Klassenfahrt in die Wiederkehr

 

»Grundwiderspruch: des Kapitalismus ist der zwischen gesellschaftlichem Charakter der Produktion und privater Aneignung des Ertrags. Erlebt jeder Werktätige, wenn er zum Chef geht und um eine Lohnerhöhung bittet (»Nein«).«
Lexikon des Kapitalismus, in: Titanic 8/2005, 8

 

I

Lange Zeit waren sie verschwunden, die gesellschaftlichen Klassen, jetzt scheinen sie wieder langsam aufzutauchen, aber halt, nein, eigentlich taucht nur eine Klasse auf, diejenige, welche den »Klassenkampf von oben« führt, also die Bourgeoisie. Der entdeckte Klassenkampfes von oben ist einerseits ein Globalangriff auf die Rechte der Lohnabhängigen und andererseits die Auflösung der für einige Zeit »normalen« Arbeitsverhältnisse (Flexibilisierung und wie die schönen Worte alle heißen) und damit die scheinbare Auflösung des klassischen Industrieproletariats, welches lange als die Verkörperung des Proletariats schlechthin galt. Somit verlor z.B. der ML-Marxismus nicht nur seinen Bezug zu real existierenden Staatssozialismen, sondern auch die Klasse, auf die er sich bezogen hat, gleich mit. Doch in der Bestimmung des Klassenkampfs von oben geht es nicht minder verlustreich zu. Wer ist denn das ›oben‹? Welche Bourgeoisie hat sich im gegenwärtigen Kapitalismus konstituiert? Neogramscianische Ansätze entdecken eine transnationale Mangager_innenklasse, im Anschluss an Poulantzas wird versucht die innere Bourgeoisie von der Kompradorenbourgeoisie zu unterscheiden. Es ist auf beiden Seiten des Antagonismus unklar, wer oder was sich dort formiert oder eben auch nicht formiert.

Gleichzeitig verbreiterte sich in einigen Kreisen der Linken zudem die Erkenntnis, dass das mit dem Proletariat als revolutionärem Subjekt durch das fröhliche Mitwirken eben jenes am Nationalsozialismus und der Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen so nicht zu halten ist, und dass die Shoah als ›Wendepunkt zur Katastrophe‹ (die »Peripetie«, wie sie Lukacs im Aufsatz Schicksalswende formulierte, den er 1944 schrieb, als die Existenz des Vernichtungslagers Maidanek in der internationalen Öffentlichkeit bekannt wurde) der Weltgeschichte ernst zu nehmen ist. »Auschwitz affiziert alles« (Claussen), so auch Begriff und Existenz des Proletariats.

Mit der Verabschiedung vom revolutionären Subjekt griffen postmoderne Ansätze die Einseitigkeit des marxistischen Modells an und versuchten die gesellschaftliche Komplexität verschiedenster Unterdrückungsverhältnisse gegen die Reduktion des Antagonismus auf einen Hauptgrund stark zu machen. Verloren zu gehen droht damit wiederum die Arbeit am Marxschen Begriff der Klasse und dessen Bedeutung für Marx’ Befreiungstheorie. Im schlimmsten Fall wurde Befreiung gar nicht mehr gedacht. Dies ist der schlechteste aller Lösungsversuche der Probleme, die mit dem Marxschen Modell einhergehen. Selbst die als pessimistisch verschrienen Theoretiker_innen der Kritischen Theorie hielten immer an der Notwendigkeit der Befreiung fest und markierten genau die Schwierigkeit, Befreiung nach Auschwitz in der »Verwalteten Welt« (des Fordismus) überhaupt noch zu denken.

