weiß-sein



Stellen wir uns einmal folgende zwei Ereignisse vor:

1. Daniela hat sich beim Gemüseschnippeln in den Finger geschnitten, sie blutet. Daniela holt sich ein Pflaster und verarztet sich.

2. Martin ist gerade im Zwischenprüfungsstress und hat intensive Arbeitsphasen, eine am Vormittag und eine am Nachmittag. In der dazwischen liegenden Pause macht er immer einen Spaziergang am Kanal entlang, um sich zu entspannen.

Stellen wir uns Daniela und Martin als Schwarze 1 vor, würden die Ereignisse vom individuellen Erleben und damit auch von der Erzählung her vermutlich sehr anders verlaufen.

Die Schwarze Daniela würde ihr Pflaster nicht in ›ihrer‹ Hautfarbe kaufen können. Das helle Pflaster würde auf ihrer dunklen Hautfarbe sofort auffallen, ihr wie jedem_jeder 2 anderen. Das Pflaster würde ihr vor Augen halten, dass sie ›anders‹ ist, es würde sie markieren. Als Mensch mit heller Hautfarbe, als Weiße, fällt Daniela dies jedoch gar nicht auf. Sie wird, so wie sie ist, bestätigt. Als Weiße stellt sie die Norm dar, sie bekommt das Pflaster in ›ihrer‹ hellen Hautfarbe in jeder Apotheke, jeder Drogerie und jedem Gemischtwarenladen. So mag sie sich zwar über ihren verletzten Finger ärgern, sie muss sich darüber hinaus jedoch nicht auch noch mit der Tatsache auseinandersetzen, gezeigt zu bekommen, anders zu sein.

Der Schwarze Martin wird bei seinen Spaziergängen von vielen Leuten, denen er begegnet, angeblickt. Immer wieder und sehr penetrant. Manchmal wird ihm etwas hinterher gerufen oder ihm werden im Vorbeigehen Ausdrücke zugezischt. Zwei Mal wurde er auch schon tätlich angegriffen. Und mehrfach haben Kinder wie Erwachsene nach seinen Haaren gegriffen und gesagt, dass sich das so toll anfühle. Nie hat jemand eingegriffen oder etwas gesagt. Er war immer alleine. Und die Werbeplakate, denen er auf seinem Spaziergang begegnet, repräsentieren überwiegend Weiße. Er hat im öffentlichen Raum kaum eine Repräsentation. Und wenn doch, dann aus einem Weißen Blick heraus für einen Weißen Blick funktionalisiert, etwa als Rapper oder leidenschaftliche_r Musiker_in, als Flüchtling oder exotisches Objekt sexualisierten Begehrens oder aber als lebender Beweis einer multikulturellen Gesellschaft. Eine selbstreferenzielle Weiße Bilderwelt, in der sprechende und handelnde Schwarze Subjekte nicht vorkommen. All das ist für den Schwarzen Martin ganz und gar nicht entspannend, sondern – im Gegenteil – extrem nervenaufreibend und belastend. Wenn sich der Schwarze Martin entspannen will, geht er nicht hinaus, sondern bleibt zu Hause. Der Weiße Martin jedoch hat die Sicherheit, dass er im öffentlichen Raum aufgrund seines Weiß-Seins nicht doof angemacht, an seinen Haaren angetatscht oder ins Gesicht geschlagen wird. Und er hat die Sicherheit, sollte dergleichen doch passieren, dass sein Weiß-Sein keinen Hinderungsgrund für Passant_innen und Polizei darstellt, ihm zu helfen. Sein Weiß-Sein gibt ihm Sicherheit im öffentlichen Raum. Darüber hinaus wird er als Weiße Person repräsentiert, zumeist in einem positiven Kontext. Der Weiße Martin findet im öffentlichen Raum Bestätigung, kein_e Weiße_r hat Angst vor ihm aufgrund seines Weiß-Seins, er wird selten abgelehnt und Leute bleiben eher auf der Parkbank sitzen, wenn er sich dazu setzt. Er genießt aufgrund seines Weiß-Seins im Alltag den Schutz der Anonymität: die Aufmerksamkeit ist nicht ständig auf ihn gerichtet und seine Zugehörigkeit als Weißer ist selbstverständlich.

