garip dünya.




a certain derrida - glück und unglück einer verunglückung

John L. Austin erzählt eine Geschichte vom Fehlschlagen einer Schiffstaufe: »Suppose that you are just about to name the ship, you have been appointed to name it, and you are just about to bang the bottle against the stem; but at that very moment some low type comes up, snatches the bottle out of your hand, breaks it on the stem, shouts out ›I name this ship the Generalissimo Stalin‹, and then for good measure kicks away the chocks.« Als was für einen Menschen müssen wir uns diesen »low type« vorstellen?

Zunächst einmal scheint dieser mysteriöse Fremde nicht ganz einverstanden zu sein mit der ursprünglich vorgesehenen Namensgebung für das Schiff. Doch können wir nicht sicher sein, ob »Generalissimo Stalin« ihm selbst wirklich als eine gelungenere Bezeichnung erscheint, immerhin ist diese Form der politischen Aktion recht untypisch für orthodoxe Kommunisten. Wohl eher hätte man eine Demo gegen die feierliche Zeremonie erwartet, auf der Reden gehalten, Flugblätter verteilt, Transparente entrollt und Parolen skandiert werden: »Schluss mit dieser zynischen Verhöhnung des Proletariats!«, »Eins zwei drei – nieder mit der Reederei!«, »Bald wird ’ne steife Brise weh’n – bis eure Schiffe untergeh’n!«. Nicht so unser unbekannter Freund. Sein Akt überzeugt nicht mit Argumenten, und wir wissen nicht, ob er überhaupt überzeugen sollte. Er zielt nicht auf die Formierung eines Kollektivs und richtet sich nicht an die Massen. Wir können nicht von einer wirklichen Loyalität zum Kommunismus oder seinem Generalissimo ausgehen, und so muss man diesen Akt wohl eher einen anarchistischen als einen stalinistischen nennen.

Ein Anarchist also, dessen Kritik sich nicht in Form eines Alternativvorschlags ausdrückt. Abgesehen vom berechtigten Zweifel an seiner tatsächlichen Loyalität zur Großen Erzählung des Marxismus konnte dieser Anarchist wohl kaum meinen, dass seine Strategie tatsächlich zur (Um-) Benennung des Schiffes führen würde. (»Well«, schreibt Austin, »we agree of course on several things. We agree that the ship certainly isn’t now named the Generalissimo Stalin, and we agree that it’s an infernal shame and so on and so forth.«) Dieser (namenlose) Anarchist hat nicht mehr getan, als eine Benennung zu unterbrechen und zu verschieben, ohne jedoch die gesamte Konvention des Benennens und das System der hegemonialen Repräsentation zu revolutionieren. Er selbst bleibt noch der Ordnung der Signifikationen verhaftet: Sein eigener Akt stellt lediglich eine Imitation des Akts der Taufe dar.

Eine unvorhergesehene, unerlaubte, unerhörte Imitation freilich. Eine Entwendung der Sprache, eine Störung der Signifikationsharmonie, ein unautorisiertes Sprechen, das die Logik der Autorisierung selbst irritiert und subvertiert. Die »low types« – niedrig im Sinne von ordinär und heimtückisch, aber auch in dem Sinne eines unteren gesellschaftlichen Standes – sind in der Lage, die Akte(n) des hegemonialen Repräsentationsregimes zumindest temporär zum Scheitern zu bringen, und sie benötigen dafür weder Partei noch Vaterland.

Eine praktische Intervention mit dem Ergebnis nicht der Konstruktion einer neuen und besseren Benennung, aber doch der De-Konstruktion von Benennung als solcher. Immerhin das ist möglich – und das ist gar nicht wenig, wenn man sich vor Augen führt, dass mit der Schiffstaufe nur eine Momentaufnahme einer langen Kette in einem Netz von Autorisierungen und Instituierungen subvertiert wurde. Ich nenne dieses Schiff »Queen Elizabeth«, ich nenne dich zur Schiffstaufe befugt. Ich ernenne dich zur Oberbürgermeisterin, zum Bundeskanzler, zum Richter, zum Magister Artium. Ich nenne dich Mensch (oder nicht), ich nenne dich Junge oder Mädchen. Ich nenne euch Mann und Frau, kraft des Amtes, das mir rechtmäßig vom Staat oder der Kirche verliehen wurde. Kraft eines Rechtes, das sich selbst zum Recht ernennt (Auto-Nomie), und das sich so nennt nicht aufgrund einer Referenz auf irgendeine präexistente Wahrheit, sondern aufgrund lediglich der Selbstermächtigung zur Benennung. Ein Recht, Recht genannt und als Recht immer wieder zitiert und in dieser Nennung nie oder zu selten gestört von »low types«, von dessen Benennungspraktiken abhängt, wo Grenzen verlaufen, wer ins Gefängnis geworfen wird, wer einen Personalausweis erhält, wer Steuern zahlt. Wie unser sympathischer Anarchist jedoch gezeigt hat, wird jeder Versuch, das Feld des Politischen und des Sozialen vollständig abzusichern und zu schließen, immer von einer Heimsuchung durch die Gespenster unterbrochen und unterminiert werden können. Es gibt kein Ende der Geschichte. Das Recht sedimentiert sich als Recht erst durch Wiederholung und Wiederholbarkeit: Iterabilität. Wo das Recht der und zur Benennung von der Nennung des Rechts abhängig ist, enthält es das Scheitern als positive Möglichkeitsbedingung. Das Recht bringt ungewollt so das Supplement der Subversion selbst mit hervor. Diese gespenstische Irritation der Signifikation beraubt das Leben des Gefühls der ontologischen Gewissheit und Stabilität in einer öffentlich konstituierten politischen Sphäre, und sie hat somit Auswirkungen auf weit mehr als nur die Sprache. Dass das System von Autorisierungen und Instituierungen gestört werden kann, dass keine Wahrheit oder Referenz oder Natur oder Metaphysik oder Macht der Welt oder des Himmels die Verunglückung dieser Performative verhindern kann (the list of infelicities, wusste Austin, is never complete) - was für ein beruhigender Gedanke.

Was für ein beunruhigender Gedanke. Was wäre, wenn unser sympathischer Anarchist auf dem Weg zum Schiff gestolpert wäre, womöglich mit einem lauten Platschen ins Wasser hinein? Oder wenn er vor Aufregung zu stottern begonnen hätte oder sich versprochen hätte (›I name this Stalin the Generalissimo ship!‹)? Was, wenn er sich geirrt hätte oder ihm einfach nichts Besseres eingefallen wäre, als dem Schiff einen langweiligen und wenig humorvollen Namen zu geben, z.B. »Europa«? Welch peinliches Spektakel. Wo nur die Möglichkeit der Unmöglichkeit des Aktes seine Möglichkeit garantiert, affiziert das Scheitern auch noch das Scheitern. Wo keine Souveränität der Benennung existiert, existiert ebenso keine Souveränität der Entnennung. Die generelle Labilität sprachlicher (also: sozialer) Ordnung muss selbst den Ausgangspunkt der Subversion verunsichern; nicht mehr ist also möglich als die Unsicherheit der Benennung zu benennen. Vielleicht konnte sich ein »low type« gerade deshalb zur Aktion entschließen, weil er um diese Unsicherheit wusste und weil ihm so das Stolpern oder das Stottern weniger peinlich erschienen.

Die Politik der Dekonstruktion nimmt keinen appellativen Charakter im Sinne eines Aufrufes an die Unterdrückten an, weil sie schlicht nicht über eine bessere Wahrheit verfügt oder weil ihr die Wahrheit geradezu beschämend fade erscheint; aber sie ist als eine Praxis der Intervention auf die Aporien geeicht, die sich aus den Versuchen ergeben, uns die Wahrheit zu erzählen. Dass der Name nicht mit sich übereinstimmt, dass er zerrissen ist von einer internen Differenz durch die Notwendigkeit der Möglichkeit des Aufschubs und der Unterbrechung, dieser Skandal der Grundlosigkeit der Benennung – das ist die infernal shame, die dieser »low type« ans Licht gefördert hat.

Jacques Derrida starb am 9. Oktober 2004 im Alter von 74 Jahren.

