögliche Form der negativen Wissenschaft [negative science], der es nicht darum geht, die objektive, allgemeingültige Wahrheit einen Textes zu stützen, sondern im Gegenteil, den Blick auf die (unausgesprochenen) Annahmen, Strategien und rhetorischen Elemente zu lenken, die die Macht eines Quelltextes herstellen und aufrecht erhalten. Methodisch bedeutet das, gegen die Textlogik und –oberfläche zu lesen, die Präsuppositionen herauszustellen – in Spivaks Worten – ›katachretisch‹ vorzugehen.
Mit dem zweiten Faden verfolgt Spivak die Absicht, Dekonstuktion als »affirmative mode« anzuwenden. Das heißt in anderen Worten, dass sie der dekonstruktivistischen Praxis eine politisierende Funktion (»the potential to act in a number of politically enabling ways«; Moore-Gilbert 1997, 85) zuschreibt. Die Perspektive hat ihrer Meinung nach das Potential, exkludierte und marginalisierte soziale Gruppen kenntlich zu machen und kann damit einen Teil zu deren »coming to voice« bzw. Befreiung beitragen.
Parallel zu ihrer Aufmerksamkeit für das Ausgeschlossene und Ignorierte, das einen Text in die Lage versetzt als kohärente und autoritative Erzählung zu funktionieren, liegt ihr Fokus auf der Art und Weise, wie eine dominierende soziale Gruppe es schafft, ihr Interesse zu hegemonisieren. Mit diesem Vorgehen ist Spivaks Anliegen verbunden, das Binärsystem, auf welchem die Macht der hegemonialen Diskurse basiert, zu subvertieren.
Für Spivak ist der Kampf gegen bestehende Machtverhältnisse auch immer mit der Gefahr verbunden, dass die Normen und Werte, die den alten (kolonialen) Diskurs gestützt haben, in irgendeiner Weise im Gegendiskurs wieder auftauchen. In diesem Zusammenhang taucht einer ihrer Schlüsselbegriffe »repetition-in-rupture« auf. Die Bezeichnung »repitition-in-rupture« versucht die Aufmerksamkeit auf die Feststellung zu lenken, dass die bloße Umpolung des dominanten Diskurses ihn nicht aufhebt und in seiner binären Logik gefangen bleibt. Die Pole würden zwar ausgetauscht, das ändere aber nichts daran, dass sie sich weiterhin als Gegensätze gegenüberstünden. In Bezug auf die Postkolonialität ist es als Hinweis auf die Gefahr der ethnozentrischen Umkehrung zu verstehen, die z.B. die Begriffe »Okzident« und »Orient« beibehält, sie nur »umpolt« und umwertet. Dem Schritt der Umpolung muss der Schritt der Ablösung der opponierenden Begriffe folgen: »Without the supplementary distancing, a position and its counter-position (...) will keep legitimzing each other« (Spivak 1988c, 250)
Wieso trotzdem nicht davon gesprochen werden kann, dass sich Spivak dem Dekonstruktivismus verschrieben hätte, zeigt sich beispielhaft an ihrem Verhältnis zu den historiographischen Arbeiten der Indian Subaltern Studies Group. So kritisiert sie auf der einen Seite deren Konstruktion einer subalternen Subjektivität, die voraussetzungslos subversiv und widerständig ist. Ebenso problematisch empfindet sie die Annahme der Group, dass eine Identität der Subalternen existiert, die unabhängig, d.h. außerhalb der kolonialen Diskurse und Praktiken steht. Trotz dieser grundlegenden Kritik entschuldigt sie den »cognitive failure« der Gruppe. Zum einen wegen deren wichtigen Betrag, eine Geschichte der marginalisierten sozialen Gruppen in der Dritten Welt zu schreiben, die in den nationalistischen Standardwerken nicht auftauchen. Zum zweiten schlägt Spivak vor, die Essentialisierung der subalternen Identität als notwendige theoretische Erfindung (»necessary ›theoretical ficiton‹«) zu begreifen. In einem der meist zitiertesten Aussagen Spivaks meint sie: «I would read it, then, as a strategic use of positivist essentialism in a scrupulously visible political interest.« (Spivak1988c, 202)(11) .