Darüber hinaus ist es allerdings sehr unwahrscheinlich, dass der Schwarze Martin studiert und dann auch noch so viel Zeit zum Lernen hat. Sollte er es trotz vielfältiger Weißer Ausschlussmechanismen bis zur Universität geschafft haben, können ihn seine Eltern, im Gegensatz zum Weißen Martin, vermutlich finanziell nicht unterstützen und als Schwarzer Mann erhält er auch nur einen geringen Lohn. Er muss drei Tage in der Woche arbeiten, kann also gar nicht so viel lernen wie der Weiße Martin.

Die Klammer dieser beiden Ereignisse – das Pflaster und der Spaziergang – sind Privilegien, genauer: Weiße Privilegien. Die beiden Beispiele verdeutlichen holzschnittartig, worum es mir aus einer Weißen Perspektive im Folgenden geht: um Weiß-Sein, Privilegien und Weiße Identität.


Weiß & Schwarz

Weiße Privilegien sind an Weiß-Sein geknüpft. Mit Weiß-Sein ist keine Farbe gemeint – Weiß-Sein ist ein Konzept. Ein Konzept, welches in Jahrhunderten europäischer Expansion, Kolonialismus und Sklaverei entstanden ist; Ereignisse, auf die ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen werde.

Weiß-Sein ist eine Differenzkonstruktion: Weiß-Sein ist all das, was nicht-Schwarz ist, es konstruiert sich als Gegensatz. Weiß-Sein braucht daher das Schwarz-Sein, um existieren zu können. Schwarz ist das Markierte, das Bestimmbare, das Sichtbare; Weiß dagegen ist kaum zu fassen, es scheint auf keine spezifische Identität, auf keine klar bestimmbaren Qualitäten zu verweisen. Es ist scheinbar keine Farbe und doch alle Farben in einem, eine Leerstelle und doch universell, alles und nichts zugleich. Weiß-Sein erzeugt das Andere, entzieht sich aber selbst der Definition durch Andere.

Alles – Aussehen, Verhaltensweisen, Charakterzüge, Gegenstände etc. – wird einer der beiden Kategorien Schwarz oder Weiß zugeordnet. Es gibt eine sehr klare Hierarchie, in der Weiß(es) oben und Schwarz(es) unten steht. Zwischen Weiß und Schwarz gibt es also eine Machtbeziehung. Das, was Schwarz ist, wurde und wird von Weißen definiert, sie haben die Definitionsgewalt. Weiß-Sein ist eine Normsetzung, explizit oder implizit. Die explizite Normsetzung markiert Weiß-Sein bewusst und stuft es als höherwertig ein. Die implizite Normsetzung steht der expliziten diametral entgegen und wurzelt in der Tendenz, Weiß-Sein überhaupt nicht wahrzunehmen. (»Ich finde mein Weiß-Sein unwichtig.« »Ich mache da keinen Unterschied, wir sind doch alle gleich.«) Positive Hervorhebungen von Weiß-Sein sollen als rassistisch zurückgewiesen werden, das Selbstbild ist ein liberales, aufgeklärtes oder auch linkes, weshalb ich im Folgenden auf die implizite Normsetzung eingehe, da diese für die Linke relevanter ist.


Weiße Identität und Rassismus

Ich gehe mit Ruth Frankberg davon aus, dass sich ›Race‹ und Rassismus weder analytisch noch historisch voneinander trennen lassen und Rassismus gleichzeitig ein System von Herrschaft – eine Dimension der sozialen Ordnung – und ein System der Kategoriebildung – ein Modus des Bezeichnens und ein oft gewaltvoller Aspekt im Prozess der Persönlichkeitsbildung – ist.

