Sexualwissenschaft als Privatangelegenheit

 

Der Fachbereich Medizin an der Goethe-Universität hat das renommierte Institut für Sexualwissenschaften zur Disposition gestellt. Am 5. Januar sollte bei einer Sitzung des Fachbereichsrats Medizin entschieden werden, ob die Stelle des scheidenden Direktors Volkmar Sigusch erneut besetzt und damit die Existenz des Instituts langfristig gesichert werde. Da dieser Teil der FBR-Sitzung öffentlich war, konnten wir als interessierte Zeitgenossinnen Zeuginnen für ein Lehrstück in moderner Wissenschaftspolitik sein, das wir den werten diskus-Leserinnen nicht vorenthalten wollen.

Mit einem an Demagogie grenzenden Maß an Rhetorik ist hier das lange zuvor beschlossene Aus für das Institut für Sexualwissenschaften besiegelt worden. Anatomen, Radiologen, Pathologen, saßen, wie ein anwesender Journalist der Süddeutschen Zeitung später schrieb, hier über ein Fach zu Gericht, das jährlich weniger als 500 000 Euro aufwendet, und erklärten es für überflüssig: Auch er, so sagte z. B. ein Gynäkologe, sei in seiner klinischen Praxis tagaus tagein mit sexuellen Problemen konfrontiert – aber »operativ« habe man die doch gut »im Griff«, und die Psychiatrie sei schließlich auch noch da (vgl. Volker Breidecker: Und das geschlechtliche Elend dauert fort und fort, in: Süddeutsche Zeitung vom 9. Januar 2006).

Die Aufforderung an Sigusch, externe Geldgeber für den Unterhalt des Instituts zu finden – und nur dann werde der Fachbereich auch möglicherweise einen nicht-maßgeblichen Anteil der Finanzierung übernehmen – ist angesichts der aktuellen Situation als de-facto-Abwicklung des Instituts zu werten. Der Diskussionsverlauf und die Mehrheitsverhältnisse in der Abstimmung – nur die Direktorin des neugegründeten Zentrums für Gesundheitswissenschaften, die Arbeitsmedizinerin Prof. Gine Elsner, und die Nicht-RCDS-Studierendenvertreterinnen stimmten gegen die Beschlussvorlage von Pfeilschifter – machten die Prioritäten in der Professorinnenschaft am Fachbereich Medizin und ihr Desinteresse an der Weiterführung des Instituts frappierend deutlich. Der dabei immer wiederkehrende Verweis auf die beschränkten Finanzmittel ist dabei nichts anderes als die kaschierende Schutzbehauptung für die gewollte Neuausrichtung des Fachbereichs. Dieser Fachbereich würde im Zweifelsfall eher noch einen weiteren unbenutzten Computer-Tomographen anschaffen, als einen kritischen Geist in seinen Reihen zu finanzieren. Die Argumente von Sigusch über die Wichtigkeit des Instituts auch für die Zukunft wurden bei der Sitzung schlichtweg ignoriert, nachdem man der national wie international herausragenden Bedeutung von Person und Institut zwar zugestimmt, sie aber zugleich für irrelevant erklärt hatte.

In dem erheblichen öffentlichen Interesse an dem Institut und den Vorgängen um seine Abwicklung glaubten die Herren Professoren dann sogar das Argument gefunden zu haben, mit dem sie die Zerschlagung zugleich forcieren und von ihrer eigenen Verantwortung ablenken könnte: das Institut bzw. das Zentrum für Gesundheitswissenschaften soll externe Stifter besorgen, nicht der Fachbereich will sich qua institutionellem Einfluss um Förderer bemühen oder um zusätzliche öffentliche Finanzmittel kämpfen. Was ist von dem Argument zu halten, das öffentliche Interesse an den Fragestellungen und Ergebnissen der Sexualwissenschaft/ Sexualmedizin schaffe die Voraussetzung für eine private Finanzierung? Der Vizepräsident der Frankfurter Universität, Jürgen Bereiter-Hahn, nannte den Beschluss des Fach-bereichsrats (lt. FAZ vom 6. Januar 2006) eine »weise Entscheidung« und setzte dem ganzen argumentativ noch die Krone auf: Als mögliche Sponsoren des Instituts sieht er beispielsweise »Gruppierungen von Menschen, deren Sexualität nicht im Normbereich liegt« (ebd.).