Daniel Loick


++++++++++++++++++++

heil dich doch selbst - die flick collection wird geschlossen

Berlin hat jetzt eine staatlich sanktionierte »erste Adresse« für zeitgenössische Kunst, die in verschiedener Hinsicht monumental zu nennen ist: Die »Friedrich Christian Flick Collection« ist ein temporäres Denkmal für den Flickreichtum, ein ausgestellter Konsumakt, der sich aus dem Geld speist, das mit der Kriegs- und Vernichtungsmaschine der Nazis erworben wurde. 1944 arbeiteten im NS-Industrie-Imperium Flick rund 50 000 Zwangsarbeiter/innen, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge. Der Enkel handelt im Sinne seines Großvaters, wenn er sich weigert, die Überlebenden zu entschädigen. Dabei stellt der Entschädigungsfonds nur einen minimalen Bruchteil dessen zur Verfügung, was an Zwangsarbeit verdient und über viele Kanäle in die Nachkriegsökonomie eingespeist wurde, die den magischen Namen »Wirtschaftswunder« erhielt.

Flick spricht davon, seinen Familiennamen »auf eine neue und dauerhaft positive Ebene zu stellen«. Toll, findet Staatsministerin Weiss, die Ausstellung schließe »einen Teil der Wunde, die in Berlin durch die Nazi-Zeit gerissen wurde«. So versöhnen sich die Deutschen mit sich selbst. Die Nazis nahmen ihnen die moderne Kunst, einer der Enkel aber gibt etwas davon zurück. Er kauft mit dem geerbten Geld post-avantgardistische Werke und redet in Sehnsuchtsmetaphern, in gebrochen existenziellen Codes, die den Sammler und sein Leiden an der Geschichte verkörpern. Da kann auch der Generaldirektor der Staatlichen Museen, Schuster, einsteigen und »vom Drama der Deutschen mit der Kunst« zu sprechen beginnen. Der Themenwechsel ist abgeschlossen, von der Vernichtung durch Arbeit im Nationalsozialismus zu zeitgenössischer Kunst im Hamburger Bahnhof. Postavantgarde und ein staatlich unterstützter Normalisierungsanspruch gehen eine unheimliche Synthese ein.

Keine Kunst ist an sich gut oder schlecht. Jede Arbeit ist die Summe ihrer Elemente. Dazu zählen die Entstehungsbedingungen, Durchsetzungsstrategien und auch ihr Gebrauch. Der Rahmen ist ein Teil des Bildes, wer ihn ändert, ändert das Bild. Und hier ist zu sehen, wie das Projekt »Deutschland, alles ist wieder okay!« in der Berliner Republik funktioniert. Ausgerüstet mit einem Willen zur Debatte, der an den letzten Erfahrungsresten von 1968 geschult ist, und einer gewissen Distanz zum Wertekonservatismus wird jede Auseinandersetzung begrüßt, auch über den Nationalsozialismus, solange sie konsequenzlos bleibt. Die Erinnerung der Shoah wird noch in ihrer Benennung stillgestellt. Die Blockade politischer Macht, die durch die deutsche Geschichte gegeben ist, soll damit aufgehoben werden. Vielleicht ist der politische Unternehmer Friedrich Christian Flick auch deshalb zum Nach-MoMA-Joker der Berliner Kulturpolitik und der Bundesregierung geworden, weil sie in der Dreistigkeit des Coups ihre eigene Macht erkennen. Es geht darum, diese Stillstellung der Erinnerung zu unterbrechen.

www.flickconnection.de


die arbeit des bündnisses flickconnection steht nicht alleine da, zusätzlich zu ihrer kampagne, ihrer politischen abendveranstaltung in berlin und einer anzeige in der faz zum 26.01. arbeiteten auch andere zum thema flick-collection und interventionierten mittels kommunikationsguerilla und direkter aktion (zumindest) partiell in gesellschafts-, kunst- und presse-diskurse.

www.carinhall-thecollection.de - die Site zur (vorstellbaren) Eröffnung einer Hermann-Göring-Collection

Farb-Anschlag auf die Flick-Collection - Ausstellung wurde vorübergehend geschlossen.(Berliner Zeitung vom 28.01.2005: www.berlinonline.de / berliner-zeitung / archiv / .bin / dump.fcgi / 2005 / 0128 / lokales / 0086 / index.html)

Doppelschlag gegen Flick. Flugblätter und weiße Farbe im Museum, eine Anzeige von Intellektuellen in der FAZ: Genau am Jahrestag der Befreiung von Auschwitz wurde die Flick Collection zum Ziel von gleich zwei Attacken. (taz vom 28.1.2005: www.taz.de / pt / 2005 / 01 / 28 / a0141.nf / text)

Mit weißer Farbe angeschwärzt. AktivistInnen kippen Dispersionsfarbe vor den Eingängen der Flick Collection aus - pünktlich zum Jahrestag der Auschwitz-Befreiung. (taz Berlin lokal vom 29. 1. 2005: www.taz.de / pt / 2005 / 01 / 29 / a0259.nf / text)


++++++++++++++++++++

»ich hätte von dem negativ gerne einen abzug«

rezension

Wenn schon die Mehrheit der Erwachsenen nichts mehr vom Kommunismus bzw. der Notwendigkeit desselben wissen will, dann muss er eben mit den Kindern diskutiert werden. Eine naheliegende Idee?! Bini Adamczak liest seit einiger Zeit auf verschiedenen linken Veranstaltungen ihre »kleine geschichte, wie endlich alles anders wird« unter dem Titel »Kommunismus für Kinder« vor, womit die Programmatik deutlicher wird als in der abgewandelten Fassung des Buchtitels. Aus einer reflektierten Perspektive und vor dem Hintergrund der Kenntnisse der kritischen Debatten um die Kritik der politischen Ökonomie wie der Geschichte des praktischen Communismus versucht die Autorin, auf vermeintlich kindliche Weise zu erklären, was Kapitalismus ist und was bzw. wie Kommunismus sein könnte.

»Kommunismus« gilt für die VErwachsengewordenen der revolutionsromantischen Kindheitsjahre der 19 sixties seit langem nur noch als peinliche Utopie. Die Kinder, welche die Kinder jener peinlichen »Revolution« entlassen haben, wissen erst mal nur eins: die »kleine Kulturrevolution« und große Konterkulturrevolution ihrer Eltern, »die ihre Jugend verraten haben« (Walter Benjamin), verursacht ihnen Übelkeit. »Wenn ... Linke der älteren Generationen ihre ganze Wut gegen das Projekt richten, dem sie so viel Lebenszeit geopfert haben, auf das sie alles gesetzt haben, und das ihnen dennoch nie den Sieg, aber viele Niederlagen bescherte: (...) was für eine heftige Wut! Praxis ist nicht nur nicht möglich, sie darf auch nicht mehr möglich sein. Nie wieder soll es zu so einer Enttäuschung kommen (...)« (Adamczak in: diskus 2.03).

Genauer könnte die Diagnose von seiten jener »Kinder« kaum sein, die diese ihre deutsche Elterngeneration am besten kennen, eine Generation, der Gerhard Schröder aus dem Herzen sprach: »Wir waren gemeinsam an der Planung der Revolution beteiligt, die wir heute gemeinsam verhindern.«

Waren die großen Erzählungen vom Communismus mumifiziert, mit der Eiszeit des sozialdemokratischen Zeitalters nach und nach fossiliert und mit dem Blairismus-Hartzismus gerade noch einmal »endgültig« witwenverbrannt, krabbeln jetzt plötzlich neue, kleine Erzählungen wie alles anders wird herum: »Schon einige Steinwürfe entfernt könnten die großen Worte wieder die angemesseneren sein. Die Revolution kann auf Coolness verzichten.« (diskus 2.03). Doch der Antikommunismus der Ohnmacht hat sie historisch oder einfach intuitiv belehrt, dass nichts tödlicher als communistisches Pathos sein kann. So halten sie sich einstweilen mit äußerster Umsicht und Scheu im Schattenreich des Pop – dieser trügerisch-künstlichen Zwielichtregion zwischen Pastiche und Parodie der herrschenden Kultur des kapitalistischen Unbehagens – auf; diese Nocturnen einer party-generation, mit der die (und die mit der) Generation der Parteien zum historischen Glück nichts mehr anfangen kann.

Was alle möglichen »Expertinnen«, Sozialwissenschaftlerinnen und »Kennerinnen« dieser unserer Gesellschaftsordnung nicht mehr sehen (wollen), was aber aus kindlicher, unmittelbarer Sicht nicht zu übersehen ist, ist in Adamczaks Erzählung der spezifische Charakter der Produktion der Waren, die den Kapitalismus ausmacht. Aus der Perspektive »des Kindes« scheint es noch möglich zu erkennen, dass das entscheidende Herrschaftsverhältnis im Kapitalismus der Zwang zur (Lohn-)Arbeit ist. Entsprechend drehen sich auch die Aufhebungs-, also Communismusversuche letztendlich darum, wie die gesellschaftliche Arbeit bzw. die Produktion insgesamt anders organisiert werden soll.

