Things. Places. Years.

Rezension

 

Im Dezember 2005 machte ich eine eigenartige Entdeckung in der Auslage eines Cafés, in dem ich jeden Dienstag mit FreundInnen sitze. Wie überall wimmelte es von Nikoläusen oder Weihnachtsmännern, was auch immer der Unterschied ist, und kaum bezahlbarem Gebäck. In meinem Café aber waren die Nikoläuse nicht rot-weiß, und sie sahen auch nicht froh und munter aus. Sie trugen lange braune Schokoladenmäntel, braune Mützen ohne Fellrand und unter dem linken Arm eine etwas armselig wirkende Tanne aus Plastik. Was mich an ihnen aber derart faszinierte, dass ich im Eingangsbereich auf dem Weg zu meinem Platz stehen bleiben musste, um sie, wie sie da aufgereiht standen, anzustarren, war der große, sechszackige, gelb gefärbte Marzipanstern, der an ihren Mänteln prangte. Zunächst versuchte ich mir irgendeinen Reim auf dieses groteske Bild zu machen, verzweifelt und zugleich belustigt blickte ich mich um, wahrscheinlich auf der Suche nach weiteren Schaulustigen, mit denen ich die Lage besprechen könnte. Es schien jedoch niemand zu bemerken, dass den altmodischen Nikoläusen hier offenbar zufällig jenes Symbol angeheftet wurde, dessen Einführung am 19. Sept. 1941 laut Viktor Klemperer »(...) der schwerste Tag der Juden in den zwölf Höllenjahren (bedeutete)«.#1 Seither hat der von Katherine Klinger geprägte Ausdruck »the presence of the absence« (vergl. »Things Places. Years«, S. 12), die Anwesenheit der Abwesenheit, für mich eine ganz eigene Illustration.

 

»The presence of the absence« ist ein zentrales Thema des Buches »Things. Places. Years« der Österreicherinnen Simone Bader und Jo Schmeiser, zusammen Klub 2. Es hat den Holocaust zum Thema, doch es ist keine Zeitreise in die Vergangenheit. Das Buch »Things. Places. Years.« begibt sich wie der gleichnamige Film auf die Suche nach den Spuren der Vergangenheit in der Gegenwart. Wie wirkt sich der Völkermord an den Europäischen Juden auf das Leben und Erleben der Überlebenden und deren Nachkommen heute aus? –

In einer Gegenwart, in der die Vergangenheit höchstens ritualisiert an Gedenkstätten und sonst nur als Abwesenheit ihrer selbst zu finden ist. Die Mehrheit der zwölf, von Klub 2 interviewten Frauen sind Jüdinnen, die entweder selbst oder deren Eltern aus Österreich fliehen mussten, und deren eigenes Leben, deren Identität stark durch den Holocaust beeinflusst sind, und die sich auch wissenschaftlich mit dem Thema auseinander setzen. In »Things. Places. Years.« erzählen sie, die in London leben und dort interviewt wurden, allerdings nicht ihre Lebensgeschichten, sondern vermitteln ihre Ansichten und Erfahrungen durch Antworten auf Fragen bzw. Stichworte, deren Auswahl eigentlich die einzige offensichtliche Spur ist, die Klub 2 in diesem Werk hinterlassen hat. Die Unterschiede zwischen den Protagonistinnen werden durch ihre fragmentarischen Geschichten so deutlicher herausgehoben als ihre Gemeinsamkeiten. Jede einzelne Antwort gewinnt den Stellenwert eines Statements. Ihr Inhalt mit seiner Tragweite wird deutlicher, als er es könnte, wäre er jeweils Teil einer chronologisch erzählten Lebensgeschichte. »Und wenn jemand mit einer Großmutter oder einem Großvater zur Schule kam, schauten wir sie alle an, als wären es seltene Tiere im Zoo, denn wir hatten keine Ahnung, wie das war.«#2

 

Im Vordergrund steht nicht der Horror, dem die interviewten Frauen oder ihre Vorfahren während des Holocaust ausgesetzt waren, sondern die Erfahrung in der Gegenwart, die er mit sich bringt. Die Antworten sind nicht immer spontan geäußerte Assoziationen oder Gefühle, sondern oft Ausdruck einer eingehenden, intellektuellen Beschäftigung mit den Themen Holocaust, Identität, Tradierung, um nur einige zu nennen, und gleichzeitig sind sie größtenteils sehr persönlich.

Das Buch ist eine außergewöhnliche, interessante Sammlung an Antworten und Überlegungen, die ein Leben mit dem Holocaust in der Gegenwart vermittelt. Nach der Bedeutung des »Holocaust Memorial Day« gefragt, antwortet Ruth Sands unter anderem: »Ohne düster klingen zu wollen – für mich ist jeder Tag meines Lebens ein Holocaust Gedenktag.« Und wer den Film gesehen hat, weiß: sie klingt nicht düster.