Die beiden eben benannten Systeme – Herrschaft und Kategorienbildung – sind aufs Engste miteinander verzahnt, ja, sie bedingen und stabilisieren sich gegenseitig. Ich möchte also für ein Verständnis von Rassismus plädieren, das diesen als ein Herrschaftsverhältnis benennt, welches Menschen ausbeutet, unterdrückt, einschränkt, ausschließt und ihnen eine Identität zuweist. Diese Positionierung hat zur Folge, dass es ein fein abgestuftes System von Ein- und Ausschlüssen gibt, das Menschen unterschiedliche Räume und Zugänge zu Ressourcen öffnet bzw. verweigert und eine tatsächliche Begegnung zwischen Weißen und Schwarzen oftmals gar nicht stattfindet. Dies hervorzuheben ist für mich deshalb von Bedeutung, da Rassismus im Alltagsverständnis allzu oft auf eine interaktionistische Situation zwischen zwei Menschen oder zwei Gruppen reduziert wird und der Diskriminierungsaspekt im Vordergrund steht. Rassismus ist jedoch umfassender. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen:

Wenn sich an einem bestimmten Ort nur Weiße aufhalten, dann liegt das mitnichten daran, dass es dort einfach gerade zufällig nur Weiße gibt. Es würde dort sehr wohl wesentlich häufiger auch Menschen geben, die von Rassismus negativ betroffen sind. Dass dem häufig nicht so ist, ist eine Folge von Ausgrenzungsprozessen. Das oben erwähnte Beispiel von dem Schwarzen Martin ist nur ein Beispiel unter vielen, wie Rassismuserfahrungen oder ganz manifeste Weiße Ausschlussmechanismen dazu beitragen, sich an bestimmten Orten als Schwarze Person nicht mehr aufzuhalten. Es handelt sich hierbei um eine rassistische Struktur, die Weiße Räume schafft – Räume, in denen sich nur Weiße aufhalten. Dies betrifft in Deutschland u.a. Familienfeiern, Vereine, viele Kneipen, Cafés und Discos, Parks, Wohngegenden, ganze Städte, Schulen, Universitäten, Betriebe etc.3

Selbst wenn ich ein antirassistisches Selbstverständnis habe, so bin ich doch von meiner gesellschaftlichen Position Teil einer Struktur, die mich zumindest von (Weißen) Räumen nicht ausschließt. Darüber hinaus ist sehr wahrscheinlich, dass Weiße (unbewusst) ein White bonding betreiben, sich also gezielt die Nähe zu anderen Weißen Personen sichern. Jede_r Weiße hat somit Anteil an einer rassistischen Struktur, welche sie_ihn wiederum elementar prägt.4 Weiß entspricht daher im Rassismus als System der Kategoriebildung und der Subjektformierung einem ganz bestimmten Ort in der Gesellschaft. Ein immer wieder gehörter Satz wie »Ich bin nicht rassistisch« muss von daher als – freundlich formuliert – unterkomplex angesehen werden. Weiße profitieren von Rassismus, ob sie dies individuell wollen oder nicht.

Diese Überlegung soll die Notwendigkeit verdeutlichen, eine umfassende Analyse der eigenen Positionierung und Beteiligung in dieser Gesellschaft vorzunehmen. Diese Reflexion setzt voraus, dass die Tatsache anerkannt wird, als Weiße_r sozialisiert worden zu sein und dass sich rassistische Anteile in das Denken, Fühlen, Wahrnehmen und Verhalten eingegraben haben. Dies nicht wahrzunehmen, erhält rassistische Strukturen.

Geht es um ein Verstehen der Funktionsweisen von Rassismus, ist Weiß-Sein und Weiße Identität als Kategorie notwendiger Untersuchungsgegenstand. Aus einem antirassistischem Blickwinkel ist Weiß-Sein selbstverständlich auch Gegenstand der Kritik – produziert dieses Konzept doch bis heute sehr viel Leid und Unrecht, wird aber zum Glücklichsein von Menschen – und hier sind alle, Schwarze wie Weiße, gemeint – schlichtweg nicht gebraucht. In diesem Sinne gehört Weiß-Sein auf den Müllhaufen der Geschichte.