Allerdings gibt es mehrere Anläufe, und die ersten fünf Versuche des Kommunismus scheitern an ihrer Einseitigkeit, weil sie entweder (Versuch 1 und Versuch 3) in Staatskommunismus münden (es versteht sich von selbst, dass der Unterschied zwischen Sozialismus und Kommunismus für Kinder nachrangig ist) und deshalb Herrschaftsverhältnisse bleiben, oder (Versuch 2) weil die Menschen zwar gesellschaftlich produzieren, aber die Marktverhältnisse, also Wert-, Austausch- und Geldverhältnisse beibehalten und sich das binnen kurzem unmittelbar wieder auf ihre Produktionsverhältnisse auswirkt, die alsbald wieder die alten werden, oder (Versuch 4) weil die Menschen dem Maschinenfetisch komplett aufsitzen und meinen, sie seien nur dann frei, wenn nicht sie sondern die Maschinen arbeiten, oder (Versuch 5) – nach diesem Versuch konsequent – weil sie die Dinge (und auch die Maschinen?) stürmen und zerstören, damit sie nicht mehr »von ihnen« beherrscht werden.

Beim sechsten – gelingenden – Versuch werden dann endlich die Produktions- und Verkehrsverhältnisse befreit und von allen Menschen selbst bestimmt. Die Befreiung liegt in der Selbstbestimmung auch der Arbeit, die keineswegs einfach und gemütlich oder widerspruchslos ist: »Das ist nicht wenig, was sich die Menschen da vorgenommen haben. Aber so viel ist es nun auch wieder nicht. Vor allem aber treffen sich die Menschen jetzt ständig, denn sie müssen über alles selbst diskutieren und wollen keine Entscheidung mehr irgendwelchen Topfmenschen überlassen, die es auch gar nicht mehr gibt. Stattdessen verändern sie selbst alles. So oft sie wollen.« Die Menschen machen jetzt – in aller Freiheit und erfreulichen Unterschiedlichkeit – ihre Geschichte endlich selbst. Dies der einleuchtende und erfrischend unzeitgemäße Teil der Erzählung.

Eher dem Zeitgeist verhaftet scheint Adamczaks Umgehen des Problems der Gesellschaftsklassen im Kapitalismus. Als wesentlicher Unterschied zwischen Feudalismus, also der Zeit, in der noch die Königinnen und Prinzessinnen regierten, und dem Kapitalismus, wird zunächst richtig die Herrschaft der Dinge festgehalten. »Das ist natürlich nicht im wörtlichen Sinne gemeint, denn selbstverständlich können Dinge gar nichts tun, schon gar nicht einen Menschen beherrschen, denn es sind ja nur Dinge. Es sind ja auch nicht alle Dinge, die die Menschen beherrschen, sondern nur ganz bestimmte oder besser: eine ganz bestimmte Form der Dinge.« Diese Form bekommen die Dinge durch die kapitalistische Produktions- und Vergesellschaftungsweise und die ihr entsprechenden Herrschaftsverhältnisse.

Dass die Menschen in dieser Gesellschaft zwar alle, aber nicht alle in gleicher Weise dem Kapitalverhältnis unterworfen sind, dass dieses Verhältnis also sich klassenförmig gestaltet, findet man nicht in Adamczaks Erzählung. Folgerichtig ist bei ihr die Aufhebung des Kapitalismus und die Einführung des Communismus auch kein Prozess sozialer Auseinandersetzungen, gar Klassenkämpfe, sondern folgt dem rationalen Beschluss der von einer (Unterkonsumtions-)Krise betroffenen Menschen. Die Revolution findet gewissermaßen auf dem Abenteuerspielplatz eines fiktiven »herrschaftsfreien Diskurses« statt.

Was in der »kleinen geschichte wie alles anders wird« dergestalt als Blinder Fleck bleibt, offenbart seinen theoretischen Grund in BA.s großem »Epilog«, wo der künstliche, anregend durchspielerische »Kinderbuch«-Horizont wieder über- (oder hinter?-)schritten wird, wo – sozusagen »jetzt aber mal im Ernst unter uns Großen« – das Wort an alle (vermeintlich) mit den großen Theorien von Marx, Adorno e.a. Erwachsengewordenen und an alle mit den akademischen Verbindlichkeiten des »Postmarxismus« und der »Gender Studies« Initiierten gerichtet wird. Schon der Untertitel »zur konstruktion eines kommunistischen begehrens« kündigt ihr »radikal« konstruktivistisches Credo an. Der Konstruktivismus aber wird hier – und das ist das eigentlich neuartige, anregende Moment dieses Versuchs – auf das alte Transformationsgesellschaftsproblem des wissenschaftlichen Communismus »angewandt«. In der uneigentlich-poppigen Verpackung als »kleine geschichte« für »Kinder« ist also ein alles andere als bescheidener Anspruch versteckt, und dieser greift dann wiederum doch noch einmal auf eine Art »Großtheorie« zurück, an die er sich klammern zu müssen glaubt. Wir meinen den eigentlichen theoretischen Kern von B.A.s Erzählexperiment: eine bestimmte, noch einmal radikal-konstruktivistisch überbotene Postone-Adaptation.

Weder der spezifisch konstruktivistische Ansatz noch die – im »Epilog« tatsächlich auf zweieinhalb Seiten von B.A. komprimiert wiedergegebenen! – Essentials von Postone’s »Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft« können an dieser Stelle auch nur andeutungsweise angemessen kritisiert werden. (siehe auch: webpage von theorie praxis lokal)

U. E. verdunkelt die Autorin der »kleinen geschichte« sich durch diesen »Epilog« gerade das bis dahin so transparent Gemachte, wird doch in einem sekundär-naiven Realismus bis dahin erzählt, dass und wie »die« Menschen durch ihr vorab gesamtgesellschaftlich planendes Zusammenspiel die Arbeit transformieren lernen – als tastender, durch Irrungen und Wirrungen zu einer bewussten gesellschaftlichen Synthesis gelangender Emanzipationsprozess mit ungewissem Ausgang – wo zum Schluss hin genau so viel klarer geworden ist: dass die Arbeit der Individuen weder kapitalistisch noch staatssozialistisch formbestimmt, d.h. fremdbestimmt und damit unter die Teilungen der gesellschaftlichen Arbeit subsumiert, individuell verknechtet bleiben muss, noch dass sie einfach »abgeschafft« werden kann (sehr wohl aber ihre Warenform als Lohnarbeit, moderne Lohnsklaverei), noch dass eine Befreiung und Befriedigung der individuellen Bedürfnisse- und Kreativitäts-Vielfalt ohne Befreiung von den konkreten wie abstrakten Formprägungen der Arbeit unter den historischen Bedingungen der Herrschaft von Menschen über Menschen als gesellschaftliche (statt naturwüchsige) Leistung denkbar und machbar ist. Darüber hinaus, dass die Befreiung der Menschen von ihren gesellschaftlich überkommenen Zwangsformen mit der Befreiung der menschlichen Arbeit von ihren historisch längst unnötigen Unlust-Momenten und blind-gesellschaftlichen Reglements einhergehen muss und kann.

Die ästhetisch-literarische Erzählung »für kinder« bewegt sich damit, ohne dass die Autorin es womöglich weiß und zugeben will, viel näher und plastischer entlang den nach wie vor wegweisenden, unabgegolten aktuell anregenden fragmentarischen »Grundrissen« von Karl Marx, als die großtheoretischen Rückgriffe und -schläge im draufgesetzten »Epilog«, dem »erwachsengewordenen« falschen Bewusstsein des vorübergehend »postmarxistischen« Zeitgeistes Rechnung tragend, kenntlich werden lassen.


Was wir hier vom »erwachsenen« Aspekt her als Regression empfinden mögen, erweist sich allerdings in der Resultante – vom Aspekt des uneigentlich »Kindlichen« – als zeitbedingte List. Zeigt sie doch so oder so: das staatsregulatorische Konstrukt »die Menschen« – das funktioniert als VErwachsenenVerhartzung bei Klassen- und Eigentumsfragen-Ausblendung mit Sicherheit nicht. Dagegen »kommunismus für kinder« geht erst, wenn »die menschen« nicht mehr »funktionieren« und konkurrieren, wie es eine Große Geschichte ihnen vorschreiben will, sondern ihr gesellschaftliches Begehren als selbstgemachte Geschichten und gesellschaftliches Abenteuer selbstbewusst definieren. Kleine und Große Geschichte schließen subjektivitätstheoretisch ganz realistisch: »Wenn der Rahmen des Machbaren auch das Wünschbare begrenzt, dann wäre das Wünschen schon wünschenswert.« Während hier der Epilog im Subjektivismus steckenbleibt, ist die kleine geschichte zum Glück schon zum Spiel mit den Optionen communistischer Produktion und Verteilung weitergegangen – über die kinderbüchenen Zeiten hinaus, als das Wünschen noch geholfen hat.


