Begehrtes Ich.

Zum Verhältnis begehrlicher Beziehungsweisen.

 

 

Identität. Begehren. Beziehungen.

 

Identität in Begehren in Beziehungen.
Begehren aus Identität in Beziehungen.
Beziehungen aus Identität in Begehren.
Identität aus Begehren in Beziehungen.
Begehren aus Beziehungen in Identität.
Beziehungen aus Begehren in Identität.

 

Identigehrungen. Begehntiziehungen. Beziehdentigehren.

 

Identität, Begehren. Zwei ungleiche Gestalten in sich kontinuierlich über rhythmisch wiederkehrende Rückschläge hinwegsetzenden Stabilisierungsprozessen; in Beziehungen.

 

Geläufige Vorstellungen von Begehren, die in unzähligen Romanen, Filmen, Talkshows und Reality Soaps immer wieder lustvoll durchgekaut werden, charakterisieren es als eine ungestüme Kraft von nebulöser Herkunft, die die Einzelne erfasst und gegen ihren Willen in einer Woge mitreißt und sie Dinge tun lässt, von denen sie »bei Verstand« himmelweiten Abstand halten würde. Das Begehren wird dabei entworfen als eine unberechenbare, bedrohliche Macht gegenüber der kühlen, vernünftigen Ratio, die scheinbar aus dem Nichts aus den Menschen heraus bricht, oder die in dem Menschen schon lange schlummerte, bis sie plötzlich durch ein erregendes (oder scheinbar ganz unbedeutendes?) Ereignis entfesselt wurde.

Auch in der so genannten Linken wird Begehren oft als das Ursprüngliche, Eigentliche, oder auch: das Gute verherrlicht, das – endlich aus der (staats-)bürgerlichen Zwangsjacke befreit und hedonistisch und zwanglos in der Szene praktiziert – mit der Emanzipation von bürgerlichen Moralvorstellungen auch den gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang gleich mit erledigt. Oder es wird auch gern, in einer irgendwie verwandten Variante, asketisch verneint und hinter Mauern von Rationalisierungen als wollüstige Unnötigkeit verachtet.

Identität scheint damit erst einmal nichts zu tun zu haben. Allgemein mainstreamig ist klar, dass jede lernen muss, ihre Identität mit ihrem Leben einigermaßen in Einklang zu bringen. Und der Linken ist klar, dass Identität ein tiefschürfendes Problemfeld auftut, woraufhin sich möglichst störrisch in möglichst kleine Gruppen gespalten wird, um ja nicht zur identitären Parteigenossin zu verkommen, die beim Marsch hinterm Führer die Durchstreichung ihrer selbst vollzieht. Ihrer selbst? Das soll also um jeden Preis gerettet werden – das Selbst? Ihre Individualität? Etwa auch ihre Identität?

Was die Szenerie in genau entgegengesetztem Licht erscheinen lässt: Ist es dann nicht vielmehr identitäre Politik einzelner (Fraktionen), die das Motiv der Spaltung forciert, weil sie mit Abweichungen vom kollektiven Imaginären einfach nicht mehr klarkommt?

Der Blick auf die affektiv hoch aufgeladenen und zutiefst emotional ausgetragenen Spaltungsprozesse reicht aus, um die Verbindung zum Begehren aufscheinen zu sehen. Wer begehrt, wo dazuzugehören? Wer möchte hingegen nicht, dass diese und jene Position oder Person in diesem und jenem Kontext zu dominant wird? Wer beansprucht überhaupt eine extraordinäre, eine dominante oder eine oppositionelle Position, mit der sie sich identifizieren kann, möchte, muss, etc.? Und mit der sie auch identifiziert zu werden begehrt... Wie werden (Freundschafts-)Beziehungen davon strapaziert, stabilisiert oder überhaupt geformt, wo entstehen strategische Bündnisse und wo Freundschaftsseilschaften, die sich gegen wen oder was richten?

Dabei scheint die Verfangenheit der Einzelnen in die Identitäts- und Begehrensgefüge von Beziehungen auch einer reflektierten solidarischen Verbundenheit oft gehörig den Weg zu verstellen.

Einfach alles ganz anders machen?

Dass dies eine aufreizend verstiegene und oft probierte wie auch oft gescheiterte, wenn auch unzweifelhaft charmante Idee ist, möchte ich zu zeigen versuchen. Zwar lassen sich zum bisherigen Scheitern oder Gelingen solcher Ideen keine vollständigen Aussagen treffen, da die institutionelle Verfasstheit der Gesellschaft dafür Sorge trägt, dass die Geschichtsschreibung zur Erfolgsgeschichte des Bestehenden mutiert, aber dennoch und vielleicht zum Teil deswegen wiederholen sich Konflikte und Problemlagen seit Jahren mit geradezu unverschämter Hartnäckigkeit.

Gleichzeitig möchte ich aber jener Sehnsucht nachstellen, die in dem naiven Wunsch, »alles einfach ganz anders und damit besser zu machen« liegt und in einer theoretische Begrifflichkeiten wie konkrete (Alltags-)Praxis reflektierenden Auseinandersetzung ein widerständiges Potential im Verhältnis von Begehren und Identität auszumachen versuchen. Dabei geht es mir darum, den Produktionszusammenhängen von Identität und Begehren bis in die Beziehungen hinein nachzuschleichen, um eine Anknüpfungsebene zu finden, von wo aus sie sich konstituieren, stetig reproduzieren – und um darauf der hoffnungsvollen Vision eines phantastischen Begehrens hinterher zu rennen, welches sich wild phantasierend, psychotisch halluzinierend und analytisch reflektierend neu erfindet und sich damit materialisierend der Möglichkeit der Veränderung nähert.

Die Einbettung der Diskussion in den Beziehungskontext erfolgt aus der Anerkennung der Beziehungen als Aushandlungsort manifester wie latenter Lebensentwürfe. Wobei unter dem Begriff der Beziehung niemals nur RZBs gemeint sind, sondern alle die Beziehungen, in denen die Beziehungspartnerinnen sich ineinander einzuweihen bereit und gewillt sind, in denen Gebundenheiten und Freiheiten ausgehandelt werden.