 

II

Doch zu Marx selbst. Im Allgemeinen gibt es eine Hauptvorstellung von der Marxschen Klassentheorie, die nicht unwesentlich von dem zur Staats- und Legitimationswissenschaft verknöcherten Marxismus geprägt wurde, und die Grund für die vielfachen Verwerfungen ist. Vor allem die Hypostasierung des Proletariats, welches notwendig von der Geschichte den Auftrag zur Revolution haben soll, Geschichte teleologisch auf die Überwindung des Kapitalismus hinauslaufe, hat sich selbst desavouiert und wurde zu Recht verworfen. In jener Rezeption allerdings werden die vielfachen Ausführungen von Marx, die er selbst allerdings nie wirklich systematisiert hat, nur verkürzt wahrgenommen, auch wenn diese Vereinfachungen sich vielfach in den Texten von Marx selbst belegen lassen. Dies ist Ausdruck der Verwobenheit von Befreiungstheorie und Klassenanalyse, von dem welthistorischen Auftrag des Proletariats und struktureller Klassenbestimmung. Letztere meint nichts anderes als die Stellung im und zum Produktionsprozess und zu den Produktionsmitteln. In den frühen Schriften geht Marx dann auch von einer tatsächlichen Vereinfachung der gesellschaftlichen Verhältnisse aus, d.h. einem Auseinanderfallen in zwei Klassen. Aus jener vermeintlichen Vereinfachung folgt, dass die Gesellschaft auch einfacher zu durchschauen würde; eine Annahme, die Marx dann mit der Fetisch-Theorie und der Erkenntnis der Verkehrungen und Mystifikationen selbst widerlegte.

Während also in den frühen Schriften die Figur der Notwendigkeit der Revolution mit einem gehörigen Schuss Geschichtsteleologie im Vordergrund stehen, argumentiert Marx im Kapital viel vorsichtiger. Zunächst entwickelt er darin keine Klassenanalyse. Dies sollte erst auf der Höhe der Darstellung des Gesamtprozesses des Kapitals, der Einheit des Produktions- und Zirkulationsprozesses, erfolgen, da erst dort die strukturelle Bestimmung von Klassenpositionen möglich wird. Dennoch ist der Darstellung im Marxschen Kapital das Klassenverhältnis stets vorausgesetzt, wenn es auch begrifflich nicht entfaltet wird. Die Arbeiter_innen als doppelt freie sind hier nichts weiter als Träger_innen der Ware Arbeitskraft. »Der Mensch selbst, als bloßes Dasein von Arbeitskraft betrachtet, ist ein Naturgegenstand, ein Ding, wenn auch lebendiges, selbstbewusstes Ding ...« (MEW 23, 217). Auf dieser Ebene stellt sich der Klassenkampf als rein kapitalimmanent dar, als Kampf um die Erhaltung der Ware Arbeitskraft durch den Kampf um den Mehrwert. Letzterer ist derjenige um die Länge des Arbeitstages. Er wird nicht nur um die absolute Länge ausgefochten, sondern genauso auch um die Länge von (Essens)Pausen etc. geführt – »nibbling and cribbling at meal-times« nannten dies die Arbeiter_innen (ebd., 257). D.h. hier ist der Antagonismus ein immanenter, der kein Stück über das Bestehende hinausweisen muss, sondern zum Kreislauf der kapitalistischen Produktionsweise gehört. Somit ist der Klassenkampf eine Form, in der das Kapitalverhältnis prozessiert und durch die hindurch es sich reproduziert. Gleichzeitig gerinnen jene Verhältnisse zu sozialen Formen, die den Menschen gegenübertreten, ihr Werden aus den Verhältnissen verschleiern und somit als quasi-natürliche erscheinen. Das Alltagsbewusstsein erkennt nur diese Erscheinungen und kann die Mystifikationen nicht mehr durchschauen; somit bleibt der Klassenkampf notwendig kapitalimmanent. Dies markiert die Dialektik der Statik und Dynamik des Kapitalverhältnisses, da die sich permanent verschiebenden Verhältnisse als unveränderlich und statisch rekonstituiert werden.