Nadja Rakowitz, Peter Christoph

(THEORIE PRAXIS LOKAL Frankfurt)


(Ausführliche Kritik auf der website von theorie praxis lokal: unter: http://sozialistische-studienvereinigung.frankfurt.org unter: Archiv / Die Abenteuer des Übergangs / Communismus für Kinder und Postonismus für Erwachsene? —Postone-Kritik unter: Archiv / Texte zu Veranstaltungen / Bericht vom Postone-Lektürekurs)

Bini Adamczak, KOMMUNISMUS. kleine geschichte, wie endlich alles anders wird, Münster 2004, Unrast Verlag, 78 Seiten.


++++++++++++++++++++

Antisemitismus vor 1933 aus »jüdischer« Sicht

rezension

Über die Bedeutung des Antisemitismus vor und nach dem Nationalsozialismus wird wieder diskutiert. Zwei historiografische Veröffentlichungen versuchen, sich dem Phänomen vor 1933 aus »jüdischer« Sicht anzunähern: Cornelia Hecht analysiert die »jüdische« Presse der Weimarer Republik, Ludger Heid erzählt die Biografie des einzigen zionistischen Sozialisten dieser Zeit Oskar Cohn. Beide Veröffentlichungen kommen zu einem ganz anderen Schluss als die bisherige historische Forschung: »Niemals zuvor«, schreibt Hecht, sei der Antisemitismus in Deutschland »so vehement und radikal auf[getreten] wie in jenen vierzehn Jahren«.

Die nahe liegende Methode, Judenfeindschaft aus der Sicht der Betroffenen einzuschätzen, erweist sich für die Weimarer Republik als trügerisch, denn gerade die eigene Betroffenheit konnte zu Verdrängung oder Bagatellisierung des Problems führen. Aber noch etwas anderes macht Hechts Analyse deutlich: Von einer einheitlichen jüdischen Sicht lässt sich gar nicht sprechen; vielmehr macht sie drei verschiedene »Deutungskulturen« aus: die Mehrheitsposition des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der von einer baldigen vollständigen »Assimilation« ausging und eine zionistische Position einer »jüdischen Nationalität« scharf zurückwies; die zionistische Position, die die Jüdische Rundschau vertrat; und als Extrem die Position der »nationaldeutschen Juden«, die sich in ihrem Mitteilungsblatt eher den rechten deutschen Parteien verbunden fühlten und andere jüdische Gruppierungen »für die Zunahme antisemitischer Ressentiments mitverantwortlich« machten. Obwohl vorrangig mit der Aufbauarbeit eines jüdischen Staates in Palästina beschäftigt, reagierte die Jüdische Rundschau auf die Bedrohung in der Weimarer Republik am hellsichtigsten. Als es im November 1923 im Berliner Scheunenviertel zu einem mehrtätigen Pogrom kam, titelte die Jüdische Rundschau: »Schicksalsstunde des deutschen Judentums«. Mit »allen zu Gebote stehenden Mitteln«, forderte sie, sei zu »verhindern, dass diese Ausschreitungen als ›Ostjudenpogrom‹ und nicht als ›Judenpogrom‹ gedeutet wurden«.

Um die »Judenfrage« aus einer jüdisch-zionistischen Sicht geht es auch in Ludger Heids Biografie zu Oskar Cohn. In den Anfangsjahren der Weimarer Republik hatte Cohn noch eine sozialistische und eine zionistische Position für vereinbar gehalten. Aber bald schon zog er sich aus der Parteipolitik zurück. Ab 1924 wirkte er nur noch innerhalb der Jüdischen Gemeinde in Berlin und in zionistischen Organisationen. Entgegen einer Darstellung, wonach Cohn sich »freiwillig« aus der Politik zurückgezogen habe, vermutet Heid, dass »die persönliche Erfahrung des Antisemitismus Cohn veranlasste, die Parteipolitik aufzugeben«. Anfang der dreißiger Jahre bereitete Cohn seine Übersiedlung nach Palästina vor. 1933 musste Cohn nach Genf fliehen, wo er 1934 starb. Beigesetzt wurde er nach seiner testamentarischen Bestimmung im ältesten Kibbuz Palästinas in Degania.

Beide Veröffentlichungen machen deutlich, wie schwer greifbar Antisemitismus ist. Denn sie zeigen, dass bereits vor 1933 die weite Verbreitung antisemitischer Denkweisen und Einstellungen in der deutschen Gesellschaft zu einer Verdrängung des Problems auch bei den Betroffenen führte – oder, wie bei Oskar Cohn, zu einem Verschwinden aus dem öffentlichen Raum. Und beide Veröffentlichungen sind deswegen wichtig, weil sie in Erinnerung rufen, was nach 1933 endgültig zum Verschwinden gebracht werden sollte.

Olaf Kistenmacher

Cornelia Hecht: Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik, Bonn 2003.

Ludger Heid: Oskar Cohn. Ein Sozialist und Zionist im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main/New York 2002.


++++++++++++++++++++

der »aufstand der anständigen« schlägt wieder zu: haGalil hat probleme

haGalil onLine steht vor seinem Aus. Die bisherige Förderung aus einem Topf des »Aufstands der Anständigen« fällt überraschend weg. Damit ist das seit mittlerweile 10 Jahren aktive Bildungsangebot massiv in seiner Existenz bedroht.

Seit 1995, also seit Beginn der breiten Nutzung des Internets, hat sich haGalil der immer stärker werdenden nazistischen und antisemitischen Nutzung des Mediums entgegengestellt. Im Laufe der Jahre entwickelte haGalil modellhafte »Gegenstrategien zur rechten Propaganda im Internet«. Dieses zivilgesellschaftliche Engagement entsprang der Erkenntnis, dass wir es nicht zulassen können, dass gerade das Internet, das Medium der Zukunft, als Hauptpropagandamittel der Rechten missbraucht wird. Es galt »verlorene Räume zurückzuerobern«.

Antisemitismus, Antizionismus und Hetze im Internet, müssen im Internet und mit den Möglichkeiten des Internets bekämpft werden. haGalil setzt dies auf drei strategischen Ebenen um.

Am wichtigsten ist uns die Schaffung eines massiven Gegengewichts durch aufklärende Inhalte. Nach dem Prinzip 100 Seiten Wahrheit gegen jede Seite Lüge und Hass, konnten wir die nazistischen Webseiten von den vorderen Suchmaschinenrängen verdrängen. Während noch 1996 auf Suchanfragen wie »Judentum, Koscher, Schabath, Schächten« u .ä. vorrangig rechtsextreme Propagandaseiten auftauchten, ist dies heute anders. haGalil steht heute wie ein Schutzwall vor der beständig steigenden Flut antisemitischer Hetze im Internet. Unser zweiter Ansatz nutzt die kommunikativen Möglichkeiten eines lebendigen Onlinedienstes, denn die besten Vorraussetzungen für Verständigung sind Begegnung und objektive Information. Wir wissen längst, dass Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit gerade dort am meisten verbreitet sind, wo die wenigsten Juden / Jüdinnen leben. Für eine Jugendliche in Brandenburg ist haGalil oft die erste und einzige Möglichkeit, mit Juden / Jüdinnen in einen Dialog zu treten. Unser dritter Ansatz nutzt die juristische Komponente. Schon 1997 haben wir das erste Meldeformular für NS-Seiten ins Netz gestellt.

Natürlich wirken diese Aktivitäten auch in Bereiche außerhalb der neuen Medien. So wurde beispielsweise die antisemitische Hetzrede des ehem. CDU-MdB Hohmann erstmals über unser Meldeformular »aktenkundig« und erreichte erst über haGalil onLine auch andere Medien und die breite Öffentlichkeit, der Ausgang dieser Affäre ist bekannt. Auch auf die Tatsache, dass antisemitische Gewalttäter / innen in Komplizenschaft mit der schweigenden Mehrheit heute - in aller Öffentlichkeit - wieder Existenzen ruinieren können, musste erst haGalil am Beispiel eines koscheren Lebensmittelgeschäfts hinweisen. Der Besitzer dieses Imbissladens ist nach anhaltenden antisemitischen Attacken mittlerweile nach Israel ausgewandert. Diese Beispiele unterstreichen, dass es gefährlich wäre in der Erkennung und Bekämpfung des Antisemitismus auf jüdische Beteiligung, Erfahrung und Entschlossenheit zu verzichten, auch wenn – oder gerade weil - es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt.

