"I spy with my little eye"
surveillance on a shoestring


Die Erkundung der Teleüberwachung in Frankfurt am Main beginnt an der Konstablerwache und führt über die Zeil in das Bankenviertel. Sie endet auf der Besucherterrasse des Maintowers, 220 Meter über den Straßen der Stadt.

Konstablerwache: An den Ecken des Platzes lauern vier Überwachungskameras unermüdlich auf ein unerwartetes Ereignis. Sie lassen die Passanten an einem anderen Ort, auf einem Monitor in einem Büro des neuen Polizeipräsidiums, wieder auftauchen. Diese Telepräsenz (Paul Virilio) verwandelt die Ereignisse in eine übersichtliche Vorstellung, deren Zuschauer sich eine Intervention in den Lauf der Ereignisse vorbehalten. Erregt eine der auf der hell erleuchteten Bühne des Monitors exponierten Handlungen das Misstrauen der Überwachungs-Operateure, können einzelne Akteure auf dem Monitor fokussiert und lokalisiert werden. Die Überwachung droht, die Anonymität der in der Menge untergetauchten Städtebewohner und -bewohnerinnen jederzeit aufzuheben, um sie als Objekt einer Polizeiaktion zu konstituieren. Was das Misstrauen der BeobachterInnen erregt, welche Praktiken als verdächtig dekodiert werden, was als Sehenswürdigkeit auf den Monitoren erscheint? Man sagt, dass sich verdächtigt macht, wer unter den Kameras stehen bleibt: Solange die Passanten in Bewegung bleiben, scheint alles in Ordnung.

Die Technologien der Kontrolle überziehen in dezenten Netzwerken den urbanen Raum. War die im Panoptikum verkörperte Überwachung der Disziplinargesellschaften auf die Isolierung und Festsetzung, auf die Individuierung der Menge durch die Parzellierung des Raums angewiesen, ermöglicht die Teleüberwachung dessen Öffnung. Die Teletopologie des Monitors ersetzt den realen strategischen Ort, um jederzeit und überall Einzelne als Objekt der Macht fokussieren zu können. Die Teleüberwachung ermöglicht eine taktile, situative Machtausübung in Reaktion auf die Praktiken und sichtbaren Äußerungen der Menge, die den Operateuren der Kontrolle als gefährlich erscheinen. Sie ermöglicht das »Management der Differenzen« (Michael Hardt/Antonio Negri) und schafft die Vorraussetzungen für die Polizeiaktionen, durch die die Ordnung gegebenenfalls wieder hergestellt werden kann. Ihr Gebrauch folgt nicht den Logiken der Disziplin, sondern denen der Kontrolle: Die Kontrollgesellschaft lässt der Menge ihren Lauf, sie fordert mobile und kreative Subjekte, achtet aber misstrauisch darauf, dass sich niemand über die Verkehrsordnung hinwegsetzt und die Kreativität in geordnete Bahnen gelenkt wird. Das Interesse der Kameras und der BeobachterInnen vor den Monitoren gilt den Bewegungsräumen, das Versprechen der Kontrolle dieser undurchsichtigen, offenen, öffentlichen Räume macht die Teleüberwachung so attraktiv.

Die Kameras könnten benutzt werden, um ein Bildarchiv aller erdenklichen alltäglichen Praktiken aufzubauen oder die Geschichte dieses öffentlichen Platzes aufzuzeichnen: Welchen Tag an der Konstablerwache würde man gern mal auf Video betrachten? Wie oft würden Bekannte durchs Bild huschen? Wer entdeckt zuerst einen Pelzmantel, einen nasepopelnden älteren Herrn und ein sich küssendes Paar?