Spivaks Intention hinter dem Konzept des strategischen Essentialismus ist häufig missverstanden worden als Distanzierung von ihrem antiessentialistische, dekonstruktivistischen Ansatz. Ihrer eigenen Einschätzung nach wurde es teilweise interpretiert als »a union ticket. for essentialism. As to what ist meant by strategy, no one wondered about that.« (Spivak 1993). Auf theoretischem Level bleibt Spivak bei ihrer ihrer antiessentialistischen Haltung: »One must nevertheless insist that the colonized subaltern subject is irretrievably heterogenous.«
Die Figur der »Subalternen« spielt für Spivaks theoretische Arbeiten eine zentralen Rolle. Spivak übernimmt diesen Begriff (in Anlehnung an die Indian Subaltern Studies Group) von Gramsci. Gramsci bezeichnete mit diesem Begriff in erster Linie besitzlose Landarbeiter und das städtische Proletariat in Italien. Spivak erweitert und aktualisiert die Reichweite des Begriffes. In dem Essay Can the subaltern speak? versucht sie mit Subalternen vor allem die marginalisierten sozialen Gruppen zu bezeichnen, die auf der sozialen Skala noch tiefer verortet werden und damit aus der Geschichtsschreibung (sowohl der Kolonisierer als auch der Kolonisierten) praktisch herausfallen. Der Fokus ihrer Analyse fällt dabei auf die Subjektposition der weibliche Subalternen, die nach Spivak von einer zweifachen Marginalisierung gekennzeichnet ist, die der ökonomischen Benachteiligung und die der geschlechtlichen Unterordnung (vgl. Moore-Gilbert 1997, 80).
Spivaks Bezug auf die Subalternität lässt sich am Besten anhand des Essays Can the subaltern speak? skizzieren. Hierin untersucht sie die Beziehung zwischen westlichen Intellektuellen und Subalternen (Frauen) in der dritten Welt. Anders gesagt: Es geht ihr um die Frage, wie das Subjekt der dritten Welt im Diskurs des Westens repräsentiert ist (vgl. Spivak 1988, 271). Haben subalterne Frauen der dritten Welt im kritischen Intellektuellen des Westens ein Sprachrohr, das sie unverfälscht darstellt und vertritt?
Spivak würde diese Frage wohl mit einem eindeutigen »Nein« beantworten. So ist auch der abschließende, häufig fehlinterpretierte Satz des Essays – »The subaltern cannot speak.« (Spivak 1988, 308) zu verstehen. Rodríuez, betont, dass Spivak damit nicht sagen will, dass »die »subalterne Frau« nicht sprechen könne, sondern sie zielt vielmehr ab auf die Verhinderung dieses Sprechens durch die Wissensproduktion des Intellektuellen.«(12) (Rodrígez 2002)
Die Figur des kritischen westlichen Intellektuellen wird in dem Essay repräsentiert von den Poststrukturalisten Foucault(13) und Deleuze. Beide unterzieht Spivak einer starken Kritik. Das zielt zum einen auf deren Ignoranz gegenüber der globalen Situation der internationalen Arbeitsteilung. Durch die Privilegierung lokaler Konflikte und mikropolitischen Formen des Widerstandes, geraten den Poststrukturalisten die globalen Zusammenhänge aus dem Blick, so Spivak. Letztendlich verleitet die Nichtanerkennung ideologietheoretischer Annahmen zu einer Perspektive, welche die Marginalisierten als klassisch-humanistische Subjekte konstruiert, die widerständig und ihrer Lage voll bewusst sind. »In the name of desire, they reintroduce the undivided subject into the dicourse of power.« (Spivak 1988, 274).
Diese Argumente gegen Foucault und Deleuze zielen insgesamt gegen das weit verbreitete Verständnis des »offiziellen Intellektuellen«, das die gesellschaftliche Funktion des Intellektuellen nicht ausreichend reflektiert. Rodríguez zeigt den Mangel dieser Vorstellung auf:

»Anzunehmen, dass Mitglieder aus subalternen Gruppen genauso den gleichen Zugang zur Erklärung zur Erklärung und Interpretation von Welt wie »offizielle Intellektuelle« hätten, hieße daher, so Spivak, die geopolitischen asymmetrischen Beziehungen zu verkennen.« (Rodríguez 2000)

Der theoretische Teil am Beginn des Essays wird ergänzt durch zwei historische Verweis auf Indien, an denen diese Problematik der Repräsentation verdeutlicht wird. Im ersten davon (und dem einzigen, der hier herausgegriffen wird) geht es um ist die Praxis der Witwenverbrennung (sati) im von England kolonisierten Indien des 19. Jahrhunderts. Die Situation war nach Spivak gekennzeichnet von Machtkämpfen und ideologische Auseinandersetzungen zwischen der einheimischen Elite und den britischen Kolonisierer. Hierbei wurde die Selbst-Opferung der verwitweten Frauen von den nationalen Eliten mit dem Verweis auf das Einverständnis und den freien Willen der Betroffenen gerechtfertigt. Die britische Kolonialmacht im Gegenzug legitimierte nach Spivak ihr Verbot der Selbstopferung mit dem Argument der Befreiung der Frauen im Zuge der Durchsetzung einer modernen gesellschaftlichen Ordnung nach westlichem Vorbild. Nach Spivak ist es für die subalternen Frauen dieses Diskurses unmöglich, ihre Stimme zu erheben ohne von einer der beiden Seiten vereinnahmt zu werden.Was in Can the subaltern speak? deutlich wird, ist Spivaks Skepsis gegenüber allen Vorstellungen, die Bündnis- und Repräsentationspolitik zwischen wohlwollenden westlichen Intellektuellen und Akteuren in den ehemaligen Kolonien als »einfach« und »selbstverständlich« betrachten. In diesem Kontext sind auch Spivaks Vorbehalte gegenüber manchen Positionen des westlichen Feminismus zu verorten. Spivak stellt sich gegen jeden »selbstverständlichen« universellen Vertretungsanspruch. Westliche Feministinnen müssen ihre privilegierte Stellung als Vertreterinnen der Interessen von Frauen überdenken, besonders wenn andere soziale Differenzierungsmechanismen, wie z.B. »Rasse« eine Rolle spielen (vgl. Moore-Gilbert 1997, 93).
Das Konzept der Subalternität von Spivak hat nach Moore-Gilbert mit einigen immanenten Problemen (Spivaks eigene ›repetions-in-rupture‹) zu kämpfen, die den interventionistischen Impetus ihrer Arbeiten teilweise paralysieren.. Die Problematik liegt in erster Linie in dem unklaren Status der Subalternität in Spivaks Werk. Spivak schwenke zwischen auf der einen Seite der Vorstellung von Subalternität als dem ganz Anderen, dem diskursiven Außen. Auf der anderen Seite betrachte sie Subaltere als reale historische Kategorie. Besonders der ersten Konzeptionisierung schreibt Moore-Gilbert die paralysierende Wirkung zu, während die zweite seiner Meinung nach eine viel optimistischere Ausstrahlung hat, da sie die Bündnismöglichkeit mit Subalternen nicht ausschließt (Moore-Gilbert 1997, 103). Ein Urteil, dass vielleicht etwas voreilig gefällt ist und Spivaks dekonstruktivistischer Perspektive nicht ganz gerecht wird.
Wenn subaltern als nur reale historische Größe verstanden wird, geht ihm der negative Gehalt (das, was im herrschenden Diskurs nicht repräsentiert wird) verloren und er wird zu einer rein positiven, statistischen Kategorie. Damit würde Spivaks Konzept selbst in die Nähe eine universalistischen Theorie des Sozialen geraten, die von sich annimmt, die Gesellschaft als Ganzes erklären und erfassen zu können. Wenn Subalternität aber darüber hinaus auch als diskursives Außen verstanden wird, eröffnet sich am Rand des Diskurses ein Feld politischer Handlungsfähigkeit. Subalternität ist keine Tatsache, sondern ein umkämpftes politisches Terrain. In dem Sinne ist subalterne Subjektivität ein unmöglicher sozialer Ort. Als politische Kategorie strebt sie immer über sich hinaus. Denn: »If the subaltern can speak, then, thank God, the subaltern is not subaltern any more.« (Zitat in Moore-Gilbert 1997, 107).

Spivaks Texte haben die postkoloniale Theorie um einen feministisch-dekonstruktivistischen Blickwinkel bereichert. Sie wirft in ihren Arbeiten die Frage auf, wie Subalterne repräsentiert werden können, ohne vereinnahmt oder instrumentalisiert zu werden. Wie können sie dargestellt werden ohne als das Differente essentialisiert oder als das Gleiche homogenisiert zu werden? Spivaks Arbeiten fordern eine weit höhere Berücksichtigung der eigenen sozialen Position und Zugehörigkeit im Feld der postkolonialen Kritik als es in der politischen und akademischen Praxis gängig ist. Der vielleicht wichtigste Beitrag von Spivak zur Postkolonialität ist in ihrem Versuch zu sehen, die subalterne Frau anzuerkennen und anzuhören ohne sie westlichen Normen, Historien oder Wissensregime unterzuordnen.