Antisemitismus im Internet war im vergangenen Jahr Thema von drei OSZE Konferenzen, auf zwei von ihnen, in Berlin und Paris, konnte haGalil seine Arbeit vorstellen. Die Dringlichkeit des Themas wurde auch von der Bundesregierung mehrfach betont. Sicherlich fördert entimon eine ganze Reihe von Projekten gegen Antisemitismus. »haOr« ist dabei jedoch das einzige, das sich mit Antisemitismus im Internet beschäftigt.

Heute steht haGalil vor dem finanziellen Aus. Nach dreijähriger Förderung durch entimon, ein Programm, das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des »Aufstands der Anständigen« initiiert wurde, wurde diese überraschend eingestellt. Der formale Vorgang eines Trägerwechsels, der aufgrund anhaltender Auseinandersetzungen mit dem bisherigen Trägerverein Tacheles reden! e. V. nötig wurde, gab den Anlass. Die Ablehnung wird bürokratisch formal begründet. Dabei stellt das Ministerium den Träger über das Projekt. Nicht das Projekt wird als erhaltenswert angesehen. Statt dem notwendigem Trägerwechsel, schlägt man lieber vor, haGalil solle sich mit dem alten Träger einigen. Der hat nur mittlerweile per Einschreiben mitgeteilt, dass er zu keiner weiteren Zusammenarbeit bereit ist. Die Mitarbeiterinnen des Ministeriums verweisen außerdem darauf, dass Tacheles reden! e. V. nicht haGalil, sondern »haOr – Licht. Bildung gegen Antisemitismus« als Projekt angegeben habe. Die Haarspalterei entpuppt sich spätestens beim Blick in die Projektbeschreibung als überflüssig. Dort heißt es beispielsweise für 2004: »Ziel des Projekts ›haOr – Licht. Bildung gegen Antisemitismus‹ ist auch im Jahr 2004 die Sicherung und der Ausbau der redaktionellen Tätigkeit von Hagalil«. Die Förderung von »haOr« schließt also die Förderung von haGalil explizit ein.

Immer wieder heißt es von Seiten des Ministeriums, dass haGalil als kommerziell eingestuft wird. Welchen kommerziellen Erfolg kann man hinter haGalil vermuten? Die Werbeeinnahmen durch Banner sind minimal und haben beispielsweise 2004 nicht annähernd dazu gereicht, die zahlreichen einstweiligen Verfügungen und Prozesskosten abzudecken, mit denen wir von rechten Anwältinnen überzogen wurden. Wenn amnesty international eine Anzeige abdruckt, zweifelt auch niemand an deren unkommerziellen Absichten. Wieso dann in diesem Fall? Sollen wir als erstes nach einem kleinen Obulus fragen, wenn die Lehrerin einer Gesamtschule aus Wolgast eine Auskunft will? Wieviel Geld wird ein Vierzehnjähriger hinblättern, der wissen will, warum die Juden gegen Hess eingestellt sind. Wird uns ein Mann, der sich als »deutscher Zahnarzt und Steuerzahler« vorstellt, Geld bezahlen, wenn wir ihm endlich mal die Frage beantworten, »wie 6 000 000 Juden umgekommen sind, wo doch im Reichsgebiet keine 600 000 lebten?« Auch die Hauswirtschaftsschülerin die fragt, wo Sie denn Matzen für jüdische Patientinnen bekommen kann, wollen wir auch in Zukunft nicht abweisen.

Im kommunikativen Bereich wurden von 68 754 Beiträgen zu den Diskussionsgruppen 42 480 Forumsbeiträge veröffentlicht. Die Chaträume waren ca. 1 830 Stunden lang geöffnet. In München und Tel Aviv wurden 2 184 Telefonanrufe angenommen sowie ca. 28 000 Emails bearbeitet und 12 876 Emails beantwortet. Von ca. 4 000 eingegangenen Meldungen im Meldeformular wurden 120 zur Anzeige gebracht. Kommerziell? Wir haben dafür keinen Cent verlangt.

Und wir möchten das auch weiterhin nicht tun!

Wir könnten uns beispielsweise der Praxis anschließen, die viele Internetdienste und große Zeitungen mittlerweile fahren. Die tagesaktuellen Nachrichten sind frei zugänglich, die Nutzung des Archivs ist kostenpflichtig. Wenn wir dies tun, dann wird der Schutzwall in den Suchmaschinen, den haGalil über 10 Jahre hinweg aufgebaut hat, eingerissen. Soll die Information in haGalil zum Thema »Schächten«, »Nahost«, »Was steht im Talmud«, »Was treibt der Jude an Purim« in ein geschlossenes Verzeichnis verschwinden, soll nur noch das Nationaljournal, Horst Mahler und die NPD ihre Informationen zu jüdischen Themen kostenlos unters Volk bringen?

Andrea Livnat

website: www.hagalil.com


++++++++++++++++++++

immaterielle arbeit und imperiale souveränität

rezension

Zweifellos haben Michael Hardt und Toni Negri mit ihrem gemeinsamen Buch »Empire« einen beachtlichen Coup gelandet. Ein Coup ex post, denn nicht einmal sie selbst hatten mit dem großen Erfolg gerechnet, den ein Werk, das den Spuren von Michel Foucault, Gilles Deleuze, Karl Marx, Spinoza und den italienischen Operaisten folgt, auch kaum erwarten ließ. Den Autoren erging es dabei auch nicht anders als dem 1. FC Bayern München: Gut gespielt, aber von allen gehasst. So wurde das »kommunistische Manifest« unseres Zeitalters, wie Slavoj Zizek es genannt hat, hierzulande als Hype abgetan, als neoliberales Machwerk verunglimpft oder als Wahnsinn gebrandmarkt. So sah Jörg Lau in »Empire« »eine einzige große Geschichtsklitterei im Dienste altlinker Gewissheiten« am Werk (ZEIT 22 / 2002), während Uli Brand nur erstaunt zu Protokoll gibt, dass das »Einreißen historisch erkämpfter sozialer Rechte und Sicherungssysteme willkommen geheißen« wird (Argument 245 / 2002). Weiter auseinander können Einschätzungen wohl nicht liegen, und dennoch liegt die Wahrheit nicht in der Mitte. Das tut sie nie.

Der »Hype« jedenfalls, von dem sich die Mehrzahl der Rezensionen abgrenzte, muss irgendwo im Ausland stattgefunden haben. Ein Überblick über die Rezeption in Deutschland vermittelt ein anderes Bild. Es erinnert eher an jene Hysterie, mit der ? vor allem in linken Kreisen ? auch den Arbeiten Michel Foucaults und später Judith Butlers begegnet wurde. War Foucault für jemanden wie Habermas einfach ein Jungkonservativer, so schien Butlers Absage an die Unterscheidung zwischen sozialem und biologischem Geschlecht die Grundlage des Feminismus zu untergraben. Auch »Empire« steht für einen grundlegenden Perspektivwechsel im Denken des Politischen. Vielen der Reaktionen war anzumerken, dass sie Symptome eines Abwehrkampfs waren, in dem bestimmte tradierte Politikkonzeptionen sich noch einmal ihrer eigenen Kohärenz versichern wollten. Der postmoderne Unsinn erschien da als ideale Projektionsfläche.

Nur eine Minderheit setzte sich mit den in Empire vertretenen Thesen wirklich auseinander, ohne sie gleich zu verdammen. Das kleine Archipel der empirefreundlichen Publikationen hat seine eigene Genealogie. Zu ihm gehören unter anderem die Zeitschrift Beute, ihre Nachfolgerin, die ebenfalls mittlerweile eingestellte jungle world-Beilage Subtropen, die Verlage ID und b_books, der diskus sowie einige einzelne Autorinnen und Autoren und Gruppen wie etwa no spoon (www.niatu.net/nospoon). Aus diesem theoriepolitisch-publizistischen Umfeld kommt auch der Sammelband »Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität«, der zum ersten Mal Beiträge zu einer seriösen Auseinandersetzung mit »Empire« zusammenstellt. Der von Thomas Atzert und Jost Müller herausgegebene Band enthält freilich nicht nur Texte aus dem deutschsprachigen Raum, sondern auch aus Europa und Nordamerika. Damit scheinen auf den ersten Blick zugleich die Grenzen der globalen Debatte gezogen zu sein. Es wäre aber sicher interessant, einmal Beiträge z. B. aus Lateinamerika zu diskutieren, etwa von der argentinischen Gruppe colectivo situaciones, die sich in ihren Arbeiten auf die Konzepte beziehen, die in Empire entwickelt werden1. Bemerkenswert an deren Ansatz ist, dass sich ihre Arbeit vor allem auf die Erfahrungen des argentinischen Aufstands vom Dezember 2001 beziehen, während die Debatte in Deutschland, so sie überhaupt stattfindet, theoretischer Natur bleibt.