Auf der Zeil lässt sich kaum ein Geschäft finden, in dem die Passanten nicht im elektronischen Auge behalten werden. Zu empfehlen ist ein Abstecher in die Frankfurter Filiale von Woolworth, um einen ausgefallenen Typ von Über­­­­­wach­­ungs­­kameras zu besichtigen: Nach Aufmerksamkeit schreiende orangene und blinkende Apparate, die wenig gemein haben mit jenen funktionalen Geräten der »leidenschaftlosen Repression« (Harun Farocki) an der Konstablerwache. In ihrer Aufdringlichkeit sollen die Kameras bei Woolworth das anstiften, was Michel Foucault als die »Internalisierung von Machtverhältnissen« bezeichnete und was die Operateure der Macht, die »Schönheits­chirurgen des Sozialen« (nach Jean Baudrillard), gern Prävention nennen. Zuvorkommend sollen die KonsumentInnen angeregt werden, ein angemessenes Verhalten an den Tag zu legen, sich möglichst un­auffällig zu verhalten und keinesfalls den Gang an die Kasse zu vergessen. Und natürlich lauert hinter dieser kleinen Aufmerksamkeit die Drohung mit der Polizei.

Lassen sich die KonsumentInnen von der aufdringlichen Präsenz der Kameras affizieren, kann der überwachende Blick als bedrohlich, aber auch als behütend, sogar lustvoll erfahren werden (im überwachungssüchtigen Großbritannien tauchen immer wieder Videos von Liebespaaren auf, die bewusst den Blick der Kameras suchen und sich von ihm erregen lassen).

Die Kameras verlangen, diese Affekte (unabhängig ihrer Qualität) zu äußern, sie fordern die Subjekte – als in der Unterwerfung unter die Dispositive der Macht selbständig Handelnde – auf, ein gutes Bild abzugeben, ein Image zu kreieren. Entscheidend ist, wie sich die Bewegungen und Gesten, wie sich die Körper der Menge unter den Kameras verändern. Mit Roland Barthes ließe sich von der Notwendigkeit sprechen, »sich bereits im voraus zum Bild zu verwandeln«, ein Bild, das den »Körper erschafft oder ihn abtötet, ganz nach [seinem] Belieben«.1

Weiter Richtung Hauptwache und ein kurzer Stop im Eingangsbereich von Saturn Hansa: Über unseren Köpfen, dort, wo sonst die Kameras hängen, lassen uns Monitore sehen, wie die Kameras uns sehen; lassen uns gleichzeitig Subjekt und Objekt des überwachenden Blicks sein: Eine andere Anregung zur Selbstüberwachung.

Dieser Blick ist wenig spektakulär: Nüchtern registrierend verwandelt er die Passanten in Bildpunkte auf dem Monitor, uninteressiert und regungslos richtet er sich von oben auf die Menge, ersetzt den Blick des Souveräns durch einen bescheiden-operativen, harmlos-technischen. Dieser Blick sieht eigentlich nichts, zumindest sieht er nichts an, er ist nicht ­fokussiert, lässt alles gleichgültig an sich vorüberziehen. Die Bilder, die den überwachenden Blick auf den Monitoren sichtbar machen, sind zufällige, mangelhafte, reizlose Bilder einer Apparatur, die verspricht, dass alles, was hier geschieht, »aufgezeichnet sein wird« (Winfried Pauleit). Die behauptet, jedes Ereignis zu jeder Zeit in seinem Bild erneut anwesend machen, ihm durch das Bild seine Wahrheit geben, des Ereignisses durch das Bild habhaft werden zu können. Das Videobild ersetzt den Augenzeugen, der nur von dem sprechen kann, was er gesehen hat, den Blick nur in der Sprache rekonstruieren kann und darin immer Gefahr läuft, unglaubwürdig zu sein. Der Blick der Kameras duldet keine Zweifel, seine offen-sichtliche Wahrheit kann jederzeit gegen mich verwendet werden. Ein Versprechen und eine Drohung, das den ­Gestus von Gleichgültigkeit und Harmlosigkeit als Alibi benutzt.

Doch über die Betrachtung dieser Überwachungs-Video-Installation sollte man nicht vergessen, dass sie die Operateure in den Kontrollräumen unsichtbar macht, die dem Blick der Kameras ihre Interessen leihen, die Kleider, Gesichter, Hautfarben, Geschlechter, Alter, Schritte nach auffällig und unauffällig, harmlos und gefährlich ordnen.