 

Außerdem vermag die Sammlung der sehr unterschiedlich ausfallenden Antworten den vorherrschenden Definitionen von so elementar identitätsstiftenden Konstrukten wie »Heimat« gnadenlos den Boden unter den Füßen wegzuziehen, während die Tragweite ihres Verlustes deutlich erkennbar bleibt. Denn, ohne dass das Wort Heimat jemals fallen würde, ist doch ganz deutlich, um welchen Ort es geht. »Ein Gefühl der Verwurzelung habe ich nie gekannt. Also hat es für mich den einen Ort, an dem ich besonders hänge, nie gegeben. Ich mache aus jedem Ort, an dem ich bin, das Beste. (...) Im Allgemeinen möchte ich verbessern, was immer ich vorfinde. (...) Deshalb bemühe ich mich, den Ort, den Raum und die Zeit, in der ich lebe, zu verbessern. Aber ich bin nicht darin verwurzelt.« ( S. 293, Elly Miller)

»Vielleicht habe ich ja ein wenig meine Zweifel an der Vorstellung, es würde nichts ausmachen, dass wir keine Wurzeln haben. Das ist das Ideal, aber angesichts all der Kriege, die um Territorien geführt werden, glaube ich, dass es uns tatsächlich nicht wirklich gelingt, von Dingen und Orten emotional unabhängig zu sein.« (S. 295, Tamar Wang, Elly Millers Tochter) Und es wird deutlich, dass es eine Heimat um so weniger geben kann, wenn es sie einmal gab. »(...) Und ja, wenn ich an Wien denke, dann habe ich nur ein einziges Gefühl, und das ist Schmerz. Doch dieser Schmerz hat mit mir und meinem Alltag wenig zu tun. Viel eher geht er in diese Richtung: ›Was wäre ich heute, wenn...?‹ Denn das habe ich mich sehr oft gefragt: ›Wenn nichts geschehen wäre, was wäre ich dann heute?‹ Auf jeden Fall wäre ich nicht in London. Wien bedeutet Schmerz. (...)« (S. 228, Ruth Sands)

 

Fraglos ist das Buch Zeugnis dafür, dass der Holocaust das Leben der interviewten Frauen der 1. und 2. Generation beeinflusst, verändert oder bestimmt hat und wie sie darüber nachdenken. Diese Tatsache an sich sollte darauf verweisen, wie der Holocaust das Leben der Täter_innen und deren Nachkommen beeinflusst und bestimmt hat und wie wenig sie darüber nachdenken. Ich bin mir aber nicht sicher, ob  es sich tatsächlich um den Anfang eines Dialogs handelt, zwischen den Nachkommen der Ausgegrenzten und Verfolgten sowie den Nachkommen derer, die für ihre Ausgrenzung und Verfolgung verantwortlich sind, wie im Nachwort von Antke Engel behauptet. Weil bedauerlicher Weise nicht näher darauf eingegangen wird, inwiefern dieses Buch einen solchen Dialog anstößt, ensteht bei mir der Eindruck, dass hier mehr ein Wunsch geäußert wird. Und so bleibt es empfehlenswert, das Buch unter dem Gesichtspunkt zu lesen, wie ein solcher Dialog aussehen könnte, und was die Nachkommen der Täterinnen nicht nur über die Vergangenheit anderer, sondern auch über die eigene wissen sollten. Tatsächlich ist doch ihre Auseinandersetzung mittlerweile eine offen empathische Annäherung an die Eltern und Großeltern, falls nicht gerade rundheraus abgelehnt wird, sich mit der eigenen Geschichte zu befassen.

Wie sehr der Holocaust für die Mehrheit der Deutschen Historie geworden ist, wie sehr die ohnehin klägliche Erinnerung an die jüngste Geschichte aus der Gegenwart gestrichen worden ist, wird offensichtlich, wenn das »deutsche Volk« via nationaler »Mutmacher-Kampagne« dazu aufgefordert wird, nicht nur auf der Autobahn Gas zu geben (siehe www.du-bist-deutschland.de) oder daran, dass das Recht auf politisches Asyl in Deutschland faktisch nicht mehr gewährt wird. Gleichzeitig lässt sich im Zuge der »Normalisierung« Deutschlands eine Instrumentalisierung der Geschichte beobachten, die es ermöglicht, dass die Nachfolgeorganisation der Wehrmacht gen Osten marschiert, ein zweites Auschwitz zu verhindern, während die Hauptstadt mit dem Holocaust-Mahnmal eine weitere Sehenswürdigkeit ihr eigen nennen kann.

 

Kris

 

 

Klub Zwei (Hg), Things. Places. Years. Das Wissen Jüdischer Frauen, Innsbruck 2005

 

 

1__: Klemperer Victor, 1975, LTI, Leipzig, S. 213.

 

2__: Thing. Places. Years. S. 142, Nitza Spiro. Übersetzung der Zitate: Erika Doucette, Johanna Schaffer, Jo Schmeiser.