Auch der vorliegende Band beschreitet hier keine anderen Wege, was freilich nicht den Herausgebern, sondern den Verhältnissen anzukreiden ist.

Er enthält Arbeiten zur Geschichte der Massenintellektuellen von Jost Müller und der »Diggers«, einer kommunistischen Bewegung des 17. Jahrhunderts in England, von Francois Matheron, Untersuchungen konkreter Felder immaterieller Arbeit, wie der von Nick Dyer-Witheford, der eine Analyse der Computerspiele-Industrie vorlegt sowie philosophisch wichtiger Bezugsgrößen wie Spinoza von Warren Montag.

Während die eine Hälfte der Autoren die in »Empire« verwendeten Begriffe und Theoreme eher anwendet und damit ihre theoriepraktische Tauglichkeit prüft, diskutiert die andere sie kritisch und kontrastiert sie mit theoretischen Alternativen. Letztere könnte man auch als Debattenbeiträge bezeichnen.

Die Aufsätze von Thomas Seibert und Frieder Otto Wolf setzen sich überdies mit der eingangs erwähnten Abwehrhaltung auseinander. Unter dem etwas seltsamen Titel »Empire oder was« plädiert Wolf dafür, eine »konstruktive kritische Auseinandersetzung« mit Hardt und Negri zu suchen. Adressiert ist dies an eine Linke jenseits eines strategisch integrationsfähigen Reformismus einerseits und einer »revolutionaristischen Selbstisolierung« andererseits. Denn »Empire« stelle Fragen, auf die eine zeitgemäße Politik der Emanzipation Antworten zumindest suchen muss, etwa die nach der globalen Ebene einer Gegenmacht, die aber im Sinne einer Hollowayschen Anti-Macht organisiert sein müsste. Die Grenzen eines fröhlichen Ekkletizismus sind damit aber erreicht, denn Holloway denkt den Ort der Gegenmacht außerhalb der Zitadellen der Macht, während in der Theorie des Empire die widersprüchliche Einheit von Korruption und Generation Verlaufsformen der Menge darstellen. Im Grenzfall sind Empire und Multitude identisch.

Seibert wiederum skizziert die Fluchtlinien von Ökonomie- und Metaphysikkritik, deren Verbindung in »Empire« er für die massiven Widerstände verantwortlich macht. Der darin artikulierte Vorwurf des Ekkletizismus, der Inkohärenz, verkenne aber den Charakter philosophischer Begriffe, die Problematisierungen nicht abschlössen, sondern überhaupt erst eröffneten, so Seibert. Vor allem aber das Bekenntnis der beiden Autoren, sie orientierten sich an Marx’ Kapital und »Mille Plateaux« von Gilles Deleuze und Felix Guattari gleichzeitig, ruft all jene auf den Plan, die darin das Projekt einer »Zerstörung der Vernunft« in der Tradition von Heidegger am Werke sehen. Diese Schlachtordnung läuft auf jenen Gegensatz hinaus, der in Deutschland zwischen Kritischer Theorie und Poststrukturalismus aka Postmoderne gerne konstruiert wird. Seibert zeigt aber, dass Hardt und Negri sich diesem Gegensatz zu entziehen vermögen. Von feministischer Seite wurde wiederholt die Unsichtbarmachung der geschlechtlichen Arbeitsteilung im Konzept der immateriellen oder affektiven Arbeit kritisiert, etwa von Susanne Schulz in der Zeitschrift Argument. Ausgehend von hier rekonstruiert Cornelia Eichhorn die feministische Debatte um Hausarbeit, ihre Entlohnung und die sogenannte Hausfrauisierungsthese, um Bezüge zu der aktuellen Diskussion um »Affektive Arbeit« herzustellen. Der Begriff ermögliche zwar die Reartikulation der feministischen Kritik an einem verkürzten, auf Lohnarbeit reduzierten Arbeitsbegriff, dürfe aber nicht die »Bedingungen ihrer Organisation und Strukturen ihrer Verwertung« verschweigen, in denen sie sich realisiert. Ihre Kritik verbindet sie aber nicht mit dem Plädoyer für eine Rückkehr zu den binären Oppositionen zwischen Produktions- und Reproduktionsarbeit, privat und öffentlich oder Freizeit und Arbeit. Es geht also nicht um »veränderte Grenzziehungen« oder bloße »Verschiebungen innerhalb binärer Systeme«, sondern um gänzlich neue Formen der Arbeitsteilung, die auch neuer Kämpfe bedürfen. Die Kritik von Alex Demirovic schließlich ist zwar freundlich, aber grundlegend. Weder könne von einer imperialen Souveränität jenseits der Nationalstaaten gesprochen werden, das habe die unilaterale Politik der Bush-Administration gezeigt, noch sei auf lokale bzw. nationale Kontexte ausgerichtete Politik obsolet, hätte doch eine von einem Präsident der demokratischen Partei geführte US - amerikanische Regierung, sicher eine andere Linie verfolgt. Auch die im Fordismus gewonnenen Emanzipationskriterien, wie der positive Bezug auf Differenz, seien zu verteidigen, auch wenn sie durch den Neoliberalismus scheinbar in den Dienst der Unterdrückung gestellt wurden. Die Kämpfe gegen den Essentialismus der Identität, so Demirovic, müsse man auch als von der Menge ausgehend analysieren, ohne sie von vorneherein auf der Seite der Macht zu verorten. Mit Bezug auf die kritische Theorie verteidigt er schließlich den Begriff der Vermittlung, der nicht gegen Immanenz gerichtet sei, wie Negri und Hardt annähmen, er moderiere vielmehr den Zugriff des »Ganzen« auf die einzelnen, wodurch »Hindernisse und Verzögerungen«, schließlich Autonomie entstünden. Das Gegenteil also von unmittelbarer Gewalt. Gegen ein solches Verständnis, nachdem der Kern des Staates Gewalt sei, spricht aber, was Demirovic selbst vor zehn Jahren in seiner Kritik an Poulantzas formulierte, nämlich dass damit der »Staat selbst aber nicht als ein Element sozialer Auseinandersetzungen verstanden (wird), das in diesen selbst produziert wird« (in kultuRRevolution Nr. 22, 1990).

Die Frage ist auch, ob es so etwas wie eine Autonomie »der Gesellschaft« gegenüber der Menge gibt und ob daraus die Notwendigkeit einer Vermittlung durch Instanzen folgt. Hardt und Negri verfielen, so der Vorwurf, einer »Ideologie der direkten Demokratie, so als könne sich das gesellschaftliche Leben völlig ungegliedert abspielen«. Demirovic spricht damit ein entscheidendes hegemonietheoretisches Problem an, nämlich die Frage, wie sich gesellschaftliche Gruppen selbst organisieren und ihre Interessen verallgemeinern können, wenn die herkömmliche »Zivilgesellschaft« verschwindet. Anstatt aber dieses Problem mit Begriffen aus dem fordistischen Universum lösen zu wollen, wäre es sicher produktiver, darüber nachzudenken, wie so etwas wie »imperiale« Hegemonie zu konzipieren wäre. Ob der Begriff der Vermittlung dann noch angemessen sein wird, steht auf einem anderen Blatt. Sicher ist aber, dass wir erst am Anfang einer Debatte um das biopolitische Paradigma stehen, die die Beschränkungen, die eine von Foucault diktierte Perspektive auferlegt, noch zu überwinden hat. Es kommt darauf an, einen Unterschied zu machen zwischen Biopolitik und Biomacht, zwischen der Regulierung und Kontrolle von Körpern, Leben und Singularitäten und etwas, das man in Ermangelung besserer Alternativen vielleicht eine Politik der Subalternen nennen könnte, die zum Einsatz »das Leben« (und eben nicht nur: den Staat, die Arbeit, die Unterdrückung etc.) in seinem vollen Bedeutungsumfang hat.

