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Die unterstellte Instrumentalisierung des Antisemitismus

Vom angeblich »trivialsten und uninteressantesten Verdacht« (Walser) und wie darüber in Deutschland gesprochen und geschrieben wird

In der Berliner Republik wird aus guten Gründen wieder einmal über Antisemitismus gestritten. Sowohl im Anschluss an Frank Schirrmachers berechtigte Skandalisierung von Martin Walsers neuestem Roman »Tod eines Kritikers« (2002) als auch im Zusammenhang mit Jürgen W. Möllemanns antisemitischen Angriffen auf Michel Friedmann und den Zentralrat der Juden in Deutschland entzündeten sich länger währende Debatten. In deren Folge haben am 3. November 2002 auch Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski im »Philosophischen Quartett« zusammen mit ihren Gästen Luc Bondy und Adolf Muschg darüber diskutiert. Ausgangspunkt war die Annahme, es werde heute »in einer viel fiebrigeren Tonart« als früher über ein »Thema dieser Machart« gesprochen. Zum Beweis der eigenen Unaufgeregtheit stellte Safranski am Anfang der Sendung drei Thesen auf, die nur auf den ersten Blick wie eine einfache Wiedergabe längst bekannter Erkenntnisse klingen. So sei der Judenhass als Schatten des christlichen Europas alt, tiefsitzend und vielgestaltig. Der moderne Antisemitismus hingegen, der mit der Nazizeit seinen Höhepunkt gehabt hätte, sei nach 1945 wirkungsvoll in Schach gehalten worden. Allerdings habe sich dabei, so die Behauptung Safranskis, ein Milieu wechselseitiger Verdächtigungen herausgebildet. Drittens schließlich existiere der Antisemitismus in der Latenz weiter. Es käme nun darauf an, den öffentlichen Raum von Antisemitismus freizuhalten. Was Safranski mit dem Hinweis auf ein Milieu ›wechselseitiger Verdächtigungen‹ meint, verdeutlicht an späterer Stelle der Sendung sein Komoderator Sloterdijk. Dieser unterstellt, es gäbe unter westlichen Intellektuellen eine gewisse Neigung, »wobei die Juden gar nicht intervenier[t]en«, den Antisemitismus zum »Kampfbegriff« zu machen. Damit erhebt er zum einen den bis dahin in der Sendung nur angedeuteten Verdacht, Antisemitismus werde von Intellektuellen instrumentalisiert. In der Verwunderung über die von ihm behauptete, ausbleibende Intervention von Juden gegen angeblich ungerechtfertigte Antisemitismus-Vorwürfe unterstellt er außerdem allen Juden per se eine besondere Verantwortung für den Umgang mit Antisemitismus. Der Einschub insinuiert, dass Juden mehr als andere Ursache hätten, Antisemitismus-Vorwürfe aus der öffentlichen Diskussion herauszuhalten. So aber werden wieder einmal ›die Juden‹ für den Antisemitismus verantwortlich gemacht. Komplementär gehört dazu die Behauptung, Antisemiten würden gewissermaßen von außen, etwa durch die Erhebung eines Antisemitismus-Vorwurfs oder durch die Errichtung eines Mahnmals erst zu solchen gemacht. Exemplarisch dafür ist z.B. eine Bemerkung Rudolf Augsteins (1999) in einem Beitrag zur Walser-Bubis-Debatte über Peter Eisenmans Entwurf für das zentrale Mahnmal zur Erinnerung an die Ermordung der europäischen Juden1: »Verwirklichen wir ihn [Eisenmans Entwurf], wie zu fürchten ist, so schaffen wir Antisemiten, die vielleicht sonst keine wären, und beziehen Prügel in der Weltpresse jedes Jahr und lebenslang, und das bis ins siebte Glied« (289).