Critical Whiteness

Das eben skizzierte Verständnis von Rassismus ist eines der jüngeren Geschichte. Es gab bisher vielfältige Formen, in denen Rassismus untersucht und kritisiert wurde. Seit Anfang der 90 er Jahre rückte Weiß-Sein in den Fokus der Betrachtungen. In den USA bekam dieses Vorgehen den Namen Critical Whiteness, in Deutschland gibt es diese Diskussion erst seit wenigen Jahren. Mir ist klar, dass sich der US-amerikanische ›Fall‹ und die dort geführten Diskussionen nicht umstandslos auf deutsche/europäische Realitäten übertragen lassen. Weiß-Sein ist in Deutschland nicht nur mit Kolonialrassismus verknüpft, sondern ebenso sehr eng mit einem eliminatorischen Antisemitismus, mit Antiziganismus, Antislawismus und Islamophobie, von denen alle unterschiedliche Entstehungshintergründe und Ausprägungen hatten, aber bis zum heutigen Tage tradiert und virulent sind. Eine systematische Bestimmung steht bis heute aus und vieles wird leider – gerade in der Linken – gegeneinander in Anschlag gebracht. Inwieweit sich jedoch die Konzepte auf einen deutschen Kontext übertragen lassen oder nicht, wird u. a. in Büchern wie ›Spricht die Subalterne deutsch?‹ und dem ›BlackBook‹ diskutiert, worauf ich hier allerdings nicht weiter eingehen werde. Was in meinen Augen jedoch an dieser Stelle festgehalten werden kann: Weiß-Sein ist in Deutschland ein nationales, völkisches Projekt, Weiße Räume wurden in / von Deutschland besonders brutal durchgesetzt und Weiß, deutsch und ›arisches Aussehen‹ wurden und werden in Eins gesetzt. Vieles von den Analysen zu Critical Whiteness lässt sich übertragen, es bedarf jedoch einer genaueren (deutschen/europäischen) Kontextualisierung.

Die Eckpunkte der Critical Whiteness sind vor allem das Bewusstmachen der Zugehörigkeit zur dominanten Weißen Gruppe, wobei der Unsichtbarkeit von Weiß-Sein entgegengetreten werden soll. Weiße Privilegien sollen sichtbar gemacht werden, um sich überhaupt in die Lage zu versetzen, Weiße Dominanz und Vorherrschaft angreifen und schlussendlich abschaffen zu können.

An erster Stelle steht die Kenntlichmachung der Weißen Position. Diese ist, wie schon erwähnt, in aller Regel bei Weißen weder bewusst noch benannt. Das hängt vor allem damit zusammen, dass Weiß-Sein als Norm verstanden wird. Weiße Erfahrung ist oft in die hegemoniale Erzählung eingebettet und stellt sich als ›natürlich‹ dar. Weiße sind im allgemeinen Verständnis nicht ›rassisiert‹, sondern sie stehen universell für ›Mensch‹. Alles andere, so lehrt die rassistische Ideologie, ist dementsprechend als Abweichung zu verstehen.

Fragt man Weiße, wie sie sich selbst beschreiben würden, dann tragen sie in der Regel Zuordnungen wie Beruf, Familienstand, Alter, religiöse Bindung oder politische Einstellungen. Weiß-Sein wird mit größter Wahrscheinlichkeit nicht erwähnt, obwohl gerade die Dinge, denen sie sich zuordnen, in aller Regel sehr zentral mit ihrem Weiß-Sein zu tun haben. Weiße stellen sich Weiß-Sein meistens als raceless vor, die meisten Weißen assoziieren den Begriff ›Race‹ nicht mit sich selbst, ihr Weiß-Sein ist ihnen nicht bewusst. Sie denken, sie seien ›normal‹.

In den letzten Jahren hat es insbesondere in feministischen und (post-)kolonialen Analysen einen Paradigmenwechsel gegeben, bei dem sich der Blick von der Divergenz auf die Norm, vom Marginalen zum Zentrum verschoben hat – ein Blickwechsel, bei dem nicht nur das Andere, das Nicht-Normale als Projektion entlarvt, sondern auch das Eigene, die Norm selbst, als Konstrukt, als Inszenierung kenntlich gemacht wird. (Warth: 1998) Dieses Vorgehen birgt jedoch Probleme, von denen hier sechs in Kürze skizziert seien:

– Einerseits ist es zwar notwendig, explizit über Weiß-Sein zu reden, wenn es verändert bzw. zerschlagen werden soll. Andererseits wird implizit ständig über Weiß-Sein geredet, es werden ständig Weiße Themen verhandelt mit der Folge, dass Schwarze(s) an den Rand gedrängt wird. Es besteht im Rahmen der Critical Whiteness also die Gefahr, dass Weiß-Sein wieder alle Aufmerksamkeit bekommt, diesmal allerdings mit dem Unterschied, dass mit moralisch reinem Gewissen über Weiß-Sein geredet werden kann – schließlich passiert dies in ›kritischer‹ Absicht. Diesen Widerspruch vermag Critical Whiteness nicht aufzulösen, er bleibt bestehen. Ihm wird jedoch Rechnung getragen, wenn sich im Rahmen der Critical Whiteness Weiße zurücknehmen, nicht den ganzen Raum besetzen und die eigenen Strukturen so gestalten, dass eine Zusammenarbeit für Schwarze erträglich und damit möglich ist.

– Zum Zweiten sind ›Races‹ zwar nicht von Natur aus gegeben, sondern werden als natürlich konstruiert. Gerade dadurch erlangen sie jedoch Realität und eine enorme Wirkmächtigkeit. So sehr also der Aspekt des Konstruierens notwendig hervorzuheben ist, so sehr ist auch darauf zu bestehen, dass Weiße Identitäten real geronnen sind. Als solche existieren sie durchaus. (Samsa: 2002) Dieser Punkt ist mir besonders wichtig, da er so oft – gerade von Privilegierten – missverstanden wird. Die Erkenntnis, dass etwas konstruiert wurde und wie dies geschah, ist einerseits eine Analyse der Entstehungsbedingungen und trifft andererseits eine Aussage über den gegenwärtigen Zustand: gerade weil konstruiert wurde, ist es da, Konstruktionen sind Prozess und Resultat in einem.

– Diesen Umstand anzuerkennen wirft drittens die Frage nach einem emanzipatorischen Umgang auf. Das Unbehagen, sich mit dem Begriff ›Weiß‹ zu identifizieren, hat vor dem Hintergrund, dass dieser in affirmativer Weise von Kolonisator_innen und Nationalsozialist_innen affirmativ benutzt wurde und von Neofaschist_innen affirmativ benutzt wird, seine Berechtigung. Rassist_innen geben Weiß-Sein eine Bedeutung: sie konstruieren Weiß-Sein und Schwarz-Sein als natürlich und hierarchisieren dieses Verhältnis. Das ganze jedoch einfach umzudrehen und so zu tun, als hätte Weiß-Sein keine Bedeutung, wird dem Problem nicht gerecht. Ein derartiges Unterfangen läuft Gefahr, die eigene Positionierung in konkreten Machtverhältnissen zu leugnen. Insofern ist die Fokussierung auf die Differenz zwischen ›Weiß‹ und ›Schwarz‹ aus emanzipatorischer Sicht notwendig; allerdings nicht als essentialisierender Vorgang, sondern als strategische Markierung, um der Weißen Position das Privileg der Universalität zu nehmen. Verändert werden soll die Bedeutungsproduktion mit dem Ziel, dass Weiß-Sein keine Bedeutung mehr hat. Ein Selbstverständnis als Weiß bedeutet in diesem Sinne, Verantwortung für die Geschichte und für die eigene Positionierung zu übernehmen.

– Weiße mögen zum Vierten beispielsweise als Frauen, als Krüppel_innen, als homosexuell Lebende ausgegrenzt und diskriminiert werden – als Träger_innen (sozialen) Weiß-Seins sind sie hingegen privilegiert.

– Fünftens sollte nicht unterschlagen werden, dass die Weiße Privilegierung schon da anfängt, wo Weiße sagen: ›Ich setze mich jetzt mal mit Rassismus auseinander‹. Genau so schnell können sie es auch wieder lassen – Schwarze haben diese Wahl nicht. Weiße können den Zeitpunkt bestimmen, wann, wo und in welcher Weise sie sich mit Rassismus und ihrem Weiß-Sein auseinandersetzen.

– Sechstens und letztens ist es notwendig, die Dynamik zwischen Schwarz und Weiß zu erkennen. Wie eingangs bereits ausgeführt, benötigt Weiß-Sein das Schwarz-Sein, um existieren zu können. Weiß-Sein als Verkörperung von Normalität, Kompetenz und Überlegenheit wird über die gegenteiligen Attribute des Schwarz-Seins bestimmt. Weiß ist von Schwarz abhängig; ohne Schwarz gibt es kein Weiß. Und wenn es kein Weiß gibt, bricht die Machtbeziehung und die Privilegierung zusammen.