Die Bewegung der Diskussion setzt sodann an den Verfilzungen der beiden zentralen Kategorien an, erlaubt sich darauf folgend einen Schlenker über begriffliche Diskussionen einer jeden Kategorie, um sie in einem weiteren Schritt, ergänzt um die Wahrnehmung ihrer Produktionszusammenhänge, in ein klareres Verhältnis setzen zu können.

Verbindungen, Verflechtungen: who is who?

Auf der Suche nach den Verflechtungen des Begehrens mit der Identität fällt zunächst auf, dass Begehren in der Konstitution von Identität in nervtötender Permanenz stetig auch als eine energetische Kraft auftritt, die einen vereindeutigenden (Idenitätsfindungs-)Prozess voranstößt. Dabei schält sich eben das als Identität heraus, was durchgelassen, erwünscht, begehrt ist. Dieser Vorgang ist jedoch nicht loszulösen von den Verformungen, die ein jeder Sozialisationsprozess im Bestehenden mit sich bringt; wird schließlich auch hier immer nur das »erlaubte« Begehrenswerte durchgelassen und stetig einer strengen Zensur unterworfen, während das Verpönte nach Kräften und Möglichkeiten fein säuberlich unter Verschluss gehalten wird. Jenem Verpönten, welchem seine gesellschaftliche Daseinsberechtigung entzogen wurde, bleibt schließlich nur noch ein Weg, sich zu rächen und dem imperativen Drängen des Unbewussten in der (Ver)Schaffung einer Ersatzbefriedigung durch einen neurotischen Kanal nachzugeben. Der Zwang, sich als Subjekt in die gesellschaftliche Umgebung einzuschmiegen, dabei gesellschaftlich produktives Subjekt zu werden, und damit die eigene Wunsch- und Begehrensökonomie in die Einheit eines kollektiven Subjekts (das herrschende oder auch das revolutionäre) einzupassen, bewirkt also mindestens zweierlei. In einem vereindeutigenden Sozialisationsprozess wird Erwünschtes produktiv gemacht und geht in die Form einer Identität ein, die gleichzeitig aber von den Brüchen gekennzeichnet ist, die in ihrem Entstehungsprozess notwendig vollzogen wurden und die sich eben gleichermaßen in der Identität des Subjektes manifestiert haben.

Eine solch brüchige und von den Wechselwirkungen des Begehrens durchzogene Identität wird vom Begehren aber gleichzeitig stabilisiert und gefestigt: Identität ist begehrt – und (nicht für alle immer, aber mit dem Erwachsenwerden für eine gewisse Zeit) begehrbar. Zu wissen, was und, in Beziehungen: wen genau ich eigentlich begehre, erleichtert den Einklang meines Lebens mit der Lebenswelt ungemein. Ebenso, wie es so unglaublich praktisch ist, zu wissen, wie ich selbst sein möchte. Wie ich sein will, um dann z. B. auch wieder begehrbar zu sein, begehrt zu werden – und das nicht von irgendjemand, sondern ich kann ziemlich genau wissen und mit meinem Konstrukt von Identität mitbestimmen, von wem genau. Solche Ideologie muss zwar immer illusionär davon abstrahieren, dass innerhalb der Gesellschaft niemand alleine darüber bestimmen darf oder auch nur könnte, wer sie sein möchte und welches Konstrukt von Identität sie sich zulegt – sie ist aber durch die Subjekte hindurch als produktive Bewegung zu lesen und anzuerkennen.

 

Um schließlich den Rahmen zu ermessen, innerhalb dessen der erlaubte Spielraum für Identität und Begehren liegt, der nur um den Preis bestenfalls des Aberwitzes, vermutlich aber eher um den der Idiotie verlassen werden kann, kommt dem Rückzugsraum Beziehung noch einmal eine besondere Bedeutung zu.

So schwingt sich Identität in intersubjektiven Beziehungen gar zu dem kolossalen Posten auf, der die Macht inne hat, ein Begehren zu bestätigen oder zu verneinen – anders gesagt: Zu einer mehr oder minder eindeutig konstruierten Person gehört jeweils eine mehr oder minder eindeutig bestimmte und für diese Subjektposition angemessene Begehrensform. Diese wird selbstverständlich von ihr erwartet und das zu weit vom breiten Trampelpfad Abweichende als unstimmig wahrgenommen. Ein gängiges Begehren, z.B. in die geliebte Person wo auch immer einzudringen, ist nur der einen Hälfte der gesellschaftlichen Subjekte (ich ziehe hier absichtlich keine eindeutige Grenze entlang der Geschlechterlinien, auch wenn diese unverkennbar eine nicht zu leugnende Rolle spielen) grundsätzlich zugestanden und das auch nur in genau definiertem Beziehungsrahmen – alle anderen müssen sich so etwas – so sie es denn begehren – erkämpfen, erbeten oder eben darauf verzichten. Ebenso, wie es sich für intellektuelle Linke kaum gehört, sich auf eine Zukunft als Hausfrau und Mutter (wenn überhaupt, dann am ehesten noch als Hausmann und Vater) im Einfamilienhaus oder auf angehäuftes Privateigentum (ausgenommen der schwer fetischisierten Büchersammlung) zu freuen.

Indessen ist hingegen sehr erwünscht, neben vielen Geschlechtern auch ungewöhnliche Lebensformen sowie nicht-hegemoniale Sexualpraktiken zu begehren (die allerdings trotzdem soweit hegemonial sein müssen, als auch sie – hoffentlich! – durch moralische Imperative – kein Sex mit Kindern – eingegrenzt sind). Mit im Päckchen: Karriere zwar selbstverständlich und verbissen verfolgen, das aber bloß niemals öffentlich zugeben. Übrigens: An dieser Stelle geht es mir allein darum, zu zeigen, wie klar die Grenzen des Begehrens umrissen sind, die einer Person mit der ihr zugehörigen Identität zugestanden werden. Also nicht um eine Bewertung des in unterschiedlichen Kontexten Erwünschten oder zu Vermeidenden.

