what´s your class identity?

WG: diskus fragt an

 

Re: Tube Talk One

 

2 ungefähr 14jährige Mädchen und ein um Kontakt bemühter Bildungsbürger

 

Mädchen 1: Ey, der Mustafa ist voll die Fut, oder?
Mädchen 2: Normal, jeden Tag ´ne Andere
Mädchen 1: Der labert disch an und liegt in Gedanken schon mit der Nächsten im Bett.
Mädchen 2: Aber isch schwör dir, der Kemal, das is sein Bruder, der is noch krasser unterwegs, so zwinker-zwinker-ladykillerstyle, weisst du, was isch meine?
Fahrgast: Na ihr Zwei, kommt ihr gerade aus der Schule?
Mädchen 2: Ja und? Was geht disch das an, Alter?
Fahrgast: Ich dachte nur, wegen euren Schulränzen …
Mädchen 1: Voll der Detektiv, dem kannste nix vormachen.
Mädchen 2: Der is entweder Lehrer oder Perverser …
Fahrgast: Ja, ich war in der Tat Lehrer. Deutsch-Lehrer, um korrekt zu sein (räuspert sich) - bis vor kurzem …
Mädchen 2: Isch hasse Deutsch.
Fahrgast: Was denn genau? Die Literatur oder die Sprache an sich?
Mädchen 2: Is beides scheisse, kannste dir aussuchen
Fahrgast: Und was ist mit Kleist oder Goethe?
Mädchen 1: Goethe war ein Faschist
Mädchen 2: Scheiss Nazi
Fahrgast (wird rot im Gesicht, eine Vene pulsiert an seiner Schläfe): Ihr wisst ja nicht, was ihr da redet. Habt ihr denn mal was von Goethe gelesen? Den Faust vielleicht?
Mädchen 1: Genauso wie Brecht, auch so`n mieses kleines Nazi-Schwein
Fahrgast (krümmt sich auf seinem Sitz, fängt an zu zittern und brüllt schließlich durchs gesamte Abteil): Brecht doch nicht ... Wie könnt ihr so etwas behaupten? Das war der größte Antifaschist ... und Pazifist ... und Menschenfreund. Wie könnt ihr nur so einen unreflektierten Mist daher reden?
Mädchen 2: Isch hasse Deutsch
Mädchen 1: Und Deutschlehrer ...
Fahrgast (wimmernd): Brecht doch nicht ...
Mädchen 1: Fick disch, Alter. (Nimmt ihren Ranzen und geht)
Fahrgast (massiert seine Herzgegend): Ausgerechnet Brecht, ausgerechnet ...
Mädchen 2: Und Tucholsky, der Nazi-Schmock ... (nimmt ihren Ranzen und geht)
Fahrgast (krächzt mit ersterbender Stimme): Soldaten sind Mörder ...

 

Tube Talk Two

 

1 Bier trinkender und offensichtlich materiell nicht überprevilegierter Fahrgast trifft auf einen Bekannten

 

Fahrgast: Mensch Erwin, dich hab ich ja ewig nich gesehen. Was machst du denn hier? Wie gehts`n so?
Erwin: Muss ja und selber?
Fahrgast: Vorgestern is mir beim Gassi gehen ein Schneidezahn abgebrochen.
Erwin: Einfach so oder was?
Fahrgast: Ja, ich hab die in letzter Zeit nich so gut gepflegt, die Zähne, weißt du ...
Erwin: Beim Gassi gehen? Mit deinem Rauhaardackel oder was? Lebt der noch?
Fahrgast: Ja, aber der hat jetzt Asthma.
Erwin: Wie heißt der nochmal? Bandito?
Fahrgast: Nee, Pinochet. Is ja auch egal. Hast du jetzt eigentlich nen Job gefunden?
Erwin: Ja das glaubst du nicht; ich bin jetzt Powerseller.
Fahrgast: Wat?
Erwin: Na ja, so Verkäufer im Internet. Bei Ebay, das ist ein virtuelles Auktionshaus ...
Fahrgast: Wie? Virtuell? Gibs das oder gibs das nich? Oder zahlt der Käufer auch mit virtueller Kohle? So Cyberspacegoldnuggets? (hustet und lacht gleichzeitig) Was bietest du denn da alles an?
Erwin: Intelligente Meisenknödel und Fischfutter mit Aloe-Vera-Extrakten ...
Fahrgast: Intelligente Meisenknödel?
Erwin: Ja, die haben einen Sensor eingebaut und der aktiviert eine Alarmhupe, wenn sich ein Raubvogel nähert. (Beugt sich vor) Hast du auch gerade einen Job?
Fahrgast: Nich direkt.
Erwin: Was heißt das konkret?
Fahrgast: (Verschwörerisch) Ein Kumpel hat mir die Adresse von nem Arzt im Bahnhofsviertel gegeben und der zahlt dir wohl 1000 Euro für ne Niere.
Erwin: (Entsetzt) Spinnst du? Das ist Organhandel! (Aufgebracht) Die verkauft der dann für das zehnfache an so Promis wie Harald Juhnke ...
Fahrgast: Der is doch schon tot, außerdem wars bei dem die Leber. Die würd ich nie verkaufen ...
Erwin: Darum gehts nicht! Das ist eine Klassenfrage ...
Fahrgast: Schau mal, das ist doch der Horst, der gerade einsteigt.
Erwin: Scheisse, hoffentlich sieht der uns nicht. Der schnorrt einen immer an und erzählt stundenlang von seinem Raucherbein.
Fahrgast: Ich kann den auch nicht leiden, das ist ein ganz primitiver ...
Horst: Hallo, was für eine Überraschung. Kann ich mich zu euch setzen?
Erwin: Na klar.
Fahrgast: Ja sicher.
Horst: Was freu ich mich euch zu sehen. Wie gehts denn so?
Erwin und Fahrgast: (Gequält) Muß ja und selber?
Horst: Nicht gut, nicht gut. Mein Bein macht mir echt zu schaffen. Raucherbein. Das muss demnächst abgenommen werden, aber ich hab das Geld noch nicht zusammen. Bin doch aus der Krankenkasse raus ... Ihr habt nicht zufällig ein paar Cent einstecken?
Fahrgast: Nich direkt, aber es gibt da so nen Arzt im Bahnhofsviertel ...
Erwin: Von dem hab ich auch schon gehört ...