So traurig es ist, auch dieser Text braucht das Schwarze, um erklären zu können, was Weiß-Sein ist. Ein Umstand, der von Schwarzen immer wieder als Funktionalisierung und erneute Kolonisierung benannt wird. Ich weiß diesem Dilemma nicht zu entgehen. Es gibt von Weißen oft kein Wissen über ihr Weiß-Sein und die Markierung der Weißen Position in Kontrastierung zur Schwarzen scheint mir unumgänglich. Der Unterschied jedoch ist der, dass bei Critical Whiteness Weiß-Sein nicht mehr der unsichtbare Ort bleibt, der er sonst immer ist und von dem aus die Anderen definiert werden, sondern dass es hier explizit zum Gegenstand der Reflexion gemacht wird.

Dem Nicht-Wissen von Weißen über ihr Weiß-Sein steht das jahrhundertelang angesammelte, tradierte und marginalisierte Wissen von Schwarzen über Weiß-Sein gegenüber. Weiße sind oft erstaunt und reagieren mit aggressiver Abwehr, wenn sie mitbekommen, dass Schwarze ein Wissen über Weiß-Sein haben und dieses zur Sprache kommt (»Das ist doch stereotypisierend, nein, so bin ich nicht, das ist doch rassistisch, ...«). (hooks: 1994)

Zusammenfassend lässt sich in Anlehnung an Frankenberg Weiß-Sein wie folgt definieren. Weiß-Sein ist

– ein Ort, ein ›Standpunkt‹, von dem aus Weiße Leute sich selbst, andere, sowie nationale und globale Ordnungssysteme betrachten und bestimmen,

– ein Ort, an dem sich eine Reihe von kulturellen Handlungsweisen und Identitäten herausbilden,

– ein Ort, der selbst unsichtbar, unbenannt und unmarkiert ist und dennoch Normen setzt,

– ein Ort struktureller Vorteile und Privilegien in Gesellschaften, die durch rassistische Dominanz geprägt sind,

– kein absoluter Ort von Privilegien. Vielmehr wird Weiß-Sein von einer Reihe von anderen Achsen relativer Begünstigungen oder Benachteiligung durchschnitten. (Frankenberg: 1996)


Antirassismus

Bis hierhin dürfte deutlich geworden sein, dass Weiße und Schwarze unterschiedliche Positionen in Weißen Gesellschaften einnehmen und an diesen wiederum unterschiedliche Lebensrealitäten, Bedürfnisse und Politikpraxen hängen.

Rassismus ist eine Ideologie (das umfasst auch konkretes Handeln) von Weißen, betroffen sind Schwarze. Schwarze politische Strategien sind oft in erster Linie die Stärkung Schwarzer Strukturen und der Selbstschutz und erst an zweiter Stelle steht der unmittelbare Kampf gegen Rassist_innen. Weiße mit antirassistischem Anliegen haben andere Strategien. Sie selbst können den Aufbau Schwarzer Strukturen höchstens unterstützen, nicht aber Teil davon sein und sie benötigen keinen Schutz vor rassistischen An- und Übergriffen. Der unmittelbare Kampf gegen rassistische Strukturen, Behörden, konkrete Rassist_innen und die Solidarität mit von Rassismus Betroffen steht bei ihnen oft an erster Stelle.

Die Frage, warum sich jemand aktiv gegen Rassismus engagiert, dürfte ebenfalls sehr unterschiedlich von Weißen und Schwarzen beantwortet werden. Bei Schwarzen ist die Motivation recht klar, aber wie sieht es bei Weißen aus? Oft sind es diffuse Gerechtigkeitsgefühle, die Weiße dazu bringen, sich antirassistisch zu engagieren. Das ist selbstverständlich legitim, es sollte nur bewusst sein, was die eigene Motivation ist.