Im Kontext dessen, was als wünschenswert zu fördern und was als peinlich zu verwerfen gilt, wird dann aber schließlich auch die Bedeutung des Begehrens als einer zu investierenden Arbeit an einer ganz bestimmten Identität deutlich – eine Tat-Sache, die ihren prächtigen Anteil an der Beständigkeit der kapitalistischen Gesellschaftsformation nur schlecht verheimlichen kann.

 

Ist Begehren demnach so strukturiert, dass es beharrlich auf Eindeutigkeit bzw. eindeutige Identität drängt? Dass es also selber irgendwie identitär ist??

Die Frage an sich wirkt merkwürdig und spiegelt die Zerrissenheit des Begehrens, das sich vielleicht besser als dynamische Kraft oder Energie denn als griffiges Element beschreiben lässt. Doch auch in der Fassung bliebe dennoch die Frage, ob diese dynamische Kraft denn immer schon konformistisch eingehegt ist.

Klar kann Begehren identitär sein; es ist ja in der bestehenden Gesellschaft auch eher anzunehmen, dass jegliches Begehren mindestens große identitäre Anteile hat, so es sich nicht sowieso gleich vertraulich in den vorgegebenen Konsens einschmiegt. Dennoch: Es ist zumindest vorstellbar, dass das nicht immer so sein muss. Seine mittelbare Unbestimmtheit und Formlosigkeit wäre so Gefahr und energetische Kraft, sein revolutionäres Potential zugleich. Ein Potential, das übrigens Identität auch verweigern könnte: Wenn sich das Begehren als eine Triebkraft sui generis verstehen lässt, die sich mit der Irreduzibilität von Triebbefriedigung und Wunscherfüllung gleichsam ironisch oder tragisch abfinden muss, ist das Begehren durch strukturellen Mangel charakterisiert und dadurch in letzter Konsequenz ziellos.

Folglich kann es sowohl systemstabilisierend einfunktionalisiert werden, indem es auf den Fluchtpunkt »mein Haus, mein Auto, meine Frau« ausgerichtet wird als auch als Stachel der Widerständigkeit gegen eine Lebenswelt, die Befriedigung in immer wieder gleichen wiederkehrenden Schleifen wiederholt, die Wunscherfüllung aber stets verwehrt, emanzipatorisch wirken und zur lebendigen Kritik werden.

Identity – it's me, darling!

Die Problematisierung eindeutiger Identität(-spolitiken) wurde zwar auch schon lange vor Butler gedacht, jedoch wurde sie durch Butlers radikale diskursive Intervention von einer Position aus der Bewegung heraus auf vorher noch nie so breiter Grundlage diskutiert.

Dem Problem der performativen Hervorbringung von Identität kann ihrer Analyse zufolge durch performative Irritation begegnet werden, durch falsches Zitieren, das perspektivisch irgendwann mal in der Aufhebung von eindeutigen (Geschlechts-)Identitäten mündet. Diese Strategie bricht sich allerdings am Problem der Unsichtbarwerdung der in langjährigen Interaktions- sowie Sozialisationsprozessen gesellschaftlich produzierten Ungleichheiten, die zum Teil an den sich selbst reproduzierenden Geschlechterlinien entlang laufen und ungleich den bewussten, politischen Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Konstrukten der Eindeutigkeit schon mit der Subjektwerdung beginnen, also lange bevor sich überhaupt eine Ahnung davon regt, dass es gesellschaftliche oder überhaupt Konstrukte geben könnte.

Eine mögliche darauf aufbauend veränderte politische Praxis, die die Unsichtbarwerdung gesellschaftlich produzierter Ungleichheiten wiederum markiert, birgt allerdings schon wieder die nächste Problemlage: dass in der eindringlichen Anrufung der als gesellschaftlich hergestellt markierten Differenzen der heterosexistische Diskurs mitsamt den ihm eigenen produktiven Kräften erst wieder reproduziert werden kann. Das Problem wird also mitnichten gelöst, sondern erweitert sich um die Frage, ob Identität und mit ihr das Individuum doch eine notwendige(?) Rolle auf dem Weg in die Veränderung spielen könnte, wenn ja, welche, oder ob es sich um ein gänzlich zu verwerfendes und in seinem Fundament dem Bestehenden verhaftetes Phänomen handelt.

Um sich nun also diesem mephistophelischen Thema der Identität noch einmal von einer anderen Seite zu nähern und es vielleicht differenzierter kritisieren zu können (und um über oft geführte Essentialismus- vs. Antiessentialismus-Debatten hinauszugehen), darf allerdings nicht einfach nur an dem Phänomen Identität, sozusagen dem Symptom angesetzt werden, sondern muss vielmehr bedacht werden, dass die Zurichtung einer bestimmten Identität auf langjährige Sozialisations- und Interaktionsprozesse – in Beziehungen!!, die mithin Gesellschaft vermitteln – zurückweist.

Verschiebt sich nun jedoch der Fokus der Analyse auf Sozialisations- und Interaktionsprozesse, um die Produktionszusammenhänge von Identität ins Auge zu fassen, so müssen innerhalb der Produktionsbedingungen die schon skizzierten Verflechtungen der Identität mit dem Begehren zentral in die Analyse mit aufgenommen werden. Denn wenn von den wechselseitigen Beeinflussungen ausgegangen wird, wäre es unglaubwürdig, sie dann aber analytisch in ihren Entstehungszusammenhängen trennen zu wollen. 

Desired, desiring, desire – I want you to be mine ...

Auch der Begriff des Begehrens ist kontrovers diskutiert worden und kann begrifflich an der Wegscheide von Affirmation und Revolution verortet werden.