Die angebliche Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs wird entsprechend auch als eine der Ursachen für das von Safranski eingangs beschworene Milieu wechselseitiger Verdächtigungen vorgeschlagen. Schon das verwendete Bild ist unglücklich: Wo eine Wechselseitigkeit unterstellt wird, ist die Vorstellung von zwei sich gegenüberstehenden Seiten aufgerufen. Wer aber steht auf welcher Seite? Implizit werden Juden und bestimmte Intellektuelle, die einen Antisemitismus-Vorwurf erheben, ungenannten Anderen gegenübergestellt. Problematischer noch ist aber die Aussage selbst: Wenn allein der Vorwurf des Antisemitismus ohne Prüfung seiner möglichen Berechtigung (oder auch seiner fehlenden Berechtigung) zur Begründung eines Klimas von Unterstellungen und Verdächtigungen herangezogen wird, dann ist ohne jede Analyse der Vorwurf zum eigentlichen Problem geworden und nicht mehr der Antisemitismus. Dass die Gefahr einer Instrumentalisierung des Anti-Antisemitismus bestehe, findet allerdings auch Adolf Muschg. Er ist es andererseits, der Safranski zu Recht vorwirft, sich in dieser Sendung eines ›uneigentlichen Sprechens‹ zu bedienen. Darin blitzt momenthaft eine wichtige Einsicht auf: Eine Beschäftigung mit den realen Ursachen, Folgen und Erscheinungsformen von Antisemitismus wird zu Gunsten der Aufdeckung einer vermuteten Instrumentalisierung von Antisemitismus-Vorwürfen vermieden. Auf diesem Hintergrund lässt sich skizzieren, welchen Umgang mit dem Antisemitismus Safranski und Sloterdijk aus den eigenen Postulaten ableiten: Das erklärte Ziel ihrer bildungsbürgerlichen ›Aufklärungsarbeit‹ ist es, den öffentlichen Diskussionsraum von manifestem Antisemitismus frei zu halten. Wenn jede Erhebung eines Antisemitismus-Vorwurfs grundsätzlich als möglicher Anlass für eine Überführung von latentem in manifesten Antisemitismus (miss)verstanden wird, dann verbirgt sich darin neben allem anderen auch eine Rehabilitierung, mindestens jedoch eine Verharmlosung von latentem Antisemitismus. Dieser ist die nach 1945 dominante Erscheinungsform von Antisemitismus in Deutschland. Deshalb bleibt es weiter notwendig, dessen Erscheinungsformen genau zu analysieren und zu beschreiben. Dass manifester Antisemitismus keinerlei Duldung erlaubt, entspricht dem Grundverständnis jeder demokratischen und republikanischen Gesellschaft. Wo allerdings, noch dazu in Bildern latenten Ressentiments wie bei Sloterdijk oder Augstein, dieser Konsens als ausschließliche Aufgabe intellektueller Wachsamkeit gegenüber Antisemitismus formuliert wird, ist er längst bedroht.

Unbestritten ist dennoch, dass auch der Vorwurf des Antisemitismus – wie alles andere – instrumentalisiert werden kann. Menachem Brinker hat kürzlich bei einem Berliner Kolloquium zu Friedensstrukturen in Nahost kritisiert, dass ein großer Teil der politischen Rechten in Israel die terroristischen Anschläge von palästinensischen Attentätern nutze und nutzen könne zur Bestärkung der Vorstellung, der israelisch-palästinensische Konflikt sei nur ein weiteres Glied in der Kette des Antisemitismus. Eine solche Sicht auf den Konflikt enthält in der Tat ein gefährliches, ahistorisches Moment, in dem reale historische Konfliktursachen wie die israelische Besatzung der Westbank und des Gaza-streifens seit 1967 ebenso wie die Siedlerbewegung ausgeblendet sind. Auf einer Tagung zu Antisemitismus, die kürzlich in New York stattfand, kritisierte Anson Rabinbach (Princeton) den US-amerikanischen Israel-Diskurs: Hier werde der Antisemitismus-Vorwurf benutzt, um Kritik an israelischer Politik zu ersticken (vgl. Speck 2002). Mit solchen Positionen hat die Diskurspolitik von Möllemann und Konsorten freilich wenig gemein, die stattdessen vorhandene, latent antisemitische Einstellungen bei einem Teil der deutschen Bevölkerung wahlkampftaktisch zu nutzen versucht. Möllemann arbeitet mit der strategischen Behauptung einer Tabuisierung jeglicher Kritik an der Politik der israelischen Regierung gegenüber den Palästinensern. Kennzeichnend für diese Strategie ist es, insbesondere jüdische Repräsentanten wie Paul Spiegel oder Michel Friedmann für diese angebliche Tabuisierung einer ›Kritik an Israel‹, wie es bereits verkürzend genannt wird, verantwortlich zu machen. Die Behauptung einer Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs erweist sich dabei selbst als nichts anderes als latenter Antisemitismus.