Als Weiße_r mit antirassistischem Anliegen genügt es nicht, sich in Solidarität zu üben, nicht aktiv zu diskriminieren oder diejenigen, die das tun, anzugreifen. All das ist notwendig, aber es ist darüber hinaus wichtig, sich selbst zu verorten, zu lernen, sich selbst wie andere Weiße für Weißes Verhalten zu kritisieren (genau das sollte gerade nicht Aufgabe von Schwarzen sein, da sie die Leidtragenden sind) und sich aktiv darum zu bemühen, Weiße Privilegien sichtbar zu machen und zu bekämpfen. Dazu halte ich es für notwendig, darüber zu reflektieren, wie mensch sozialisiert wurde und woher die eigenen Weißen Privilegien kommen. Dies ist mitnichten eine therapeutische Nabelschau, wie einige einwenden mögen, sondern zwingende Folge aus dem Strukturzusammenhang von Gesellschaft und Subjekt, die sich gegenseitig stabilisieren und bedingen und weshalb der Kampf gegen beides notwendig ist. Natürlich sind die einschlägigen Forderungen – von der Abschaffung der Ausländergesetze bis hin zur systematischen Zerschlagung Deutschlands und des Deutsch-Seins – weiterhin aufrecht zu erhalten. Die Auseinandersetzung mit eigenem Weiß-Sein hat oft zunächst eine Verunsicherung und Schuldgefühle zur Folge, denn je mehr mensch sich bewusst wird, wie sehr das eigene Fühlen, Denken und Verhalten von der Tatsache des Weiß-Seins bestimmt wird, desto mehr gerät mensch in Widerspruch zu einem Selbstbild, das sich als antirassistisch und links versteht. Die kritische Selbstreflexion schlägt sich nicht selten direkt in Verhaltensunsicherheiten, Scham- und Schuldgefühlen im Umgang mit Schwarzen nieder. Die Folge ist entweder, Begegnungen mit Schwarzen auszuweichen oder aber, im Bemühen die herabsetzenden Klischees und Gefühle zu leugnen, sich überfreundlich zu verhalten im Sinne einer positiven Gegenbesetzung. Problematisch wird das Ganze dann, wenn Weiße dabei stehen bleiben und die eigentliche Zielsetzung aus den Augen verlieren, nämlich die Trennungen, die Rassismus produziert, zu überwinden und allen Menschen einen gleichen Zugang zu den gesellschaftlichen Ressourcen zu ermöglichen.

Wird Verantwortung für die eigene Privilegierung übernommen, indem die eigene Position zur Aufklärung über die Privilegierung genutzt wird, hat die Kategorie Weiß-Sein ihre strategische Bedeutung. Strategisch insofern, als es nicht darum geht, die Positionen von Schwarz und Weiß festzuschreiben, sondern um sie als ein Phänomen historischer und aktueller Machtinteressen abzuschaffen. (Rommelspacher: 2002; Wachendorfer: 2004)

Otto Busse

busse@jpberlin.de




Anmerkungen

~1: Zu den Begrifflichkeiten: Die Begriffe ›Weiß‹ und ›Schwarz‹ mit großem ›W‹ und ›S‹ verweisen auf den politischen Kontext: ›Schwarz‹ bezieht sich auf die gemeinsamen Rassismuserfahrungen verschiedener, mittels der Kategorie ›Race‹ markierter Gruppen. ›Weiß‹ bezeichnet hier die Menschen, die aufgrund ihrer weißen Hautfarbe und europäisch/nordamerikanisch-christlichen Herkunft privilegiert und Subjekte rassistischer Prozesse sind. Neben einer Verwendung von ›Schwarz‹ als allgemeine Bezeichnung für Menschen, die von Rassismus betroffen sind, gibt es auch den Ansatz, zwischen ›Schwarzen‹ und ›POC‹ (›People of Color‹) zu unterscheiden. Schwarze bezieht sich bei dieser Unterscheidung auf Afrikaner_innen und Menschen, die in der afrikanischen Diaspora leben; POC rekurriert auf Menschen und Kulturen, die Opfer Weißer hegemonialer Macht und von Rassismus sind, aber keinen afrikanisch geprägten kulturellen Hintergrund haben. Dies betrifft u.a. türkische Migrant_innen in Deutschland. (Arndt/Hornscheidt: 2004) Mein Text bezieht sich primär auf Menschen mit dunkler Hautfarbe, auch wenn vieles von dem Beschriebenen auf andere POCs ebenfalls zutrifft.