Das Begehren wurde in langwierigen Debatten um eine den Kapitalismus überwindende Bedarfswirtschaft noch streng nach dem Marxschen Postulat, dass das gierige und zur pseudobefriedigenden, stumpfsinnigen Warenakkumulation nötigende Begehren im Kapitalismus das Bedürfnis pervertiere, als kapitalismusinhärent und als dem Erhalt des Bestehenden verhafteten verworfen. Dagegen begehrten psychoanalytische Kritiker_innen auf, die das Begehren im Gegenteil als ein revolutionäres charakterisierten, welches im Kapitalismus autoritär unterdrückt werde. So würde dessen Befreiung subversive Kräfte entfesseln (Reich); ansonsten würde es unter den gesellschaftlichen Bedingungen der repressiven Entsublimierung zur durchsichtigen Farce seiner selbst und damit zum Herrschaftsinstrument (Marcuse), oder es zeichne sich im Kapitalismus gerade durch seine Nicht-Existenz aus, müsse erst erfunden werden und sei vor allem unter den Gegebenheiten des gegenwärtigen Geschlechterverhältnisses im Kapitalismus als »weibliches« zu charakterisieren (Irigaray). Der Begriff des Begehrens hat dabei, wie sich schon abzeichnet, eine Menge durchgemacht. Entscheidend ist oft die Differenzierung zwischen Bedürfnis und Begehren, die viele Theoretikerinnen in ihre Konzeption eingetragen haben.

 

Die Unterscheidung war bereits für Marx und Freud von solcher Bedeutung, dass dem Begriffspaar sowohl in der materialistischen Analyse der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse als auch in der Freudschen Analyse der – bürgerlichen – Subjektivität eine exponierte Stellung eingeräumt wurde: So fasst Marx das Begehren im Kapitalismus als ein kapitalistisches, welches von der konkreten Nützlichkeit des Gebrauchswertbegehrens – der unmittelbaren, deswegen aber nicht »ursprünglichen« Bedürfnisse der Menschen – abstrahiert. Da es im Kapitalismus einzig um das Profitmotiv bzw. die Verwertung geht, wird über den Tauschwert und somit über abstrakte Arbeit vom Bedürfnis in seiner konkreten Nützlichkeit abstrahiert; das Begehren aber richtet sich auf den Tausch.

Freud, der gar keinen expliziten Begriff des Begehrens formuliert, unterscheidet aber ähnlich zwischen Triebbedürfnis und Triebwunsch, aus deren Missverhältnis er den Stachel im Fleisch der faustischen Triebverfassung ausmacht: Der phantastische und daher nie erfüllbare Triebwunsch, der sich aus einer verlorenen Erfahrung speist, steht in einem unabschließbaren Spannungsverhältnis zum Triebbedürfnis, das sich auf reale Objekte richtet und daher real zu befriedigen ist. Trotzdem haftet letzterem damit stets ein struktureller Mangel an, da es nie an das heranzuragen vermag, was sich im Triebwunsch als Phantasie formierte.

Erst in Lacans an Kojèves Hegel-Kommentar angelehnter Reinterpretation der Freudschen Trieblehre nimmt der Begriff des Begehrens#1 dann den Logenplatz innerhalb einer labyrinthischen Theoriearchitektonik ein. Das Subjekt ist jetzt Begehren in dessen verschiedenen Masken und Kostümierungen. Und entsprechend der Lacanschen Einteilung des psychoanalytischen Raums – in das Reale, das Imaginäre, das Symbolische – spielt es nun in jenen drei topischen Registern jeweils eine Hauptrolle: als Bedürfnis (besoin), Verlangen oder Anspruch (demande), und schließlich als désir – Triebkraft in der Sprachwelt, kulturelles Gesetz in der symbolischen Ordnung.

Eine explizit marxistische Prägung gewinnt der Begriff des Bedürfnisses erst wieder in der feministischen Kritik Irigarays, die ihre Kritik an den patriarchalisch geprägten psychoanalytischen Kategorien mit einer konsequent gedachten Analogie zur Marxschen Warenanalyse unterlegt. Der These folgend, dass der Frau im Kapitalismus der Status einer Ware zugeteilt wird, reartikuliert sie die Marxsche Idee des das Bedürfnis pervertierenden Begehrens, nun allerdings auf den Tausch von Frauen bezogen. Dem Begriff des Begehrens kommt eine besondere Dynamik zu, als Irigaray ihn als ein Produkt des männlich/weiblich-Dualismus der abendländischen Kultur versteht, als einen, der nur ein allein »männliches« bzw. »mänschliches« Begehren – nämlich Begehren als eine in die Aneignung von »Natur« investierte Arbeit – fassen kann, enttarnt. Das Begehren richtet sich also nicht auf das anzueignende Objekt, sondern auf den Tausch selber, der das bestehende gesellschaftliche System garantiert.

Damit ist die Frage nach dem Zusammenhang von Begehren und Geschlecht eröffnet; eine Frage, die sich nach Irigaray nicht von der bestehenden Gesellschaftsformation trennen lässt, wenn sie das asymmetrische Geschlechterverhältnis als ein integrales Moment der ebenfalls asymmetrischen kapitalistischen Ökonomie ausweist und dessen dualistisches Vergeschlechtlichungsprinzip als ein an (sowieso konstruierten) Geschlechtergrenzen konstruiertes kritisiert.

Ein anderes, kommunistisches, »weibliches« Begehren wäre dann gerade keines, das gegenteilig zum »männlichen« zu entwerfen wäre, sondern vielmehr eines, das »die Frauen« befähigen würde, sich aus ihrem Objektstatus zu befreien. Sich von einem »eigenen« Status »den Männern« gegenüber behaupten zu können, ist also keineswegs das letzte Ziel der Anstrengung: viel weiter reichend lockt ein Begehren, welches die gesamte Subjekt-Objekt-Dichotomie sprengen würde – braucht doch das Subjekt immer ein Objekt, dem gegenüber es sich als Subjekt zu konstituieren vermag. Die Vision eines wahrhaft revolutionären Begehrens, das stärker in seinem Verhältnis zu Gesellschaft Bedeutung erlangt, schimmert auf.

Nicht auszusparen ist allerdings auch die Neubesetzung des Begriffs des Begehrens durch Deleuze/Guattari, die in ihren Gefügen des Begehrens ein gemeinsames, allumfassendes Funktionieren einer Gesellschaftsformation sehen und damit ein völlig neues Bild von Begehren zeichnen.

