what´s your class identity?

WG: diskus fragt an

 

Re: Buchstabenspiel


Meine ID? Allein die Tatsache, dass ich hier nach meiner Identität befragt werde, beweist ganz klar: ich bin leider kein Durchschnittserdling (zu 51.7 Prozent weiblich, zu 34 Prozent ostasiatisch, zu 95 Prozent ohne höhere Bildung), sondern was recht Privilegiertes, sonst hätte mich schon die Anfrage gar nicht erreicht. Genauer betrachtet, und kurz gesagt, bin ich wohl »an (A) male WASP« (wenn auch keineswegs US-Bürger). Ich wills gerne erklären:

Male. Die Kategorie »Männlich/Hetero« ist inzwischen unstrittig, selbst wenn es ein Fünftel Jahrhundert dauerte, bis ich unzweideutig das fühlte, was mir die Sozialisation sanft eingetrichtert hatte. Was, wenn Hirn, Herz und Schwanz jahrzehntelang immer wieder bestätigen, dass du nur ein langweiliger X-Y-1 bist? Wie da sich mit irgend einer der vielen Zwischenkategorien und Sonderfälle identifizieren ...!?
W sodann wie Weiß, im Sinne von nordwesteuropäischer Visage, denn Hautfarbe, Haarfarbe und Gesichtsform bezeichnen mich eben doch sofort als Durchschnitts-Neuseeländer, Durchschnitts-Norweger, -Schweden oder -Kanadier.

A wie Anglo, yes, denn dank globalisierter Massenmedien und -sounds, dank Hörfunk und Bildung kann ich mich recht eindeutig dieser Sprach- und Kulturrichtung zuordnen. Kulturell geprägt wurde ich anfangs anders (siehe unter S), doch nach einigen Monaten anglophoner Träume und Gedankengänge, nach paar zehntausend Seiten Anglo-Papier stellte ich vor zehn Jahren fest, dass ich eher A denn S geworden war.

S wie Saxon nämlich, da mir einst eine Sprache anerzogen wurde, die in meinem realsozialistischen Mutterland weite Verbreitung fand, auch wenn ich sie längst verlernen musste – nicht erst bei der fünften Fremdsprache. Allerdings prägen Spielen im T-34-Panzer und Fahren mit der Pionier-Eisenbahn intensiver als die Erziehung im Geiste der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

P schließlich wie Proletarier, weil ich objektiv ein solcher bin, auch wenn ich mich mit den Gedanken des Bartträgers aus Trier nur sehr bedingt anfreunden kann. Habe glücklicherweise nichts zu erben und keine Produktionsmittel, und meine Religion verbietet mir, mich als Teilhaber am großen Fischejagen ein wenig nach vorne zu fressen.

Womit wir am entscheidenden Punkt wären, meinem Glaubensbekenntnis, dem »A« vorm »male«. Fast 29 Jahre lang hatte ich mich mit Schulen aller Art gequält und vergnügt, doch geholfen hat es nix. Die »Religion« übertüncht fast völlig meine Ratio und positive Akkulturation, mensch kann trotzdem scheinbar »ganz normal« mit mir umgehen. Die »Religion«? ... Atheist bin ich, aber Atheist, der ich bin, ist doch der den Atheisten zugehörige fanatische Glaube an Materialismus und Hyperrationalität nicht der meine. Spirituell bewegt war ich mehrfach, durfte in Moscheen und Kirchen, in orthodoxen, liberal-jüdischen und lamaistischen Tempeln Segen sammeln, spüren, dass mich das Spirit Medium am Rande der Savanne oder der charismatische Pfingstler nicht nur aus Gründen der Forschung durchaus ansprechen. In Glaubensfragen stehe ich aber auf Seiten der Tänzerin Emma Goldman, halte nichts! von der Gottespest. Oder anders gesagt: meine Religion ist, mich mit den »Zeugen Bakunins« organisiert zu haben.

Wenn Euch all dieses Definieren zu lang oder zu komplex ist, kann ich meine ganze Identität in einem einzigen Buchstaben zusammenfassen, wie Ihr ihn auf der toitschen Tastatur unterm Q findet: ich bin ein kleines A im wachsenden Kreis, welches rapide um die Erde rast. Das gibt mir die nötige Kraft im scheinbar naiven Kampf gegen die gigantische Windmühle - für das Paradies im Hier und Jetzt.

ürgen Sch.