Latenter Antisemitismus hat verschiedene Erscheinungsformen. Die häufigste ist in Deutschland nach dem Holocaust der sekundäre Antisemitismus aus Schuldabwehr, der sich u.a. als ›antizionistische‹ Kritik an Israel äußert. Konstitutiv für ihn ist immer eine Täter-Opfer-Umkehr. So wird ›den Israelis‹ zum Beispiel vorgeworfen, sie führten einen »Vernichtungskrieg« gegen das palästinensische Volk, wie es Norbert Blüm im Frühjahr 2002 getan hat. Darin erscheinen die Israelis als neue Nazis. Jenseits von aktuelleren Erscheinungsformen bestehen auch traditionelle Formen eines latenten Antisemitismus fort, wie er in den gebildeten Schichten im Deutschland des Kaiserreichs und der Weimarer Republik weit verbreitet war. Noch nach dem Holocaust schreibt z. B. der liberale Historiker Friedrich Meinecke 1946 in seiner Schrift »Die deutsche Katastrophe«, dass ›die Juden‹ dazu neigten, »eine ihnen einmal lächelnde Gunst der Konjunktur unbedacht zu genießen« und dass sie eine »negative[n] und zersetzen-de[n] Wirkung« gehabt hätten. Sie hätten viel beigetragen zu »jener allmählichen Entwertung und Diskreditierung der liberalen Gedankenwelt« (29). [2] Die Beispiele sind zahlreich. Regelmäßig kehren Deutungsmuster des latenten Antisemitismus bei vergangenheitspolitischen Debatten wieder. In den letzten Jahren waren es insbesondere die Diskussion um Daniel J. Goldhagens Studie über das Polizeibatallion 101 und die Walser-Bubis-Debatte, in deren Verlauf jeweils zahlreiche antisemitische Ressentiments in den Medien kolportiert wurden.

Die Behauptung einer Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs als eines Musters von latentem Antisemitismus lässt sich abschließend mit Hilfe eines literarischen Beispiels weiter konturieren: mit dem Roman »Ohne einander« von Martin Walser aus dem Jahr 1993. Im Nachhinein ist es durchaus erstaunlich, dass diese »kleine antisemitisch-philosemitische Posse«, wie Gustav Seibt (2002) verharmlosend schreibt, nicht schon den Skandal hervorgerufen hat, den Walsers aktueller Roman auslöste. In »Ohne einander« taucht bereits eine Vorläuferfigur des Starkritikers André Ehrl-König auf, die Walser bekanntlich nach dem Vorbild von Marcel Reich-Ranicki gestaltet hat. Der Literaturkritiker heißt im früheren Roman Willi André König, der als »begnadeter Selbstinszenierer« bezeichnet wird und dem sein Verleger Prinz einen »letalen Touch« nachsagt, weil in seiner Umarmung jede Literatur erlösche. Prinz fürchtet wegen dessen Rezension eines Buches, in dem eine »Symbiose von jüdischem Verbrechen und jüdischem Hollywood« behauptet wird, einen Skandal auf sich zukommen. Im Prinzip scheue er kaum einen Verdacht, »nur in den trivialsten und uninteressantesten Verdacht, den des Antisemitismus nämlich, wolle er nicht geraten«. Weil König während einer Redaktionssitzung über diese Rezension eine Großmutter mütterlicherseits namens Hilde Wasserfall erwähnt, was von Prinz als Hinweis auf jüdische Vorfahren von König verstanden wird, soll die Rezension dann doch gedruckt werden (Walser, 18 - 20). Allerdings nicht ohne einen ausgleichenden zweiten Text, durch den der befürchtete Antisemitismusverdacht infolge der Rezension neutralisiert werde. Diesen soll Ellen Krenn-Kern verfassen, die auf der Redaktionskonferenz den Vorschlag einer Filmbesprechung von Agnieszka Hollands »Hitlerjunge Salomon« unterbreitet. Der Film selbst, der es nach Meinung aller wohl verdiene, »gerühmt zu werden«, wie Ellen unterstellt, wird von ihr allerdings als »politisch bedingt« und als Erpressung verstanden. Damit wären alle wesentlichen Elemente von Walsers Verschwörungstheorie des Antisemitismus zusammen: Der Vorwurf des Antisemitismus diene zur Erpressung sich schuldig fühlender (nichtjüdischer) Deutscher, die als mehr oder weniger hilflose Opfer durch diese Drohung in ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkt werden. So führt der Roman vor, wie sehr die deutsche Wirklichkeit der neunziger Jahre durch eine Tabuisierung der deutschen Vergangenheit angeblich entwirklicht werde. Die Protagonisten sind sich der Bedeutung des Antisemitismus ausschließlich als eines gegen sie gerichteten Drohpotentials bewusst, insofern sie nicht, wie der Kritiker König, an dessen Instrumentalisierung aktiv beteiligt sind. Der Text suggeriert, dass nur die Selbststilisierung als Jude – im Roman werden zwei Figuren auf diese Weise von den anderen unterschieden, wobei in beiden Fällen auch noch traditionelle Bilder aus der Tradition antijüdischer Fantasie zur weiteren Charakterisierung hinzukommen – die Möglichkeit eröffnet, einen antisemitischen Text zu verfassen, ohne mit Sanktionierungen rechnen zu müssen. Alle anderen fürchten den Antisemitismus-Verdacht und wissen um dessen besondere Bedeutung; entsprechend unterstreicht Ellen eine Bitte an ihre Tochter genau mit diesem Hinweis: »Um zu verhindern, daß das Magazin in den Verdacht des Antisemitismus kommt, verstehst du! Nichts verstand Sylvi besser, das wußte Ellen. Durch nichts ließ sich, was sie von Sylvi verlangte, nachhaltiger begründen als dadurch, daß ihre Mutter DAS vor dem scheußlichsten aller Verdächte, dem des Antisemitismus, bewahren mußte«.(ebd., 33) Und die Tochter versteht, dieser Logik entsprechend, die Erklärungen der Mutter tatsächlich als einen Erpressungs- oder Einschüchterungsversuch: »Antisemitismus! Was geht sie Antisemitismus an! Typisch Mama! Alles, was sie einem aufhalst, wird mit solchen Einschüchterungsladungen ausgestattet«.(ebd., 101) Im Roman wird so eine besonders zugespitzte Version des von Safranski behaupteten Klimas wechselseitiger Verdächtigungen konstruiert. Was darin vollständig entsorgt ist, sind tatsächliche antisemitische Übergriffe, die zur deutschen Normalität gehören.