(10) Für einen umfassenderen Einblick in Spivaks Entwicklung auf theoretischer Ebene sei das Kapitel zu Spivak in Moore-Gilberts Postcolonial Theory (S. 74-113) empfohlen.

(11) Der positive Bezug auf einen strategischen Essentialismus wird von unterschiedlicher Seite geteilt (vgl. Rodríguez 2000, Lorey 1998,108, Butler.1997, 378).

(12) Der Aufsatz Fallstricke des Feminismus von Rodríguez ist im Kontext dieser Hausarbeit besonders interessant, weil sie zum einen auf die Postkolonialität des deutschsprachigen Raumes besteht und zum anderen plausibel erklärt, wie die vorherrschende eindimensionale Rezeption der Texte der postkolonialen Theorie als britisches und US-amerikanisches Importgut »zu einer Missrepräsentanz bzw. Unsichtbarmachung der Stimmen in der Bundesrepublik [führt], die ihre künstlerischen, theoretischen und politischen Arbeiten im Rahmen der deutschen und europäischen Kolonialgeschichte setzten.« (Rodríguez 2000)

(13) Die scharfe Kritik an Foucault hat Spivak in späteren Schriften revidiert. An der Kritik der Figur des kritischen Intellektuellen, der am »silencing process« beteiligt ist, ändert das nichts.

Homi Bhabhas Konzept der Hybridität weiter / zurück
 

Das folgende Kapitel zu Homi Bhabha wird wie bereits die vorangegangen zu Said und Spivak in seiner Kürze den verschiedenen Arbeiten Bhabhas nur ausschnittsartig gerecht. Ausgehend von Bhabhas Erweiterung der kolonialen Diskursanalyse mit seiner antiessentialistischen Auffassung kultureller Differenz werden wir uns auf seine Konzepte von Hybridität(14) und Mimikry und dabei besonders auf seine Konzeptionalisierung von Handlungsfähigkeit [agency] konzentrieren.
Bhabha ist in seiner Beschäftigung des kolonialen Diskurses weder allein an den Bildern kolonialer Stereotypen interessiert, noch möchte er diese als falsch korrigieren, vielmehr richtet sich sein Fokus auf die Mechanismen bei der Entstehung dieser Bilder bzw. Stereotypen sowie die Ambivalenzen innerhalb des kolonistischen Diskurses (Moore-Gilbert 97, 117). In Bezug auf die wechselseitige Identitätskonstruktion in Abgrenzung zum »Anderen« sowie durch den Blick »des Anderen« kombiniert Bhabha poststrukturalistische/dekonstruktivistische Ansätze (Derrida, Focault) sowie psychoanalytische Ansätze (Fanon, Freud, Lacan). So stellt er z.B. eine Analogie zwischen Freuds Fetisch-Modell und seinem Stereotypenkonzept her.

»Der Fetisch – oder das Stereotyp – gewährt Zugang zu einer ›Identität‹, die ebenso sehr auf Herrschaft und Lust wie auf Angst und Abwehr basiert: in seiner gleichzeitigen Anerkennung und Ableugnung der Differenz stellt er eine Form von multiplem und widersprüchlichem Glauben dar. Dieser Konflikt zwischen Lust/Unlust, Herrschaft/Abwehr, Wissen/Verleugnung, Absenz/Präsenz hat für den kolonialen Diskurs eine fundamentale Bedeutung.« (Bhabha 2000, 110)

Durch diese uneinheitlichen Reaktionen der Kolonisierenden auf »das kolonisierte Andere« wird also die Identität und Autorität der Kolonisierenden gebrochen. Dies äußert sich ebenfalls in den stereotypen Bildern und kolonialen Repräsentationen »des Anderen«:

»Der Schwarze ist Wilder (Kannibale) und doch zugleich der gehorsamste und ausgezeichnetste aller Diener (der Verwalter der Nahrung); er ist die Verkörperung zügelloser Sexualität und doch unschuldig wie ein Kind; er ist mystisch, primitiv und einfältig und doch der gewandteste und meisterhafteste Lügner und Manipulator sozialer Kräfte.« (ebd., 122)

Dtät ist die in den kolonialen Diskurs eingeschriebene Ambivalenz, die eine klare binäre Opposition zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten durch das gegenseitige Begehren auflöst oder untergräbt. Sie ist eine dialogische Konfrontation, eine Subversion des kolonialen Herrschaftsdiskurses. Hybridität ist hier aber nicht – wie in z.B. einigen kulturwissenschaftlichen Theorien – als Kreolisierung oder Vermischung verschiedener kultureller Einflüsse zu verstehen. Bhabha betont die Unvereinbarkeit kultureller Differenz und grenzt dieses Konzept von ethnozentristischen und pluralistischen Konzepten kultureller Diversität und Identität ab.