Serhat Karakayali


Thomas Atzert, Jost Müller (Hg.) (2004): Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität. Westfälisches Dampfboot.

~1: In der diskus-Ausgabe 2. 03 gab es eine gekürzte Fassung eines Kapitels aus dem Buch »Que se vayan todos!« von der Gruppe Colectivo Situaciones. Mittlerweile ist ein weiteres Buch mit Texten der Gruppe unter dem Titel »Escrache. Aktionen nichtstaatlicher Gerechtigkeit in Argentinien« auf deutsch erschienen.


++++++++++++++++++++

nach den protesten ist vor der revolution

flugblatt der gruppe k 21 über die aktion »agenturschluss I«

»Die Aufhebung des Privateigentums wird also erst zu einer Wirklichkeit, wenn sie als Aufhebung der Arbeit gefasst wird« (Karl Marx)

Der 3. Januar 2005, monatelang als »Agenturschlusstag« beworben, ist vorbei. Der öffentlich gewordene Zorn über die Härten von Hartz IV hat sich verzogen. Der von Teilen der »radikaleren Linken« erhoffte und staatlicherseits befürchtete Ansturm wutentbrannter ALG-II-Empfänger auf die Ämter blieb aus. Der Bundeswirtschaftsminister kann sich die Hände reiben und davon träumen, 600000 Langzeitarbeitslose in 1-Euro-Jobs unterzubringen. Die Wohlfahrtsverbände freuen sich über die kostengünstigen Arbeitskräfte, die ihnen der Staat zuschanzt.

Dabei werden sie ideologisch von der »veröffentlichten Meinung« flankiert, die von 1-Euro-JobberInnen berichtet, die glücklich darüber sind, ihrem Leben durch Zwangsarbeit wieder einen Sinn geben zu können. An der medialen Oberfläche scheint sich ein breiter gesellschaftlicher Konsens der Unabwendbarkeit der harten »aber gerechten« Auswirkungen von Hartz IV etabliert zu haben. Die Konflikte für die unmittelbar Betroffenen wurden weiter individualisiert. Als Vereinzelte sind sie den Behörden und ihren Kontrolldiensten ausgesetzt. Der Hass und die Kritik bleiben öffentlich und kollektiv unartikuliert.

Als sich im September 2004 eine Bewegung in Form der Montagsdemonstrationen gegen die Hartz-Gesetze formierte, krankte diese seit Beginn an den Positionen ihrer dominanten Akteure. Sozialforen, diverse Gruppen und Organisationen und linke GewerkschafterInnen einte vor allen eins: Die staatlich organisierte Durchsetzung des Kapitalverhältnisses sollte unangetastet bleiben. Sie sollte lediglich »humaner« gestaltet werden.

Skandalisiert wurde der Abbau des Sozialstaates. Hierin bestand der Denkfehler. Denn der Sozialstaat wird keineswegs abgebaut. Vielmehr wird mit den gegenwärtigen Maßnahmen ein sozialstaatliches Netz aus Repression und Kontrolle geschaffen, das wie nie zuvor den Alltag der Individuen bis in die letzte noch verbliebene private Zufluchtsmöglichkeit durchdringt, um den Zwang zur Arbeit effektiver durchzusetzen.

Wer sich also mit der Forderung nach dem Erhalt des Sozialstaats bescheidet, der bejaht den Staat und dessen vornehmste Funktion: den kapitalistischen Verwertungsprozess durchzusetzen. Der Rahmen kapitalistischer Vergesellschaftung wird dadurch nicht verlassen. Klar, dies war auch nicht die Absicht der selbsternannten RepräsentantInnen der Proteste, die Schattenministerinnen spielten. Denn jede Kritik musste »konstruktiv« sein und im von Kapital und Staat definierten Rahmen bleiben. Es wurde keine Forderung formuliert, ohne nicht gleichzeitig brav den Beweis ihrer Realisierbarkeit zu liefern.

Wer solche Feinde hat, braucht keine Freunde, dürften sich die herrschende Klasse und ihr politisches Personal gedacht haben. Natürlich sollen Maßnahmen à la Hartz IV nicht einfach so per Gesetz dekretiert werden. Es bedarf zusätzlich eines öffentlichen Diskurses, in den alle »verantwortungsbewussten« Kräfte integriert sind, um einen gesellschaftlichen Konsens herzustellen. Allen voran tat sich hierbei wieder der DGB hervor, der im vorauseilenden Gehorsam seine Dialogbereitschaft unter Beweis stellte, indem er sich von den Anti-Hartz-Protesten distanzierte und (eigentlich fälschlicherweise) deren Mangel an Konstruktivität kritisierte.

Aber auch diejenigen, denen nichts Originelleres einfiel, als ihren Unmut mit der Forderung nach mehr Arbeit zu verbinden, haben damit ihre Anschlussfähigkeit an den herrschenden Diskurs demonstriert. Denn wer Arbeitswilligkeit artig bekundet, dem soll auch Arbeit besorgt werden. Es fragt sich nur zu welchem Preis. Insofern lagen die Vorstellungen dieser Teile der Anti-Hartz-Protestierenden und jene der herrschenden Politik nicht allzu weit auseinander.

Einige linke Gruppen versuchten, einen Kontrapunkt zu den sozialstaatsnostalgischen Protesten zu setzen, indem sie für den 3. Januar zum Sturm auf die Arbeitsagenturen aufriefen. Auch wenn sich in 80 Städten 15 000 bis 20 000 Menschen an den Protesten beteiligten, kann wohl kaum von mehr als einem symbolischen Erfolg die Rede sein. In der Regel blieb die Trennung zwischen den Initiatoren und den Betroffenen bestehen oder mensch wurde nur als alternative Sozialberatung wahrgenommen. Es scheint mal wieder so gewesen zu sein, als ob die Aktion »Agenturschluss« nur eine weitere Kampagne gewesen wäre, die sich auf einen Tag X konzentriert und dann folgenlos verpufft.

Was tun? Diese Frage stellen sich Sozialrevolutionäre seit über 150 Jahren.

Zunächst einmal ist es notwendig, sich jeder Form »konstruktiver Kritik« zu verweigern, die uns die Institutionen der bürgerlichen Staatsvernunft und ihre willfährigen Helfer und Problemlöser, wie die bürgerlichen Parteien, die DGB-Gewerkschaften und sonstige Konsensmacher, aufzwingen wollen.

Jeglicher Widerstand wird an sich selbst scheitern, wenn er nicht das Regime der Lohnarbeit, jenes falsche Ganze, das Kapitalismus heißt, grundsätzlich in Frage stellt. Alle Kritik ist gegen den eigentlichen Skandal, den kapitalistischen Verwertungsprozess, zu richten. Darauf, dass trotz steigender Produktivität die Ausbeutungsbedingungen verschärft werden.

Objektiv ist immer weniger Arbeit notwendig, um gesellschaftlichen Reichtum zu produzieren. Wir »leben« in einer Gesellschaft, deren oberstes Prinzip die Abpressung von Mehrwert und die Maximierung von Profit und nicht die Befriedigung von Bedürfnissen ist. Daher führt die Steigerung der Produktivität nicht dazu, dass wir von den Fesseln der Lohnarbeit befreit werden und endlich jenen selbstorganisierten Tätigkeiten nachgehen können, die uns wirklich interessieren und die das Leben aller Menschen bereichern.

In den letzten Jahren hat ein neuer Prozess der Deklassierung und Neuzusammensetzung von Arbeiterklasse und »Mittelschichten« eingesetzt, von dem sehr viele Leute betroffen sind. Auch viele »radikale Linke« - für manche eine neue Erfahrung - finden sich mittlerweile selbst auf den unteren Stufen des gesellschaftlichen Arbeitsregimes wieder. Sei es als prekär Beschäftigte, (schein)selbstständige ArbeiterInnen, LeiharbeiterInnen oder 1-Euro-JobberInnen.

Allerdings sollte keine künstliche Trennung zwischen Prekarisierten und tariflich abgesicherten LohnarbeiterInnen vorgenommen werden. Die mit den Hartz-Gesetzen verbundenen Konsequenzen sind nicht als isolierte Attacke gegen die Erwerbslosen zu begreifen, sondern stellen den größten Angriff auf die gesamte Arbeiterklasse seit dem Zweiten Weltkrieg dar: Ein allzeit zur Verfügung stehendes Heer von BilligjobberInnen und ZwangsarbeiterInnen ist die Drohkulisse, um auch die Arbeitsbedingungen in den »sozialpartnerschaftlich« abgesicherten Segmenten des Arbeitsmarktes zu verschlechtern und alle Löhne massiv nach unten zu drücken.