In der Fernsehsendung will man so weit nicht gehen. Dafür hält man konsequent an der Vorstellung ›wechselseitiger‹ Verantwortung für den Antisemitismus fest. Bis zum Schluss der Sendung. Da werden die Zuschauer des »Philosophischen Quartetts« noch mit zwei Büchertipps bedacht: dem von Ernst Simmel herausgegebenen, klassischen Sammelband über Antisemitismus (das US-amerikanische Original erschien erstmals 1946) und Theodor Lessings ebenso klassischer Studie »Der jüdische Selbsthass«.

Hans-Joachim Hahn

#1 Der ursprünglich als Gemeinschaftsprojekt von Peter Eisenman zusammen mit Richard Serra eingebrachte, erfolgreiche Entwurf für das zentrale Mahnmal zur Erinnerung an die Ermordung der Juden Europas sieht auf dem Gelände der ehemaligen Ministergärten in

Berlin ein abfallendes, begehbares Feld mit ursprünglich 4200 unterschiedlich hohen Betonstelen vor. Inzwischen wurde die Anzahl der Stelen nach dem Ausscheiden Serras mehrfach verkleinert und die

ursprüngliche Konzeption außerdem um ein unterirdisches Informationszentrum ergänzt. Der Baubeginn war mehrmals verschoben

worden und zuletzt auf den Sommer 2002 angesetzt. Zur Übersicht über die vorausgegangene Debatte siehe z. B. Michael S. Cullen (Hrsg.): Das Holocaust-Mahnmal. Dokumentation einer Debatte, Zürich 1999.

#2 Meineckes Studie ist deshalb ein interessantes Beispiel, weil sie keinesfalls ein apologetischer Text ist, worin die deutsche Kriegsschuld geleugnet würde.

Literatur:

*.* Augstein, Rudolf (1999): »Wir sind alle verletzbar«, wiederabgedruckt in: Frank Schirrmacher: Die Walser-Bubis-Debatte, Frankfurt/Main, 285-289.

*.* Meinecke, Friedrich (1946): Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Zürich und Wiesbaden.

*.* Speck, Ulrich (2002): Erklärungsnöte. Eine New Yorker Tagung zum Antisemitismus, in: Frankfurter Rundschau, 10. 12. 2002, 24.

*.* Seibt, Gustav (2002): In Erlkönigs Armen sterben. Martin Walser und Marcel Reich-Ranicki: Zur Geschichte einer an Eskalationen

reichen Beziehung, in: Süddeutsche Zeitung, 31. 5. 2002.

*.* Martin Walser (1993): Ohne einander. Roman, Frankfurt / Main.