Der australische Künstler Denis Beaubois nutzt beschriebene Papptafeln, um mit den Operateuren zu kommunzieren: »May I have a copy of the video footage? Move the camera up and down to agree …« Die Surveillance Camera Players inszenieren Theaterstücke unter den Augen der Kaermas (etwa Becketts »Warten auf Godot«). Ihr Interesse gilt der Unterbrechung des Alltags durch die Entwendung der Kameras: »We turn the cameras against their original purposes and use them for ours.«2

Die Route dieser Expedition ins Sehregime verlässt die Einkaufsstraßen und führt über den Rossmarkt in Richtung des Theaters. Unterwegs ließe sich ein Blick in die Schaufenster des Juweliers Christ werfen, deren Dekoration im März 2003 entwendet wurde, während die Kameras – zwangsläufig tatenlos – zuschauten. Möglicherweise wird die Entwicklung der Kontrolltechnologien Apparate hervorbringen, die im Verbund mit den Kameras eine direkte polizeiliche Teleaktion auslösen können (entwickelt werden derzeit etwa ferngesteuerte Elektroschocks, die von den Sehmaschinen selbst ausgelöst werden könnten), doch gegenwärtig bleiben immer noch einige Sekunden, vielleicht Minuten zur Flucht.

Am südlichen Ende des Rossmarkts lässt sich, in ca. 15 m Höhe auf der Spitze eines Pfahls, eine der Kameras der Frankfurter Verkehrsüberwachung entdecken. Sie ist eingebunden in ein Netz von 38 Kameras, installiert an allen wichtigen Verbindungswegen und Verkehrsknotenpunkten. Die Bewegungen im urbanen Raum, der sich nach Marc Augé in der Kombination von Wegen, Kreuzungen und Zentren konstituiert, können den Netzwerken der Ver­kehrs­überwachung, der polizeilichen und privaten Kontrolle, kaum noch entgehen. Die Kameras formen ein weiteres urbanes Netz neben den Straßen-, Leitungs- und Kanalsystemen und scheinen genau wie diese als Selbstverständlichkeit akzeptiert zu werden.

Die Kameras der Verkehrsüberwachung lassen sich um beinahe 360° schwenken, sind mit einem starken Zoom ausgestattet und per joystick fernzusteuern. Sie sollen (im Zusammenspiel mit den aus demselben Kontrollraum zu schaltenden Ampeln) den reibungslosen Fluss des Autoverkehrs gewährleisten. Beinahe immer nehmen die Kontrolltechnologien eine harmlose Funktion für sich in Anspruch, in der sie sich akzeptabel machen. Wer könnte etwas gegen fließenden Verkehr oder das Versprechen der Sicherheit, mit dem andere Kameras für sich werben, einzuwenden haben? Doch gleichzeitig taucht die »Verkehrskontrolle« immer wieder als grundlegende Funktion und Operationsweise der Überwachung unter den Bedingungen der Kontrollgesellschaft auf: Kontrolltechnologien gewähren und verweigern Zugang, beobachten Stadt-, Daten-, Geld- und Grenzverkehr, oder werden benutzt, um Profile der Bewegungen der KonsumentInnen in Shopping-Malls zu erstellen und zu »optimieren«. Kontrolle zielt gleichzeitig auf Selbstkontrolle und auf das Modulieren der Räume, in denen die sich selbst kontrollierenden Subjektivitäten bewegen.

Im Internet sind einige Bilder aus dem Netz der Verkehrsüberwachung zu sehen (www.svb.frankfurt.de/Video/index.html). Wer die netten Operateure in der Verkehrsleitzentrale besuchen möchte, klingelt in der Bleich-Straße, ein paar Meter von der Konstablerwache in nördlicher Richtung.

Weiter über die Gr. Gallus-Str. zur Freitreppe vor dem Commerzbank-Tower:

Unterwegs könnte mensch die Fassaden, Schaufenster, Sprechanlagen nach Kameras absuchen. Wie viele Kameras tauchen auf dem Weg auf? Welche Typen von Kameras lassen sich entdecken? Vielleicht hinterlässt man ein paar Kreidepfeile, um die Aufmerksamkeit der Passanten auf die Kameras zu lenken.

Obwohl sich an den Fassaden des Hochhauses, über den Eingängen und Treppen des Commerzbank-Towers eine Unmenge von Kameras entdecken lassen, scheint die Treppe ein unbeobachteter Ort. Eine kurze Pause?