 

Tube Talk Three

 

1 Student und 1 Studentin diskutieren im 1.-Klasse-Abteil die Tücken und Raffinessen globaler Politik

 

Studentin: ... und deswegen ist es obsolet, wenn progressive Linke weiterhin im Rahmen nationalstaatlicher Gebilde denken und handeln.
Student: Das heisst, England, Frankreich oder Litauen sind keine nationalstaatlichen Gebilde?
Studentin: Doch, doch, aber sie sind gleichzeitig an trans- und supranationale Herrschaftsverhältnisse gekoppelt und in diese eingebettet. Das Imperium hat kein geographisches Zentrum ... und das ist doch das Wesentliche! Wir befinden uns an einem historischen Wendepunkt.
Student: Der ultimativen Krise des Kapitalismus?
Studentin: Dem Übergang zwischen moderner Industriegesellschaft und postmoderner Informationsgesellschaft.
Student: Schön und gut, aber was willst du territorialisierten Kontrollmechanismen entgegensetzen, die jeglicher Gesellschaftsstruktur immanent sind?
Studentin: Wir müssen Nomaden werden.
Student: Das klingt jetzt aber ein wenig nach Hippie-Romatik, finde ich.
Studentin: Weil du mich falsch verstehst. Ich zeichne eine Skizze im Sinne von Deleuze und Guattari. Je mehr Bewegungsströme sich rhizomartig vernetzen und frei fluktuieren, desto weniger ist das Imperium in der Lage diese zu steuern und zu kontrollieren...
Student: Aber wenn politische und ökonomische Macht räumlich entgrenzt sind, dann sind es Kontrollgewalten und -instanzen doch wohl auch ...
Studentin: Natürlich sind sie das; es gibt kein »Ausserhalb«, aber Kontrolle meint auch nicht nur das Anwenden unmittelbarer Repression, sondern auch das Ausnutzen einer in die Matrix der Menschen eingebrannte Form freiwilliger Unterwerfung. Bewegung schafft Befreiungsbedürfnisse und Stillstand reproduziert die Paralyse der ArbeiterInnenklasse...
Kontrolleur: Guten Tag, die Fahrkarten bitte.
Student: Oh, Mist, das gibts doch nicht, ich glaube, ich habe mein Semesterticket zu Hause vergessen.
Studentin: Verflixt, ich habe meins auch zu Hause liegen lassen.
Kontrolleur: Das macht 40 Euro. Wollen sie die gleich zahlen?
Studentin: Moment mal! Wir sind beide Studenten. Wenn wir das Semesterticket nachzeigen, kostet das nur 10 Euro.
Kontrolleur: Das stimmt - allerdings gelten ihre Tickets lediglich für die 2. Klasse. Der Aufenthalt in diesem Abteil ist ihnen nicht gestattet. Das macht auch für Sie 40 Euro. Wollen Sie die gleich zahlen?
Student: Das tut uns leid, das wussten wir nicht...
Kontrolleur: Jetzt wissen Sie es.
Studentin: Können wir uns nicht einfach rübersetzen?
Kontrolleur: Selbstverständlich - aber erst kriege ich jeweils 40 Euro oder ihre Personalausweise ...
Studentin: Arschloch
Kontrolleur: Wie bitte?
Student: Äääh, nehmen sie auch EC- Karten?
Kontrolleur: Selbstverständlich.
Student: Dann zahl ich für uns beide ... - aber ich bräuchte eine Quittung.

 

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