what´s your class identity?

WG: diskus fragt an

 

Re: Das Klassen-Buch

 

Es hat lange gedauert, das immer schon gespürte Anderssein der anderen rational fassen zu können. Ich weiß noch genau den Zeitpunkt, als es Klick machte: ich saß nach einer politischen Aktion in einer Kneipe und unterhielt mich mit einer Mitbewohnerin. Wir hatten zwei Jahre zuvor eine Landkommune gegründet, eine anarchistische politische Kommune mit allem drum und dran: gemeinsame Ökonomie, Konsens-Prinzip, Frauenräume und -quote, gemeinsames politisches Engagement, veganes Essen und selbstorganisierte Gruppentherapien. Ich erzählte ihr, dass meine Mutter beabsichtigte, ihr Haus zu verkaufen. Ein Reihenhaus in einer Textilarbeiter_innensiedlung in einer provinziellen, industriell geprägten Kleinstadt, die dafür bekannt ist, dass mit einer anachronistisch anmutenden Starrköpfigkeit die DKP ständig in den Stadtrat gewählt wird. Ich bin in diesem Haus groß geworden. Alle Nachbar_innen und auch meine Verwandtschaft hat in den Textilfabriken gearbeitet. Die meisten bei »Nino«, andere bei »Povel« und »Rawe«. Und da ich meine kleine Welt damals danach einteilte, ob jemand anständig war, d.h. evangelisch und sozialdemokratisch, oder irgendwie merkwürdig, nämlich katholisch und christdemokratisch, dachte ich auch, dass die Leute, die nicht bei »Nino« arbeiteten, komisch waren. Ich ging auf eine evangelische Grundschule, danach trotz des Notendurchschnitts von 2,6 auf die evangelische Hauptschule. Am Ende der fünften Klasse bekam ich zwei Briefe. Ein blauer Brief, der meine Eltern darauf aufmerksam machte, dass ich wiederholt keine Hausaufgaben gemacht hätte, und eine Realschulempfehlung. Ich wollte weg von der Hauptschule, ich wollte aber nicht als Spießer gelten. Von meinen Mitschüler_innen wurde akzeptiert, dass man auf höhere Schulen geht, wenn man »was auf dem Kasten« hat. Nicht akzeptiert wurde Strebsamkeit und übertriebener Fleiß.

Mein Vater war so etwas wie ein Vorarbeiter. Meister wollte er nicht werden. Vielleicht hatte er Angst vor dem damit verbundenem Schreibenmüssen – er hat genau wie meine Mutter mit 14 angefangen, in der Fabrik zu arbeiten. Hätte er nicht Kreuzworträtsel gelöst und Western-Groschenhefte gelesen, hätte ich ihn für einen Analphabeten gehalten. Aber es war nicht nur die vermeintliche Angst vorm Schreiben. Mein Vater wollte nicht »was Besseres« sein, sondern einer unter Gleichen. »Das Schlimmste sind Streikbrecher!«, sagte mein Vater, der nie viel redete, einmal mit einer Ernsthaftigkeit, die mich diesen Satz nie vergessen ließ. Als ich 16 war, starb er. Er hatte in seinem Leben nur zweimal »krankgefeiert«. Der Arzt stellte Herzversagen fest, »macht vierzig Mark«, die Nachbarin meinte vertrauensvoll zu mir: »Na dann wird das jetzt ja wohl nichts mehr mit dem Studium.«

Meine Mitbewohnerin meinte, ihr Elternhaus würde niemals verkauft werden. Es machte Klick: ich sah ihre Zimmereinrichtung in unserer Landkommune, das Bett, den Schrank, den Füllfederhalter, den ihre Mutter schon benutzt hatte, ihre Kinderbücher, die sie noch besaß, Stofftiere aus ihrer Kindheit; bei meiner Freundin war es ebenso, sie hatte kürzlich noch zwei Kisten mit Büchern und Puppen aus ihrer Kindheit vom Dachboden ihrer Eltern abgeholt und trug Schmuck von ihrer Oma; ein anderer Mitbewohner adliger Herkunft besaß eine fünfbändige Ausgabe über seine Familie – und ich besaß nichts, was meine Vergangenheit materiell repräsentierte. Spielsachen, Klamotten etc. hatten Gebrauchswert und wurden weitergegeben. Ich hatte ja selbst meine Legokiste verschenkt, ausserhalb meiner Verwandtschaft, was meine Mutter mir bis heute noch vorwirft, weil ja der Justin, mein Neffe, sie so gut hätte gebrauchen können. Ich hatte auch mit 18 meine Bücher, die keinen Gebrauchwert mehr für mich hatten, an die Stadtbücherei verschenkt. Der Stadtbücherei hatte ich viel zu verdanken. Heute erst wird mir klar, dass ich nicht besonders »begabt« war oder »etwas auf dem Kasten« hatte. Aber ich hatte einen Freund, dessen Vater Meister in der Fabrik war. Seine Eltern hatten zuhause Bücher rumstehen, seine Mutter war Hausfrau. Und seine Mutter nahm mich zusammen mit ihrem Sohn mit zur Stadtbücherei. Ich hatte nicht »etwas auf dem Kasten«, sondern etwas in der Tasche: den Stadtbüchereiausweis. Das war das Geheimnis.

Bücher waren dann auch der erste bewusste Klassenkonflikt, den ich mit meinen Mitkommunard_innen führte. Es ging um ein Gemeinschaftsbücherregal. Hierzu muss man wissen, dass ich mich in der Kommune nicht um die Einrichtung gekümmert hatte. Es gab zu allen Kleinigkeiten von den anderen ein sehr genaues Wissen darum, wie was auszusehen habe. Mir war das piepegal. Die Dinge sind wie sie sind. Hauptsache es regnet nicht durch und es ist warm. Ob nun der Schrank in der Ecke steht oder neben der Tür, ob die Wand ockergelb oder doch lieber weiß gestrichen wird – ich wüsste nicht, nach welchen Kriterien ich so etwas entscheiden soll. Andere hingegen wissen das peinlich genau, also sollen die doch entscheiden.

Anders war das beim Bücherregal. Wir waren fast alle Studis und hatten viele Bücher und ich wollte, dass in einem Gemeinschaftsraum ein großes Bücherregal steht, wo wir alle unsere spannenden Bücher reinstellen. Von mehreren Seiten kam gleichzeitig, dass wäre ungemütlich, ein kleines Regal mit unseren Kinderbüchern wäre doch nett. Ich verstand überhaupt nicht, was denn bitte schön an einem Bücherregal ungemütlich sein soll. In Einzelgesprächen fand ich dann heraus, dass für die meisten meiner Mitbewohner_innen Bücher in ihrer Kindheit eher die Autorität der Eltern stützten, während für mich als Arbeiterkind Bücher Gehilfen in Auseinandersetzungen mit meinen Eltern waren. Aber das krasse war dann, dass meine Mitbewohner_innen diese Analyse nicht gelten lassen wollten. Der Geschmack der Wohnungseinrichtung wurde nicht klassenspezifisch hinterfragt. Sofort wurde mir eine Opferrolle unterstellt und dieses »Opferrolle!« kommt immer sehr schnell, wenn ich in linken Kreisen, in denen doch eigentlich das persönliche auch als politisches gilt, Klassismus kritisiere ...

Andreas Kemper