Die Vision eines reißenden revolutionären Stroms, in den die Gefüge des Begehrens sich verwandeln könnten, wenn sich die Fluchtlinien, an denen entlang das bestehende gesellschaftliche Feld flieht, auf die Revolution ausrichten würden, ist unbezweifelbar aufregend, jedoch erledigt sie – indem sie die Subjekte für nicht-existent erklärt – gleich die Möglichkeit mit, die Individuen in ihrer brüchigen Konsistenz ernst zu nehmen und an ihrer innerlichen Beschaffenheit anzusetzen, um dem kategorischen Imperativ zu folgen, dass Auschwitz sich niemals wiederholen dürfe.#2

Das Problem besteht m. E. trotz der Attraktivität des Begehrens als einer unbedingt verändernden Kraft darin, dass das gesellschaftliche Gewordensein der Einzelnen in seiner Prozesshaftigkeit aus dem Blick geraten ist und damit auch die Möglichkeiten, sich in irgendeiner Weise zu Gesellschaft zu verhalten. Gewordensein bestimmt nicht in dem Sinne, dass es einen ursprünglichen Entwurf von Subjektivität jemals gegeben habe, der dann in einer Gesellschaft anders geworden oder verformt worden sei, sondern vielmehr in dem, dass der Prozess der Einschreibung bzw. der Konstitution aus dem Blick geraten und das Moment der permanenten Rekonstituierung verloren gegangen sind. Diese sich bewusst zu machen halte ich aber unbedingt für eine Voraussetzung für die Umwälzung des Bestehenden.

Deswegen möchte ich – die Vision des reißenden Revolutionsstroms nicht vergessend – mich noch einmal den Entstehungsprozessen von dem widmen, wovon Deleuze/Guattari sich längst verabschiedet haben, und zu dem Vorhaben zurückkehren, das Verhältnis von Identität und Begehren nach einem Potential der Widerständigkeit zu durchforsten.

Zur Konstitution von Identität und Begehren in Beziehungen

Das bisher nicht getoppte Instrument zur Erschließung der subjektiven Strukturen des Individuums, zur Analyse von Interaktionsentwürfen, hat ohne Zweifel zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Psychoanalyse geliefert, als sie die Grundlagen bürgerlicher Subjektivität aufdeckte und analysierte. Die radikale Wissenschaftsumwälzung Freuds lag dabei in der Entdeckung des Triebes, den er jedoch in der Verfangenheit in seinen eigenen naturwissenschaftlichen Szientismus leider biologistisch definierte, »der in Wirklichkeit aber nichts anderes ist als die organismische Synthese der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen des Menschen mit der Natur#3, die er selber ist« (Lorenzer 1984, S. 212). In der Verflüssigung des Bildes vom menschlichen Körper ergab sich die einzigartige Möglichkeit, »Erlebnisszenen und organismische Prozesse zueinander in Beziehung zu setzen« (ebd. S. 162) und durch diese Verknüpfung von Erleben und Leiberfahrungen konnte die Dramatik zwischenmenschlicher Beziehungen nun eine bestimmende Rolle spielen. Diese schuf wiederum die Möglichkeit, die Geschichtlichkeit des Menschen in die vormals naturwissenschaftliche Krankheitslehre einzubringen und damit das Fundament für eine geschichtsmaterialistische Deutung von Subjektivität zu begründen.

 

Die dann aber in der psychoanalytischen Theorieentwicklung über lange Zeit ausgesparte oder vielfach schlicht nicht rezipierte Rückbindung der Konstitutionsbedingungen von Identität an den Produktionsprozess, die z. B. auch Deleuze/Guattari mit ihren Wunschmaschinen propagierten, erfordert aber gar nicht die pompöse Abqualifizierung der Psychoanalyse (und verkennt darin leider auch völlig ihr gesellschaftskritisches Potential). Vielmehr bedurfte und bedarf die Psychoanalyse ihrer Reformulierung als kritischer Theorie des Subjekts, um das Potential zu entwickeln, das auch Adorno in der kritisch-hermeneutischen Methode erkannte. Die drei Hauptthemen der Freudschen Theorie seien allesamt dadurch charakterisiert, »dass in ihnen ein Moment der, ja, sagen wir: Begriffslosigkeit oder, wie man heute sagen würde, der Absurdität, der Irrationalität mit ihrer Relevanz, ihrer Wesentlichkeit für den Begriff sich verbindet.« (Vorlesungen zur ND, 104f).

In der Traditionslinie der Anknüpfung an die Relevanz der Begriffslosigkeit für den Begriff entwarf Lorenzer in Abgrenzung zu idealistischen und positivistischen Theorien wie auch vom Freudschen Biologismus eine psychoanalytisch-materialistische Sozialisationstheorie, die genau zu fassen vermag, wie sich das Erleben in der Auseinandersetzung einerseits mit innerer Natur und andererseits der Einfügung in die konkrete geschichtliche Lage vollzieht und wie sich diese Prozesse im Symbol vermitteln.

Die Bedeutung der Konstitution von Identität und Begehren im Sozialisationsprozess schlummert hier in einer als soziales Verhältnis dechiffrierten Triebstruktur, die Begehren produziert und auf deren Grundlage sich das Gebäude der Identität erhebt.

Das Spannende an diesem Perspektivwechsel liegt in der Möglichkeit, angesichts der dschungelartigen Verfilzungen und Verquickungen von Identität und Begehren weder eindimensional in eine idealistische Annahme eines sich wie durch Zauberhand entfaltenden psychischen Programms zu verfallen noch in die Einbahnstraßen ökonomistischer Gesellschaftsanalyse oder der Suspendierung von widersprüchlicher und damit vielleicht widerständiger Individualität einzubiegen.