Der Weg führt, unter den Augen unzähliger Kameras, in das Foyer des Maintowers, in der Hoffnung, auf der Aussichtsplattform den überwachenden Blicken zu entgehen. Zunächst ist jedoch die Sicherheitsschleuse zu passieren, deren Apparatur sogar die Oberflächen durchdringt, zur Befriedigung des Sicherheitswahns das Innere von Taschen und Rucksäcken ans Licht zerrt.

Per Aufzug lässt sich den endlosen und beweglichen Labyrinthen der Stadt entkommen. Der panoramatische Blick der Plattform weckt die Schaulust und verwandelt die Stadt in einen Text, den man unter sich vor Augen hat. In dieser Hinsicht ähnelt dieser Ausblick dem Blick der Kameras, der auch die Verwirrung der Stadt lichten und eine »Beherrschung des Ortes über das Auge« (Michel de Certeau) ermöglichen soll. Doch die dezentralisierten Netzwerke und Sehmaschinen der Kontrolle folgen einer anderen Logik als dieser spektakuläre Machtblick, der den Betrachter in den Mittelpunkt der Welt rückt, das Subjekt als Souverän konstituiert. Die Sehmaschinen der Kontrolle kommen ohne diesen privilegierten Punkt aus, sie nehmen in Anspruch, jeden Ort überall sichtbar machen zu können und die Beschränkungen des menschlichen Auges zu überwinden. Die Macht der Kontrolle verflüchtigt sich nach »überall und nirgends« (M. Hardt/A. Negri), sie benötigt keinen anderen Raum als den eines Stativs, einer Kamera und eines Monitors, kann auf die Gestaltung des Raums als eine Architektur ­des Blicks verzichten und entzieht so jede Angriffsfläche. Und selbst auf der Aussichtsplattform entgeht man ihr nicht: Kameras betrachten die BesucherInnen, die die Stadt betrachten. Den Blick genießend stellt sich die Frage, wie der Überwachung zu begegnen sei. Gilles Deleuze bemerkt dazu: »Das Wichtigste wird vielleicht sein, leere Zwischenräume der Nicht-Kommunikation zu schaffen, störende Unterbrechungen, um der Kontrolle zu entgehen.«3 Paul Virilio fordert gar »die große Funkstille, das Blackout«.4

Die Popkultur bringt eine Reihe technischer gadgets ins Spiel, um die Signale der Kameras zu stören oder in Endlosschleifen Ereignislosigkeit vorzutäuschen (zu betrachten etwa in den Serien Alias oder 24). Im urbanen Alltag bieten sich dagegen unauffällige Verkleidungen und Per­ücken an, um dem Blick der BeobachterInnen zu entgehen. Andere Praktiken, wie dieser Blick abgelenkt, irritiert, getäuscht werden kann, wären zu erproben. Sicher scheint nur, dass die Zerstörung der Apparate angesichts ihrer Verflüchtigung nach überall und nirgends wenig erfolgversprechend ist.

Mit dieser Aussicht und der Frage, wie der von P. Virilio angeregte Blackout, wie die Funkstille auszulösen ist, endet diese Erkundung des Blickregimes. Wer sie fortsetzen möchte, könnte sich in das Waldstadion begeben, in dem die Fans auch mithilfe einer aggressiv aufgepflanzten Kamera gezähmt werden sollen, unterwegs die ca. 120 Kameras am Frankfurter Hauptbahnhof suchen oder am Flughafen das Ensemble der verschiedensten und avanciertesten Kontrolltechnologien bewundern (hier werden u.a. Iris-Scanner eingesetzt, die man vor kurzem noch für eine Phantasie Hollywoods hielt).

Wer etwas anderes sehen möchte, wählt in Zukunft einfach eine Nummer ...

lsm

.notes

-->1 Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer – Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/Main 1985, S. 19.

-->2 Zur künstlerischen Aneignungen der Überwachung vgl. Thomas Y. Levin, Ursula Frohne, Peter Weibel (Hrsg.): CTRL SPACE –

Rhetorics of Surveillance from Bentham to Big Brother, Karlsruhe 2002.

-->3 Gilles Deleuze: Kontrolle und Werden, in: ders.: Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt/Main 1993, S. 252.

-->4 Paul Virilio: Krieg und Fernsehen, Frankfurt/Main 1997, S. 14.