Gerade angesichts des hier erkennbaren mangelhaften Verständnisses der Rolle der Öffentlichkeit in einer Demokratie müsste das Institut für Sexualwissenschaft als Korrektiv fortgeführt werden, um die Möglichkeiten einer kritischen Ausbildung innerhalb der Professorinnen- und der Studentinnenschaft zu erhalten. Zum mangelnden Verständnis der Rolle der Öffentlichkeit bei den Medizinerinnen passt die mehrfach in der Sitzung wiederholte Frage, wozu man die Sexualwissenschaften – wo es doch die Gynäkologie, die Urologie und die Psychiatrie gibt – brauche, zumal sie zur Erfüllung der in der Approbationsordnung vorgeschrieben Lehrinhalte nicht notwendig und deshalb im Fachbereich verzichtbar sei. Notwendig wäre also, die Approbationsordnung wegen dieses Mangels kritisieren und erst recht dafür zu plädieren, das Institut fortzuführen, um damit die Voraussetzungen zu schaffen, diese Ordnung und damit die Ausbildung der Medizinerinnen entsprechend zu verbessern. Stattdessen wird der Sachverhalt dazu benutzt, die Residuen (gesellschafts-)kritischen Geistes in der medizinischen Wissenschaft und Ausbildung weiter abzuschneiden. Die anwesenden »Klinikfürsten« wie auch der RCDS-Vertreter der Studentinnenschaft bewiesen durch ihre bornierten Einschätzungen das Gegenteil von dem, was sie eigentlich mitteilen wollten: wie wichtig nämlich nach wie vor Fächer wie die Sexualwissenschaft gerade innerhalb des Fachbereichs Medizin sind, weil sie die fachwissenschaftlichen und naturwissenschaftlich-pragmatischen Grenzen und Reduktionismen thematisieren und kritisch reflektieren. Nichts wäre im Moment nötiger in der universitären Medizin als dieses.

Das passt ins Bild einer Fachbereichspolitik, die auch in der jüngeren Vergangenheit immer wieder Chancen genutzt hat, ihre aufklärerischen Komponenten abzuschneiden, wo sie das kann – siehe die Neubesetzung der Medizinischen Psychologie, also des ehemaligen Lehrstuhls von Lukas Möller, durch einen Neuro-Wissenschaftler, die dann auch folgerichtig zur »Entsorgung« der Institutsbibliothek führte – mit dem Argument, dass die Bücher älter als zehn Jahre seien(!). Vor dem Hintergrund des öffentlich bekundeten Interesses an diesen Vorgängen (vgl. Friederike Tinnappel: Bibliothek von Therapeut Möller »entsorgt«, in: Frankfurter Rundschau, 25. Mai 2005) bemühte sich Dekan Pfeilschifter auch, darauf hinzuweisen, dass die Institutsbibliothek nach der Schließung des Instituts für Sexualwissenschaft erhalten bleibe. Mal sehen, wie sich hier die Fakten noch entwickeln werden. Zumindest Skepsis ist sicher angebracht.

In jedem Fall ist der Erfolg bei der Entsorgung von Kritik und das fehlende Verständnis bzw. das fehlende Interesse an der aktuellen Entwicklung im Fachbereich Medizin auch daran erkennbar gewesen, dass von den sechs Instituten, die kürzlich im Zentrum für Gesundheitswissenschaften zusammengefasst wurden, neben Sigusch selbst nur der Leiter des Senckenbergschen Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin, Benzenhöfer, auf der Sitzung anwesend war, jedoch nicht die Leiter der ebenfalls zum Zentrum gehörenden Institute für Medizinsoziologie, Allgemeinmedizin und medizinische Psychologie... Offensichtlich reicht das politische Verständnis des eigenen Tuns bei jenen nicht einmal über den Tellerrand des einzelnen Institutsgeschehens hinaus.

 

Samuel Arret

 

[Anmerkung: die Abwicklung des Institutes ist inzwischen, Mitte August, beschlossene Sache, weiß die/der Setzerin.]