Zentrales Argument ist für Lorenzer, dass das Subjekt in materiellen Prozessschritten aus der praktischen Dialektik der Auseinandersetzung mit innerer und äußerer Natur herauswächst, und dass sich diese Dialektik in der Interaktionspraxis zwischen werdendem Subjekt und seinen primären Bezugspersonen abspielt. Das werdende Subjekt wird in unzähligen Interaktionen an gesellschaftliche Normen und Tabus herangeführt, die sich daraufhin in seinem Erleben niederschlagen; der zirkuläre Prozess (über)formt über jede einzelne Interaktion die Interaktionsformen, die sich in ihrer Gesamtheit zur Bedürfnisstruktur des Kindes zusammensetzen. Die Bedürfnisstruktur ist jedoch die Triebstruktur des Kindes, welche somit: voila – als soziales Verhältnis dechiffriert ist, als ein Produkt der praktischen Dialektik der Auseinandersetzung des werdenden Subjekts mit »innerer« und »äußerer« Natur (vgl. Lorenzer 1972, S. 23-55).

Das Begehren ist jedoch integratives Moment eben dieser Triebstruktur: Ob als halluzinatorisch reinszenierter Triebwunsch, ob als Subjekt als besoin/demande/désir, oder als zu investierende »mänschliche« Arbeit des (männlichen) Subjektes in angeeignete (weibliche) Natur (die erst in der Aneignung zu ›Natur‹ wird). Für dieses Begehren lässt sich festhalten, dass es sich als Teil der Triebstruktur in intersubjektiven, interaktiven Beziehungen und in der Aneignung von und Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen heranwächst, wobei vor allem in den Aushandlungen von Beziehungen mit den Bezugspersonen letztere ob ihrer schon ausgeprägten Subjektstruktur ziemlich dominant agieren.

Dabei haftet ihm überhaupt nichts Ursprüngliches oder Unvermitteltes an und jede Verdammung oder Verherrlichung des Begehrens als verderbende oder auch als besonders befreiende Energie verfehlt das Begehren, welches als Produkt der Auseinandersetzung lediglich ein Potential darstellt, das unterschiedlich gewichtet sein kann. Die verschiedene Gewichtung variiert allein schon durch die Aneignung aus unterschiedlichen (Klassen)Positionen bzw. sozialen Orten heraus und wird gleichermaßen durch ethnisierende/rassistische und antisemitische Axiome strukturiert, wie sie auch von der bestehenden Geschlechterordnung beeinflusst wird.

Durch seine tendenzielle Unabgeschlossenheit in der Form birgt es jedoch immer die Möglichkeit der Überformung, Verformung und Entwicklung. Eine Eigenschaft, die im Hinblick auf das emanzipatorische Potential nicht genug hervorzuheben ist.

In der Konstitution von Identität spielen Beziehungen eine notwendige Rolle, insofern sich Identität als eine Ausdifferenzierung und Verdichtung von Knotenpunkten der Beziehungen begreifen lässt (vgl. Lorenzer 1972, S. 45ff). Von Beziehungen ist Identität somit mindestens in ihrem Entstehungszusammenhang, wahrscheinlich aber auch weiterhin nicht ganz zu lösen, beruht ihre Entstehung doch auf Interaktionserfahrungen, die sich im Erleben der Einzelnen niederschlagen und dort in ein Gewebe der bisher erworbenen Interaktionsformen eingeordnet werden.

Um den Preis der egalitären, oder vielleicht besser anarchischen Behälters von Erlebnisinhalten und Interaktionsformen ist Identität jedoch durchaus an der Ermöglichung von Bewusstsein, Abstraktionsvermögen und damit Sprache beteiligt. Jedoch: Durch die Einfügung in ein kollektiv vereinbartes Zeichensystem, welches Sprache darstellt, werden Erlebnisinhalte unter Begriffe subsumiert. Erlebnisinhalte verändern sich aber beim Aufgehen in begrifflichen Konstrukten und lassen die Reste zurück, die in der Klarheit des Begriffes entfallen.

 

Für das Verhältnis von Identität und Begehren ist gerade der letzte Aspekt von bestimmender Bedeutung: Während Identität auf die vereindeutigende Subsumtion von Erlebnisinhalten unter einen Begriff zielt, wird das Begehren gerade durch diese (Fleisch gewordenen) Erlebnisinhalte bestimmt und geht selber wiederum in die Bestimmung des Erlebnisinhaltes strukturierend ein.

Identität konstituiert sich also aus einer vielschichtigen Ausdifferenzierung und geordneter Wiedervereinigung von Interaktionserfahrungen, und ermöglicht über die Abstraktion von der unmittelbaren Situation fiktives Probehandeln, Sprache, und überhaupt: (begriffliches) Denken. Ein zweischneidiges Schwert, welches einerseits die Utopie überhaupt erst denkbar macht – dies allerdings andererseits nur in den Begriffen des Bestehenden, welches das Nicht-Identische mittels Nichtachtung und Ignoranz ins Nichts stürzt und das Bestehende diskursiv erhält und performativ hervorbringt.

Die Interaktionserfahrungen, aus denen sich die Identitäten herausdifferenzieren, verfließen in ihrer Gesamtheit zu einer Bedürfnis- bzw. Triebstruktur und konstituieren ein spezifisches System des Begehrens. Dieses spezifische Begehren steht in einer lebensgeschichtlich vermittelten Verbindung zu allgemeinen, gesellschaftliche Realität gewordenen Tat-Sachen dessen, was in einer bestimmten Gesellschaftsformation an Begehrensbeziehungen die bestimmende Norm ist (Begehrens-Gefüge von Deleuze/Guattari).

Das (spezifische) Begehren als unbestimmtes Potential ist stärker noch als die Identitäten in ständiger – interaktiver – Aushandlung und daher eben in seiner fluiden Struktur so wenig festlegbar. Gleichzeitig hat dieses Begehren seinen nicht gerade kleinen Anteil an der Identitätenbildung, welche sich in der Auseinandersetzung des Subjekts mit den in der Praxis gesellschaftlichen Realität gemachten Erfahrungen und in seiner Aneignung von äußerer und innerer scheinbar natürlicher Realität vollzieht. Da sich das Begehren jedoch stärker als Identität aus unbewussten, nicht-verbalisierbaren Energien speist, ist sich seinem imperativen Drängen schwieriger zu widersetzen.

