what´s your class identity?

WG: diskus fragt an

 

Re: My little Jerusalem

 

Gated Communities werden Wohnsiedlungen genannt, in denen meistens Reiche mit ähnlichem Lebensstil versammelt leben, die möglichst abgeschottet von Menschen aus anderen sozialen Kontexten bleiben möchten. Neuerdings ist die »Gated Community« ein Projekt von Stadtplanern geworden, die dieses Konzept der Hektik und Unüberschaubarkeit der Großstädte entgegensetzen.

Dass ich in einer Gated Community aufgewachsen bin, war allerdings kein Plan eines New Urbanists, sondern hatte vielmehr etwas mit Gott zu tun. Nein! Wahrscheinlich war es nicht Teil der göttlichen Vorsehung, dass in einem beschaulichen Vorort einer kleinen Stadt am Rande des Ruhrgebiets - nennen wir dieses Dorf hier aus poetischen Gründen einmal Villigst - in einer Siedlung lauter evangelische AkademikerInnen versammelt wurden. Der Grund dieses Zusammentreffens war wohl eher die ehemalige Residenz irgendeines niederen Adeligen, von der besagten Siedlung nur durch eine Straße getrennt, die sich die evangelische Kirche nach Ende des zweiten Weltkriegs aussuchte, um dort ihr Studienwerk unterzubringen. Und weil Christen bekanntlich Herdenwesen sind, und die evangelische Kirche in Deutschland nach einem kurzen Ausflug ins Schlächterhandwerk beschlossen hatte sich doch lieber auf seine Kernkompetenzen zu besinnen und wieder ein lieber, netter Schäfer zu werden, baute sie ihren Schäfchen, die in dem Studienwerk arbeiten sollten, unmittelbar in die Nähe, ein paar komfortable, süße Häuschen, in denen es sich trefflich fromm sein ließ und die sich prächtig zum Großziehen kleiner Lämmchen eigneten. Eines dieser Lämmchen war ich. Neben den Häusern gab es in dieser Siedlung auch noch eine Schaukel, einen Sandkasten, einen Kletterbaum, ein Wäldchen und vor allem viele Kinder ähnlichen Alters zum Spielen. Falls der Radius der Siedlung doch einmal zu klein wurde, gab es immer noch den dem Studienwerk angeschlossenen Park direkt an der Ruhr. All dies führte dazu, dass es, solange ich dort wohnte, von meinem ersten bis zu meinem siebten Lebensjahr, wenig Anlass gab, diesen Raum zu verlassen, denn »hier in unserer Straße, warn’ wir fröhlich und entspannt; an jeder Ecke standen Menschen, deren Meinung uns gefällt«(Tocotronic). Hier war die Welt noch in Ordnung, was dazu führte, dass sich die Gedanken auf die Welt im Allgemeinen und Gott, den Besonderen, den christlichen richten konnten. Man war friedensbewegt und umweltbewusst, hängte sich Bilder von glücklichen Armen aus anderen Teilen der Welt an die Wand und glaubte sich, was die Geschlechterfrage betraf als Protestant sowieso auf der richtigen Seite (schließlich dürfen hier auch Frauen Pfarrerinnen werden). Wirklicher Kontakt mit der Welt blieb dagegen allerdings rar. Wenn ich einmal auf Menschen aus anderen sozialen Lagen als der von evangelischen AkademikerInnen, also »ideologische Stände« (Marx), deren Habitus, Borudieu folgend, mit aristokratischer Asketismus ziemlich gut charakterisiert ist, traf, dann geschah das meistens in »unserer« Straße dem bekannten Territorium. Diese Leute lassen sich in zwei unterschiedliche Gruppen aufteilen. Zum einen Subalterne (Flüchtlinge und Häftlinge), zum anderen Nachbarskinder aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, die es aus irgendeinem Grund in die Nähe bzw. in unsere Siedlung verschlagen hatte. Dabei haben wir Kinder die Subalternen, soweit ich mich erinnere, mit viel mehr Respekt behandelt als die Nachbarskinder. Vielleicht, weil sie einfach interessanter waren, wahrscheinlicher aber, weil sie von vornherein so sehr als Opfer gesetzt waren, so sehr das Fremde repräsentierten, dass es leicht fiel ohne seinen Stand zu verlassen auf sie einzugehen und für sie Verständnis zu entwickeln, sie hatten es, und diese Sozialarbeiterweißheit hatten wir Kinder wohl schon damals verinnerlicht, halt schwer gehabt in ihrem Leben. Diesen Bonus hatten die Nachbarskinder nicht, weshalb wir sie instinktsicher verarscht und ausgenutzt haben.

Etwa mit Beginn meiner Schulzeit setzte eine Phase der Deterritorialisierung ein. Nicht nur vermehrte sich der Kontakt mit Kindern aus anderen Lagen, dadurch das ich die Schule besuchte, sondern außerdem zog meine Familie aus little Jerusalem - wie die anderen Dorfbewohner die beschriebene Siedlung nannten, was ich zu dieser Zeit erfuhr - in einen anderen Teil dieses Dorfes. Das Grenzeneinreißen war also nicht besonders radikal, zumal ich die Grenzen der Siedlung weiterhin mit mir rumtrug und wohl bis heute mit mir rumtrage (»Was diese Grenzen anbelangt, so ist bekannt, ja anerkannt, dass sie meistens fließend sind« (Tocotronic)). Wie sonst ist es zu erklären, dass ich, als ich dann später Gymnasiast war, ein nicht unerheblicher Teil meines Freundeskreises aus Pastorenkindern bestand, die sich, wie ich, großartig auch mit den Kindern von ÄrztInnen und LehrerInnen, die den Freundeskreis komplettierten, verstanden. Hier in Frankfurt wohne ich im Nordend, umweit von einer Kirche und den ganzen Nordend- Alternativläden entfernt. Sonderlich weit bin ich also nicht gekommen, denn seine gated communities findet man überall, manchmal sind sie sichtbar und manchmal unsichtbar und gerade die unsichtbaren sind schwer zu verlassen, denn wie kann man schon ein unsichtbares Tor finden?

 

Andreas Folkers