»(P)ostmodern vision of cultural synthesis or bricolage is too close in its political implications, for Bhabha’s liking, to dominant mainstream discourse of multi-culturalism and cultural relativism. Both of these in different ways, seek to minimize the challenges posed by cultural difference in order to preserve the ‘organistic‹ mythology of the ‘host‹ community or nation.« (Moore-Gilbert, 1997, 125)

Auch wenn Ethnopluralismus und Multikulturalismus unterschiedliche politische Implikationen im Umgang mit Differenz verfechten, beruhen beide in ihrer Grundannahme auf einer unterstellten Essenz von Kultur oder kultureller Identität, die es nach Bhabhas anti-essentialistischer Argumentation nicht gibt.

»Der Mythos des historischen Ursprungs – ethnische Reinheit, kultureller Erstanspruch –, der in Verbindung mit dem kolonialen Stereotyp produziert wird, resultiert in der »Normalisierung« der multiplen Überzeugungen und gespaltenen Subjekte, die als Folge des Verleugnungsprozesses den kolonialen Diskurs konstituieren. (Bhabha 2000, 109)

Kulturelle Differenz, im Sinne von Kultur als Äußerung, stellt ein prozessuales Modell von Kultur dar, diese ist »stärker dialogisch angelegt und versucht, De-Plazierungen und neue Allianzen auszumachen, die ihrerseits die Auswirkung kultureller Antagonismen und Artikulationen sind« (ebd. 265). Dadurch kann sie die Hegemonie schwächen und »eine Neubestimmung alternativer, hybrider Orte der kulturellen Verhandlung« (ebd.) vornehmen. Kultur als Äußerung meint die unabgeschlossene Produktion von Bedeutung [signification], die sich aus unvereinbaren Forderungen zusammensetzt. Zum einen stützt sich Bhabha hierbei auf Michail Bachtins Romantheorie der Mehrsprachigkeit sowie Dialogizität. Diese fasst Grimm mit den Worten Bachtins als »Aufeinandertreffen zweier verschiedener, durch die [...] sozialen Differenzierungen [...] geschiedener sprachlicher Bewußtseine in der Arena der Äußerung« (Grimm 97,42)(15) zusammen. Zum anderen bezieht Bhabha sich auf poststrukturalistische Begrifflichkeiten, nach denen Bedeutungen instabil, verschieden und »gleitend« sind. Politik findet im »Zwischenraum« kultureller Äußerung statt und die »Äußerungspraxis« wird durch Reartikulation, Neueinschreibung, Übersetzung und Verhandlung von kultureller Bedeutung zur befreienden diskursiven Strategie (vgl. Bhabha 58, 265f.). Identität wird damit Sache von Konflikt bzw. Verhandlung [negociation]. Mit dem Aspekt der dialogischen Konfrontation bzw. dem Moment der Subversion innerhalb des kolonialen Diskurses wird die Demaskierung und Unterminierung kolonialer Autorität möglich (vgl. Grimm 1997, 41). Im Vergleich zu Said und Spivak konzeptionalisiert Bhabha somit subalterne Handlungsmacht/-fähigkeit.
Diese und erneut die Ambivalenz zwischen Abgrenzung und Identifikation innerhalb des kolonialen Diskurses veranschaulicht er an Mimikry [Nachahmung] als weiterem Konzept. So verdeutlicht Mimikry die koloniale Dominanz, dass Kolonial«herren« und ihre »Kultur« von den Kolonisierten kopiert werden (sollen), gleichzeitig aber die Spiegelung mit »dem Anderen« auch zur eigenen Identitätskonstruktion brauchen. Somit repräsentiert Mimikry den »ironischen Kompromiß« kolonialen Begehrens »nach einem reformierten, erkennbaren Anderen als dem Subjekt einer Differenz, das fast, aber doch nicht ganz dasselbe ist.« (Bhabha 2000,126, Hervorhebung im Original) Gleichzeitig werden die Kolonialisierten hier handlungsfähige Subjekte, indem sie kopieren, dadurch aber auch Verzerrungen entstehen. Mimikry kann dann auch als »Form strategischer Kriegsführung für Unterlegene, die eine Ambivalenz des kolonialen Diskurses zur Alltagslist der Irreführung, Täuschung und Tarnung für sich ausnutzen.« (Ha 1999, 132) gelesen werden. Ob nun Mimikry verstanden als Strategie kolonialer Kontrolle, oder als Strategie kolonisierter Tarnung, Bhabhas Darstellungen fehlen überzeugende empirische Beispiele zur Effektivität dieser. Zudem konzeptualisiert sich das Politische nicht im öffentlichen Raum materieller Beziehungen des Kolonialverhältnisses, sondern eher im unbewussten »Zwischenraum« (vgl. Moore-Gilbert 1997,130) So ist fraglich inwiefern diese Auffassung von Handlungsfähigkeit als politische Mobilisierungsstrategie gelten kann (vgl. ebd. 133).
An diesem Punkt setzt die allgemeine Kritik an Bhabhas Analysen an. Durch seinen Fokus von Widerstand auf der symbolischen Ebene vernachlässigt er konventionelle Formen von Widerstand (bewaffnet, ziviler Ungehorsam, demokratische Opposition etc.) sowie Unterschiede innerhalb kolonialer Kontexte, wodurch seine Analyse als ahistorisch kritisiert wird. Zudem problematisch ist Bhabhas unkritische Übertragung psychoanalytischer Theorien auf postkoloniale Situationen. So werden die oftmals rassistischen Vorannahmen von Freuds und Lacans Konzepten, die u.a. von Spivak und Fanon problematisiert wurden, von Bhabha nicht thematisiert (vgl. ebd., 141ff.). Weitere »blinde Flecken« für die er kritisiert wird, sind die fehlende Beachtung von Gender, Klasse sowie kolonialen und materiellen Machtunterschieden. Hinsichtlich letzterem führt Moore-Gilbert vor allem Terry Eagletons Kritik an:»One is allowed to talk about cultural difference, but not – or not much – about economic exploitation.« (Moore-Gilbert 1997, 148)(16) Dem Vorwurf Bhabha textualisiere Politik, schließt sich Moore-Gilbert nur bedingt an, da Textualität oder kulturelle Praxis gleichwertig politisiert und somit nicht nur die öffentliche Sphäre als politisch betrachtet wird (vgl. ebd., 139). Entgegen der eben aufgeführten Kritik sei abschließend noch mal auf Bhabhas Erweiterung politischer Handlungsfähigkeit und die Stärke seiner dialogischer Lesart des kolonialen Diskurses verwiesen:

»Seine [Bhabhas] Art Widerstand innerhalb des kolonialen Diskurses zu lesen, bezieht sich auf die Möglichkeit der Entstellung des Kolonialdiskurses im Prozeß der Kolonialisierung selbst [...] Durch diesen Perspektivwechsel wird der koloniale Diskurs nicht mehr ausschließlich als diktatorischer Monolog aufgefasst, der die Macht des kolonialen Apparates totalisiert, indem er auf der einen Seite absolute soziale Kontrolle und auf der anderen Seite vollständige Unterordnung des Kolonialisierten unterstellt.« (Ha 1999, 129)

Problematisch bzw. offen bleibt die Frage, inwiefern Widerstand praktisch möglich ist und aktiv gestaltet werden kann. Diese Frage hat sich in unserer Auseinandersetzung mit den drei AutorInnen immer wieder ergeben und wird im folgenden abschließenden Kapitel noch einmal aufgegriffen.


(14) Für Diskussionen und Anmerkungen zum Hybriditätskonzept von Bhabha danken wir Sven Bergmann.

(15) Grimm bezieht sich auf M.Bachtin (1979) Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt am Main. S. 244

(16) Moore-Gilbert bezieht sich hier auf: Terry Eagleton (1994) Goodbye to the Enlightment. In: Guardian 08.02.94