Der Begriff der ›Rasse‹ wird von Schwarzen/POCs erstaunlich häufig verwendet. In Deutschland wird er in meinen Augen jedoch nach wie vor in aller Regel biologisch gedacht. Ich bevorzuge von daher den angloamerikanischen Begriff ›Race‹, dessen Konnotation einen nicht ganz so starken biologischen Hintergrund hat wie der deutsche Begriff, sondern eher einen sozialen. Von der Bedeutung her benutze ich den Begriff im Sinne von Existenzweisen, also als konstruierte und dennoch wirkmächtige, aber veränderbare Identitäten. Deswegen steht ›Race‹ in Anführungszeichen.

Bei (post)kolonial steht das ›post‹ in Klammern, um den Kolonialismus nicht als abgeschlossene Epoche zu behandeln, sondern um auf die kolonialen Kontinuitäten hinzuweisen.

~2: Der _ steht für all diejenigen, die entweder von einer zweigeschlechtlichen Ordnung gewaltsam ausgeschlossen werden oder aber nicht Teil von ihr sein wollen. Der _ stellt somit eine Repräsentation auf schriftlicher Ebene dar. Vgl. hierzu genauer den überaus lesenswerten Artikel von Kitty S. Herrmann: Performing the Gap – Queere Gestalten und geschlechtliche Aneignung. http://www.gender-killer.de/wissen%20neu/texte%20queer%20kitty.htm (erschienen in leicht veränderter Form in: arranca!, Nr.28).

~3: In dieser Hinsicht lässt sich von einer ›Parallelgesellschaft‹ reden, und zwar einer Weißdeutschen, die mit ihrem subtilen bis aggressiven Rassismus dazu beiträgt, dass Schwarzen jeglicher Raum genommen bzw. der Zutritt zu diesen verwehrt wird.

~4: Es handelt sich nur um scheinbar Weiße Räume, deren Existenz und dessen materielle Bequemlichkeit auf Grundlage der rassistisch ausdifferenzierten Ökonomie von der Arbeit Schwarzer Menschen abhängig ist. So tragen Weiße Menschen in aller Regel Kleidung und/oder essen Lebensmittel, die beispielsweise in Indien oder Puerto Rico oder sogar im ›eigenen‹ Land von Schwarzen Menschen hergestellt wurden. Genau genommen gibt es demnach so etwas wie einen vollkommen Weißen Raum nicht. Jeder Raum wie auch jede Persönlichkeit ist von einer Vielfalt von Spuren durchzogen, die rassistischen und (post-)kolonialen Strukturen entstammen.


Literatur

AntiDiskriminierungsBüro Köln / cyberNomads (Hg.) (2004): TheBlackBook. Deutschlands Häutungen. Frankfurt M. / London.

Arndt, Susan/Hornscheidt, Antje (Hg.) (2004): Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster.

Frankenberg, Ruth (1996): Weiße Frauen, Feminismus und die Herausforderung des Antirassismus. In: Fuchs, Brigitte / Habinger, Gabriele (Hg.): Differenzen, Machtverhältnisse und Solidarität zwischen Frauen. Wien.

hooks, bell (1994): Weißsein in der schwarzen Vorstellungswelt. In: dies.: Black Looks. Popkultur – Medien – Rassismus. Berlin.

Rommelspacher, Birgit (2002): Anerkennung und Ausgrenzung. Deutschland als multikulturelle Gesellschaft. Frankfurt / Main / New York.

Samsa, Gregor (2002): Koloniale Bilderwelt und Subjekt. In: Vorbereitungsreader zur crossover conference vom 17.-20.1.2002, Bremen.

Steyerl, Hito/Gutiérrez Rodríguez, Encarnación (Hg.) (2003): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Münster.

Wachendorfer, Ursula (2004): Weiß-Sein in Deutschland. In: ADB Köln/cbN (Hg.): TheBlackBook.

Warth, Eva (1997): Die Inszenierung von Unsichtbarkeit: Zur Konstruktion weißer Identität im Film. In: Fiedrich, Annegret u.a. (Hrsg.): Projektionen. Marburg.