Die reflexive – subjektiv-begehrliche und identifizierend-begriffliche Aspekte notwendig mit einschließende – Auseinandersetzung mit Begehren wie Identität ist von leicht zu unterschätzender Wichtigkeit für eine zielgerichtete Veränderung der bestehenden Begehrensformationen. Da sich Identität wie Begehren gleichermaßen in Beziehungen konstituieren und überformen, ist die Reflexion darüber schlicht nicht von diesen Produktionszusammenhängen zu trennen, sondern im Gegenteil verstärkt in diese hineinzuverlegen. Dies kann jedoch nur ohne verzerrende Wirkung geschehen, wenn dabei nicht aus dem Blick verloren wird, dass diese Beziehungen sich in Gesellschaft ereignen und Teil eben dieser Gesellschaft sind.

So what?

So nun ein Potential zur revolutionären Veränderung im spannungsreichen Verhältnis von Identität und Begehren auszumachen ist, muss dessen Reflexion an Beziehungen als Produktionszusammenhängen und damit an Interaktionsformen ansetzen. Dabei ist der Gefahr des politischen Aktionismus, der Einfrierung der für Bewusstseinsänderung notwendigen Problematisierung der Interaktionsformen nur zu entgehen über die konsequente Reflexion nicht nur einer ausgewiesenen »politischen Praxis«, sondern in dem erweiterten Verständnis des Politischen, welches die im Alltag herumgenudelte, selbstverständliche, oft mit dem Vorhängeschild »privat!« ausgewiesene Praxis nicht aus einer vermeintlich besonders »politischen« herausdividiert.

Gleichwohl ist eine Veränderung der Interaktionsformen nie von den gesellschaftlich-objektiven Bedingungen zu lösen, genauer gesagt: eine reflektorische Auflösung überständiger Interaktionsanweisungen, d.h. Interaktionsformen kann keinesfalls die von objektiven politisch ökonomischen Strukturen gesetzten Schranken gesamtgesellschaftlicher Praxis sprengen, ohne dass sie an auf Veränderung zielende politische (Alltags-)Aktionen gekoppelt wäre. Das führte sonst lediglich gerade wieder auf den breit ausgelatschten Trampelpfad der selbstreferentiellen Theorieschmusestündchen, in denen sich Widersprüche immer so schön auflösen können, oder öfter noch: in denen die Widersprüche einfach trotz des schmerzverzerrten Blickes der Linksintellektuellen letztlich ganz gut ausgehalten und ausgetragen werden können. Hier gilt es, die »Zwecklosigkeit der in illusionäre Phantasiezirkel eingefangenen Selbstbefriedigung einer (für die Änderung realer Bewusstseinsbedingungen folgenlosen, weil von politischer Praxis abgetrennten) Freisetzung gebundener Phantasie zu durchschauen« (Lorenzer 1972, S. 123), den Zusammenhang zu rekonstruieren und wieder herzustellen.

Innerhalb eines solchen Reflexionsrahmens lässt sich der zweigesichtige »Rückzugsraum Beziehung« in einer Weise verhandeln, die über die Scheinwahrheit des Wissens über das hinausgeht, was und wie eine von einer bestimmten (Selbst-)Zuschreibung von Identität ausgehend sein möchte und was sie begehrt. Im Anerkennen des Gewordenseins der eigenen Triebstruktur und im Wissen um die Möglichkeit der langfristigen Überformung eröffnet sich ein Raum, in dem nicht nur Begrifflich-Identifizierendes (Begrifflich-Identitäres) verhandelt werden kann, sondern in dem weitgreifender dem Zusammenhang des zu Identifizierenden mit Begehrensstrukturen nachgegangen werden kann. Letztere sind zwar in großen Teilen gesellschaftlich präformiert, haben aber eine ganz spezifische Brechung durch die individuelle Aneignung eines bestimmten Subjektes erfahren – und hier liegt die Ebene einer möglichen Anknüpfung einer emanzipatorischen, reflexiven und zugleich Praxis verändernden Diskussion. Die Überlegungen darüber, wie Beziehungen angefeuert und zugleich chloroformiert werden von sich in der begehrenden Triebstruktur des Leibes materialisierten Konstrukten von Identität, können so in alltäglichen – und damit selbstredend: politischen! – Auseinandersetzungen eingebracht und dort verhandelt werden, ohne dass ein allein begrifflich-identifizierendes Skalpell das »Sachliche« vom »Unsachlichen«, »Emotionalen« trennen muss. Dann könnte das, was als Erlebnisinhalt nicht in den Kategorien begrifflich differenzierender Sprachakte aufgehen kann und deswegen nur unbewusst in die Triebstruktur eingehen kann, einen Raum der Artikulation finden.#4 Hier würden die identitären Bestrebungen in der Struktur wahrgenommen, um sich in der Erforschung derselben trotzdem auf den auch darin angelegten strukturellen Mangel an Befriedigung zu konzentrieren.

 

Was könnten solche Reflexionen für die Praxis von Beziehungen, für Beziehungen sein? Das Unbestimmte begehren? Sich nicht einlassen auf (identitäre) Vereindeutigungen? … in der Beziehungsform? – hier kann dann allein von Bedeutung sein, dass sich keine starren, aber leeren Formhülsen etablieren; niemandem mehr zu erlauben, auch in RZBs zu leben, wäre eine ebensolche unzulässige Vereindeutigung wie das Primat der RZBs selbst, welches in der bestehenden Gesellschaft vorherrscht. Aber genauso, wie RZBs ernsthaft aushandelbar bleiben sollen, müssen Freundinnenschaften ernst genommen, kritisiert und ausgehandelt werden, müssen Identitäten als »Freundin« – als »zickige«, »gutmütige«, »brilliante«, »ängstliche«, »eifersüchtige«, als »wahnsinniges Genie« – von ihrem Etikettierungstrip herunterkommen, insgesamt fluide in ihren Strukturen und dabei beweglich werden …

An einer solchen Stelle zeigt sich auch deutlich, welche Funktion das (Aus)Sortieren von unterschiedlichen Beziehungsformen innehat: Wenn die RZBs, die besten Freundinnen und die restlichen Freundinnen jeweils in kleine Häufchen sortiert werden, folgt daraus logisch auch das Sortieren von Bedürfnissen und Begehren.