Das System der Lohnarbeit kann nur zerschlagen werden, wenn es von allen Teilen der gesellschaftlichen Fabrik angegriffen wird. Es kommt darauf an, wieder die eigene objektive Stellung im Produktions- und Reproduktionsprozess in den Blick zu bekommen.

Davon ausgehend, müssen alle Möglichkeiten autonomer proletarischer Organisierung ausgelotet werden - unabhängig von den sozialpartnerschaftlichen, d.h. kapital- und staatsfixierten, DGB - Gewerkschaften, aber auch unabhängig von hierarchischen, autoritären, reformistischen und staatskapitalistischen politischen Organisationen. Es gilt, zu Formen sozialrevolutionärer Organisierung zurückzukehren, oder besser gesagt, überhaupt erst mal, damit anzufangen.

Am längsten lebe der Kommunismus!

gruppe k-21


++++++++++++++++++++

Kritische Wissenschaft, Emanzipation und die Entwicklung der Hochschulen

Kongress zu Reproduktionsbedingungen und Perspektiven kritischer Theorie

1.-3. Juli 2005

Universität Frankfurt am Main, Studierendenhaus

Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und vor allem durch zurückkehrende Emigranten konnten sich an den Hochschulen in Deutschland Ansätze kritischen Denkens und kritischer Theoriebildung entfalten. Obwohl in vielen Disziplinen zahlreiche Kräfte dagegen wirkten, gelang es den VertreterInnen kritischer Wissenschaft und kritischer Theorie in den vergangenen Jahrzehnten, sich und ihre wissenschaftliche Arbeit an den Hochschulen zu reproduzieren. Hier konnten sie in wenn auch eingeschränktem Maße Möglichkeiten für autonomes und aufklärendes Denken finden. So trugen zum Ärger konservativer Kräfte die Hochschulen der Bundesrepublik zum demokratisch-kritischen Selbstverständnis mehrerer Generationen von akademisch Qualifizierten bei. Sie konnten in den verschiedenen Disziplinen die wissenschaftlichen Argumente einer kritischen Gesellschaftsanalyse kennen lernen, erarbeiten und in der Diskussion testen. Radikale Demokratinnen, Linke, Aktive aus der Frauenbewegung und den neuen sozialen Bewegungen konnten hier ihr kritisch reflektiertes Selbstverständnis der (west)deutschen Gesellschaft und ihrer Fachgebiete entwickeln.

Mit dem Einsetzen der neoliberalen Hochschulreform werden die Arbeitsbedingungen kritischer Wissenschaft an den Hochschule erheblich erschwert, wenn nicht gar zerstört. Dass dies als Nebeneffekt Vielen willkommen ist, die noch heute gegen die 68er-Bewegung kämpfen, versteht sich. Gesellschaftskritische Ansätze werden zunehmend verdrängt. Die Verdrängung geschieht nicht nur durch eine tendenziöse Berufungspolitik, die durchaus Zeichen eines neuen McCarthyismus trägt. Reaktionäre Wissenschafts- und Personalpolitik wird auch durch Hochschulstrukturmaßnahmen wie bspw. die Streichung gesellschaftswissenschaflicher Fakultäten und Studiengänge, durch Personalpolitik, durch finanzielle Einschnürung der freien Forschung, durch die Überlastung der WissenschaftlerInnen mit Verwaltungsaufgaben, die wissenschaftliches Arbeiten verhindert, oder durch Leistungsdruck vollzogen. Die Spielräume für kritisches Denken wird enger. Gefragt ist verstärkt wieder verwertbares, billiges, technokratisch verfügbares Wissen. Die zunehmend marktförmige Ausrichtung der Hochschulen bedroht die kritischen Wissenschaften wie ihre Möglichkeiten, demokratisierend und kritisch auf die Gesellschaft einzuwirken.

Mit dem Kongress werden folgende Ziele verfolgt:

- Eine Einschätzung der Auswirkungen der neoliberalen Hochschulreform auf kritische Theorie und Wissenschaft

- eine Bestandsaufnahme der Orte kritischer Theoriebildung außerhalb der Hochschulen

- eine Diskussion darüber, wie die Verdrängung kritischer Theorie und Wissenschaft aus den Hochschulen verhindert und durch außerhochschulische Reproduktion kritischer Wissenschaft entgegengetreten werden kann

- eine Vernetzung von Akteuren aus verschiedenen Bereichen der Produktion kritischer Theorie

- ein Anstoß zur weiteren Diskussion über die Perspektiven kritischen Wissens in der neuen Phase des Kapitalismus.


Programm >>>

___________

Freitag, 1.7.

18:00 Uhr: Begrüßung

Einleitung: Heinz Steinert (Frankfurt am Main): Hochschule und kritische Theorie


19:00 Uhr:

Vortrag von Richard Lee (Binghamton, USA): Sozialwissenschaften kaputt denken


_____________

Samstag, 2.7.

Erster Block. Vorträge: »Bildungsbedingungen kritischer Wissenschaft«

10.00 Uhr:

1. Kritische Gesellschaftstheorie im fordistischen und postfordistischen Kapitalismus (Alex Demirovic)

2. Feministische oder andere Zusammenhänge, Institutionalisierung von Frauenforschung und außerinstitutionelle Perspektiven (NN)


Zweiter Block. Vorträge und Diskussion: »Abwicklungen Kritischer Theorie und die Erfahrungen des Neoliberalismus«

12.30 Uhr:

Michael Krätke (Amsterdam): Erfahrungen in den Niederlanden

Bob Jessop (Lancaster): Erfahrungen in England

Jan Spurk: Erfahrungen in Frankreich

15.00 Uhr:

Plenare Diskussion mit den Referenten


Dritter Block Arbeitsgruppen »Materielle Reproduktion kritischen Wissens und Theoriebildung«

17.00 - 19.00 Uhr

Theoriebildung in der Kunst und Kommerzialisierung(Isabel Graw, Gerard Raunig)

Wissenschaftsforschung. Die Auswirkungen der Strukturänderungen auf die Arbeit an den Hochschulen (NN)

Künftige Perspektiven von Wissenschaft und Beruf. Widersprüche und Konfliktlinien des Bolognaprozesses und der Reorganisation der Hochschulen (Torsten Bultmann, Bernd Kaßebaum)

Inside-Out: Alternative Formen und Orte von Wissensproduktion (NN)

____________

Sonntag, 3.7.

10.00 - 12.30Uhr:

Statements und Podiumsdiskussion

Gesellschaftsverändernde Wissenschaft?


Der aktuelle Stand und alles weitere ist nachzulesen unter www.kongress-kritische-wissenschaft.de


++++++++++++++++++++

Innere und äußere Landnahme

die BUKO 28 in hamburg

5. bis 8. mai 2005

Vom 5. bis zum 8. Mai findet der 28. Kongress der BUKO in Hamburg unter dem Motto »Innere und äußere Landnahme« statt. Mit diesem Motto werden Brückenschläge in vielfältige Richtungen beabsichtigt: hin zu den neueren Debatten um Imperialismus und Empire und zu den Fragestellungen von Kolonialismus und Postkolonialismus. Natürlich geht es dabei auch um die Facetten der »Landnahme von oben«, um die vielfältigen Zugriffe des globalisierten Kapitalismus auf Regionen, Territorien, Körper, materielle und immaterielle Ressourcen. Der perspektivische Ausgangspunkt jedoch ist der globalisierte Widerstand gegen diese Zugriffe, der Kampf um selbstbestimmte Kontrolle über die natürlichen und gesellschaftlichen Ressourcen, die Grenzsetzungen von unten gegen den grenzenlosen Verwertungsanspruch und nicht zuletzt die Formen und Praxen einer neuen emanzipatorischen Inbesitznahme. In diesem Sinne soll die BUKO 28 die Bewegungsorientierung und die Thematiken der letzten Treffen genauso mit aufgreifen und weiterdiskutieren, wie die Debatten der jüngsten Konferenzen zu Globalisierung, Kolonialismus, Migration und Prekarität. Die BUKO 28 will nach Querverweisen und Bezügen zwischen den unterschiedlichen Bewegungen um Weltbürgerschaft und soziale Rechte suchen. Strukturiert wird der Kongress durch drei Foren: Forum »Arbeit, Migration und Subjektivität«, Forum »Biopolitik« und Forum »Kolonialismus«.

www.buko.info