Wenn es an diesem Punkt noch so erscheint, als wären nur zwei strukturelle Klassenpositionen vorhanden, so kann dies auf der Ebene des Gesamtprozesses des Kapitals differenziert werden. Das Vorhergehende spielt sich in der Sphäre der Produktion ab, doch können nun noch mehr Positionen bestimmt werden, was heißt, dass es durchaus unterschiedliches bedeuten kann, Nicht-Besitzer_in von Produktionsmitteln zu sein. In der Zirkulation der Märkte wird der in der Produktion hergestellte Mehrwert realisiert. Dort finden sich weitere Klassenpositionen (Händler_in, Transport etc.). Der so in Geldform zurückverwandelte Wert wird reinvestiert, so dass der Kreislauf permanent prozessiert. Auch in dieser Zirkulation können von den anderen unterschiedene Klassenpositionen bestimmt werden (dort sind Banken etc. anzusiedeln). Allein an diesem Holzschnitt lässt sich ersehen, dass sich die strukturelle Klassenbestimmung als weit differenzierter darstellt, als dies die weitläufigen Vorstellungen der Marxschen Klassentheorie nahe legen.

 

III

Wenn nun die Klassenverhältnisse als antagonistische nicht über das Bestehende hinausweisen, sondern permanent durch die Kämpfe hindurch reproduziert werden, so dass auch das Ganze zwar prozessierend transformiert wird, im Prinzip aber dennoch statisch bleibt, die Produktion und Appropriation des Mehrwerts Sinn und Zweck der gesellschaftlichen Produktion sind, was kann dann gegenwärtig mit dem Klassenbegriff angefangen werden? Zunächst ist die Arbeiter_innenklasse strukturell integrierter und verstaatsbürgerlichter Teil der Verhältnisse und somit einer affirmativen Praxis immer einen Schritt näher als einer progressiven. Wer »Arbeit, Arbeit, Arbeit« schreit, ist halt kein revolutionäres Subjekt. Und zudem haben die deutschen Proletarier nicht die Regierung gestürzt, sondern ihr bis zur letzten Sekunde und noch weit darüber hinaus die Treue gehalten hat. Wie also dennoch Befreiung von Klassenverhältnissen denken? Eine Möglichkeit wäre es, an die alte Dialektik der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse anzuknüpfen, und dies im Hinblick auf die »Entmenschung« zu thematisieren, ohne einem teleologischen Geschichtsoptimismus zu verfallen. Zuerst einmal bedeutet das, die Vorstellung der Neutralität der Produktivkräfte abzuschütteln und ihre Verwobenheit in die Produktionsverhältnisse wahrzunehmen. Trotzdem können sie als Möglichkeit genommen werden, eine vernünftige Welt einzurichten. In einer Gesellschaft, in der immer mehr (stofflicher) Reichtum produziert wird, stellen weiterhin die Produktionsverhältnisse die Verhinderung jener Potentiale dar, wenn dieser wachsende Reichtum auf der einen Seite eine wachsende Armut auf der anderen zur Folge. Werden nun die Produktionsverhältnisse im Kontext der Gesamtheit aller gesellschaftlichen Verhältnisse thematisiert, besteht die Möglichkeit, die Reduktion des Blicks auf die Klassen zu vermeiden. In diesem Sinne müssten die Produktionsverhältnisse in ihren Auswirkungen auf das einzelne Subjekt betrachtet werden, und damit als Verhinderung der Möglichkeit der Entfaltung einer jeden Einzelnen, oder, allgemeiner gefasst, als Übermacht der Heteronomie gegenüber der Autonomie der Einzelnen und damit gleichzeitig als Zerstörung der Möglichkeit von Erfahrung und Reflexion und somit der Voraussetzung der Möglichkeit von Emanzipation. Eine Klassenanalyse hat sich also für das einzelne Individuum zu interessieren und wie es von den Verhältnissen konstituiert und gleichzeitig zerstört wird. Eine solche Analyse ermöglicht den Blick zu öffnen für Potentiale, die den »Fesseln« der Produktionsverhältnisse entgegenwirken können, um damit Räume zu öffnen, für die Möglichkeit einer verändernden Praxis.

Frei nach Agnoli: Das revolutionäre Subjekt ist jenes, welches die Revolution macht. Vielleicht kann dieses Heft ein wenig dazu beitragen.

red.