Die Schwierigkeit besteht dann wahrscheinlich darin, in den aufzulösenden identitären Verfestigungen tragfähige Beziehungen zu erhalten, die der ohnehin schicken Vereinzelung ein flirrendes Netz aus wild gewordenen Bindungen, Ansprüchen, Verantwortlichkeiten und einer ganz anderen Sicherheit entgegenzuhalten vermögen. Denn der drohende Verlust der sonst so verfemten Sicherheit ist schließlich nicht unwesentlich daran beteiligt, die Einzelnen mit ihrem Begehren immer wieder panisch in die offiziell verdammt uncoolen RZBs zu treiben …

Da wir aber leider keinen Sprung in ein völlig neues Begehren und in einen nicht mehr identifizierenden Bewusstseinszustand machen können, bleibt es wohl für die praktische Reflexion unerlässlich, die vorhandenen Vereindeutigungen erst mal als gewordene zu akzeptieren, die sich nicht einfach so von jetzt auf sofort umschmeißen lassen – und sie gleichzeitig konsequent im Blick zu haben und auf unterschiedlichsten (Irr)Wegen versuchen, sie anzugehen. Gerade die unliebsamen Gefühle, die eher mit der reaktionären Gesellschaft assoziiert werden, wie Eifersucht und Bedürfnisse nach Sicherheit, lassen sich aufgrund ihrer Verwurzelungen in die Produktionszusammenhänge gesellschaftlicher Subjektivitäten leider nicht einfach so kicken. Bei solchen Versuchen drängen die geächteten Gefühle meist durch die Hintertür (des Unbewussten) nur umso mächtiger zurück – und plötzlich muss für eine abgrundtiefe Aversion einer Person einer anderen gegenüber eine politische, unheimlich »sachliche« Begründung gefunden werden, womit wir wieder bei den raffinierten Spaltungsprozessen angekommen wären. Die Gefühle, die sich sonst gelegentlich auf einer schwarzen Liste für Linke ansammeln, müssten also in ihrer (leider notwendigen) Verstümmelung trotzdem erst einmal ernst genommen, dann reflektiert und bearbeitet werden.

Die Angst und die Lust, die immer wieder dazu verleiten, sich hinter hohler Identität zu verschanzen, ist schließlich eher die Regel, und hier muss das selbe Argument in anderer Reihenfolge gelten: Eine über Reflexion und emanzipatorische Diskussion angestrebte Änderung der Interaktionsformen kann nicht in letzter Konsequenz funktionieren, ohne dass gleichzeitig über politische Aktionen an den gesellschaftlich-objektiven Verhältnissen gebohrt wird. Denn es ist nicht bloß der gesellschaftliche Konsens, der mit einem »falschen Zitat« irritiert wird und auf unangenehme Art und Weise mit seinen selbst produzierten Normen konfrontiert wird – auch das irritierende Moment, so es sich in einem Subjekt verknotet oder von einem Individuum bewusst politisch intendiert herbeigeführt wird, ist für das Subjekt schmerzhaft und produziert hochkarätigen Leidensdruck durch die Schmach, in einer Gesellschaft das Geächtete zu zelebrieren. Was übrigens nicht zwangsläufig bedeutet, dass eine besser damit bedient wäre oder dass es weniger Schmerzen bereiten würde, das Erwünschte zu tun.

Die Erkenntnis, dass es in der bestehenden Gesellschaft keinen »adäquaten« Ausdruck für einen Gefühlszustand oder für die Nicht-Orte, das Unbewusste, das Nicht-Identische geben kann, ist zwar wirklich nicht besonders neu, trotzdem aber von übermächtiger Aktualität. Die Analyse ist fortzusetzen.

 

Julia König

 

 

*.notes:

  

1__: Eine begriffliche Entwicklung, die übrigens ziemlich lapidar durch die deutsche Rückübersetzung des französischen désir, in welches der Wunsch übertragen wurde, entstand.

 

   2__: Das Moment, welches nach Auschwitz die Wendung aufs Subjekt bei Adorno begründete.

 

    3__: Der Naturbegriff ist in diesem Zusammenhang in Anschluss an Horkheimer und Adorno zu lesen und keinesfalls essentialistisch oder naturalistisch misszuverstehen (mehr dazu z. B. in Schmid-Noerr 1990).

 

    4__: Die Vorstellung einer »Artikulation« dessen, was als (unbewusster) Erlebnisinhalt nicht in den differenzierenden Kategorien begrifflicher Sprachakte aufgeht, ist im Bestehenden leider in den Bereich der Utopie verwiesen und in seiner Nähe zum Adornoschen Nicht-Identischen zu verstehen. Ein Missverständnis einer rationalistische Interpretation des Freudschen »Wo Es war, soll Ich werden« im Sinne der Ich-Psychologie wäre hier vehement auszuräumen (vgl. auch Lacan 1966, S. 175ff).

 

 

*.ref:

 

   Adorno, T. W. (2003): Vorlesung über Negative Dialektik. Frankfurt a. M.

 

    Butler, J. (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M.

 

   Deleuze, G. (1996): Lust und Begehren. Berlin

 

   Deleuze, G./ Guattari, F. (1974): Anti-Ödipus. Bd. I, Kapitalismus und Schizophrenie. Frankfurt a. M.

 

    Freud, S. (2000): Die Traumdeutung. StA Bd. II. Frankfurt a. M.

 

   Freud, S. (1920): Jenseits des Lustprinzips. In: ders. (2000): Psychologie des Unbewussten. StA Bd. III. Frankfurt a. M.

 

   Irigaray, L. (1979): Frauenmarkt. In: dies.: Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin

 

   Lacan, J. (1973/75/79): Schriften I – III. Olten

 

   Lorenzer, A. (1972): Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie. Frankfurt a. M.

 

   Marx, K. (1962): Das Kapital Bd. I. Berlin