Postkoloniale Theorie und Wiederstand weiter / zurück
 

Zuerst möchten wir die Beiträge von Said, Spivak und Bhabha hinsichtlich ihrer Momente von Widerstand zusammenfassend auf den Punkt bringen. Said eröffnete die koloniale Diskursanalyse im Feld postkolonialer Theorie. Mit seiner Nachzeichnung der hegemonialen Machtverhältnisse bleibt der Diskurs aber monologisch und Widerstand eine Randerscheinung. Als widerständiges Subjekt gelten am ehesten noch MigrantInnen bzw. postkoloniale Intellektuelle. Spivak erweitert die postkoloniale Theorie um die feministische Perspektive hinsichtlich einer doppelten Marginalisierung des »subaltern sexed subjects«, da diese auch in der postkolonialen Theorie oft negiert wird. Als postkoloniale Feministin dekonstruiert sie zudem (wie z.B. auch Chandra Mohanty) die Kategorie Frau als einheitliches Subjekt. Um den Eurozentrismus des Orientalismus anzugreifen, muss das Projekt linker Politik über einen »umgekehrten« Ethnozentrismus hinausgehen und auf eine verhandelnde Auflösung der Dichotomien zusteuern. Die mit Ethnozentrismus verbundene Essentialisierung von Identität kann als politische Strategie gelten, muss aber als Konzept »under erasure« bzw. Verhandlung bleiben. Hier setzt auch Bhabha mit der Erweiterung der Diskursanalyse durch seinen Fokus auf die Ambivalenz des kolonialen Diskurses und sein Hybriditätskonzept an. Der koloniale Diskurs wird dabei dialogisch und Identität Verhandlungssache. Kritik und Widerstand ausgehend von den postkolonialen Subjekten in den »Zwischenräumen« und an den »Rändern« bleibt aber eher eine symbolische oder diskursive Strategie und eine praktisch-alltägliche Umsetzung seines Hybriditätsmodells bleibt eher offen.
Kurz gesagt, postkoloniale Theorie steht für die Dekonstruktion von Essentialismen und binären Opposition des kolonialen Diskurses, seiner Geschichte und seinen Wissensformen, sowie richtet sich (wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß) auf die Betonung von Differenz. Dies erfolgt hauptsächlich auf der diskursanalytischen Ebene. Deshalb wird ihr häufig unterstellt,

»sie sei apolitisch, da ihre (meist akademischen) Kämpfe über den diskursiven Bereich des Symbolischen und den der kulturellen Repräsentation nicht hinausgingen. Politik sei mehr als ein Kampf ums Zeichen, auch wenn diese Kämpfe aus politischen Auseinandersetzungen nicht wegzudenken sind.« (Bloedner 98, 36)

Hier geht es um zwei unterschiedliche Seiten des Verständnisses von Widerstand: Widerstand als »konkreter Kampf« oder als diskursive Auseinandersetzung? Auch wenn postkoloniale Theoretiker vielleicht eher auf letzterer Seite anzusiedeln sind, bestehen Verknüpfungen und Überschneidung zwischen diesen beiden Ebenen von Widerstand. Daher können unserer Meinung nach diese zwei Seiten oder auch Arten von Widerstand nicht klar einander gegenübergestellt und untereinander hierarchisiert werden.
Greifen wir auf unsere anfängliche Überlegung zurück unterschiedlichste Ansätze postkolonialer Theorien als »reading practice« zu erfassen, so kann Postkolonialität als durchaus politisch motivierte Kategorie in der Auseinandersetzung um das Erbe von Kolonialgeschichte und kolonialem Diskurs betrachtet werden. Postkoloniale Theorie, wie auch postkoloniale Literatur(17) , als Lesart der Kolonisation mit den Geschichten und Stimmen der Marginalisierten zu verstehen, meint nicht nur Kritik oder »re-reading«, sondern auch »re-writing« der »großen Erzählung« [master narrative] von Moderne und Kolonialismus durch die Anerkennung postkolonialer Geschichte innerhalb dieser.

»Die westliche Metropole muß ihrer postkolonialen Geschichte, die von den in sie hineinströmenden Nachkriegsmigranten und Flüchtlingen erzählt wird, als einer einheimischen Narrative begegnen, die ihrer nationalen Identität inhärent ist [...] Postkolonialität ihrerseits ist eine heilsame Erinnerung an die andauernden ›neokolonialen‹ Beziehungen innerhalb der ›neuen‹ Weltordnung und der multinationalen Arbeitsteilung.« (Bhabha 2000, 9, Hervorhebung im Original)

Zurückkommend auf eine mögliche Form von Widerstand als diskursiver Verhandlung, sind postkoloniale Theorien mit ihrer Analyse, Dekonstruktion und Kritik des kolonialen Diskurses sowie ihrer damit verbundenen Theoriebildung Teil der emanzipatorischen Perspektive und »gegenhegemonialen« Auseinandersetzung. Politische Einmischung und Mitgestaltung funktioniert nicht ohne Thematisierung bzw. Artikulation von Hegemonialverhältnissen sowie ihren Marginalisierungen und Ausschlüssen. In diesem Zusammenhang ist unserer Meinung nach folgende Aussage von Kien Nghi Ha über die Aufgaben postkolonialer Literatur für die Arbeiten postkolonialer Theorien ebenfalls treffend:

»Es war und bleibt weiterhin die zentrale Aufgabe der postkolonialen Literatur viele Stimmen, einen unüberhörbaren Chor für diejenigen hervorzurufen, die bisher dazu gezwungen wurden sich nicht zu bewegen, unauffällig und leise zu sein. Denn wer nicht spricht, kann sich nicht mitteilen, sich auf andere beziehen, sich einbringen und einmischen, kann keine Ansprüche stellen, ja nicht einmal Fragen aufwerfen.« (Ha 1999,173)

Thematisieren möchten wir hier noch am Schluss zwei offen gebliebene Fragen, die den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden, aber in die Diskussion um postkoloniale Theorien und Widerstandsmöglichkeiten gehören: 1) Wo ist der Ort des diskursiven Widerstands, und welche diskursiven Widerstandspraktiken gibt es jenseits vom klassischen Bereich kultureller Repräsentation (Literatur, Musik, Film, Kunst)(18)? 2) Said, Spivak und Bhabha sprechen und schreiben von ihren Lehrstühlen in den USA. Werden ihre Analysen und Ansätze im »globalen Süden« aufgegriffen bzw. wird auf sie dort positiv, kritisch oder gar nicht reagiert?

Abschließend möchten wir die Verbindung zum Thema unserer Seminarveranstaltung herstellen. Einer der im Anfangskapitel dargestellten Kritikpunkte an postkolonialen Theorien betrifft ihr Manko des häufig fehlenden bzw. vernachlässigten Bezugs auf wirtschaftliche Machtbeziehungen. An dieser Stelle setzt demgegenüber oftmals die Kritik der AkteurInnen der sogenannten »Antiglobalisierungsbewegung« an. Trotzdem plädieren wir bei der Beschäftigung mit den im Seminar untersuchten AkteurInnen dafür, die Kritikpunkte und Fragestellungen postkolonialer Theorien nicht nur als theoretische, diskursive »Spielwiese« abzutun bzw. zu vernachlässigen. Vielmehr kann eine postkoloniale Perspektive hinsichtlich von Macht- und Herrschaftsbeziehungen innerhalb und zwischen Akteursgruppen, ihrer Selbstreflektion und Bilder über ihre eigene Rolle in der Welt sowie das Problem der Repräsentation(19) wichtige Fragen aufwerfen.

 

(17)welche wir in unserer thematischen Auseinandersetzung nicht berücksichtigt haben, auch wenn sie aus postkolonialen Auseinandersetzungen nicht wegzudenken ist.

(18) Verwiesen sei dazu auf Arbeiten von Stuart Hall, Paul Gilroy, Kien Nghi Ha, Mark Terkessidis u.a.

(19) Siehe dazu auch F.Habermann/R. Patel (2001) Wer spricht denn da? Peoples Global Action und das Problem der Repräsentation. In: Sonderheft Soziale Bewegungen, iz3w. S. 40-42

Literatur weiter / zurück

 

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Bhabha, Homi K. (2000) Die Verortung der Kultur. Tübingen

Bloedner, Dominik (1997) Ringkampf mit Engeln. Cultural Studies – Ein einführender Überblick. In: iz3w 225, S. 35-38

Bloedner, Dominik (1998) Von Schiffen und Musik. Paul Gilroy und die Kultur des

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Butler, Judith (1997) Körper von Gewicht. Frankfurt.

Grimm, Sabine (1997a) Einfach hybrid! Kulturkritische Ansätze der Postcolonial Studies (Teil 1). In: iz3w 223, S. 39-42

Grimm, Sabine (1997b) Nation hybrid. Kulturkritische Ansätze der Postcolonial Studies (Teil 2). In: iz3w 224, S. 37-39

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Rodríguez, Encarnación Gutiérrez (2000) Fallstricke des Feminismus. In: polylog. Forum für interkulturelles Philosophieren 1.2, 1-43. Internet: http://www.polylog.org/them/1.2/asp3-de.htm

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Spivak, Gayatri Chakravorty (1988b) Subaltern Studies: Deconstructing Histiography. In: In Other Worlds. Essays in Cultural Politics

Spivak, Gayatri Chakravorty (1988c) In Other Worlds : Essays in Cultural Politics

Spivak, Gayatri Chakravorty (1995) The Spivak Reader : Selected Works of Gayatri Chakravorty Spivak

 
     
Protestbewegungen im globalen Kapitalismus.
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