Ohne Maß und Ziel

Peter Eisenmans Mahnmal für die Ermordeten Jüdinnen und Juden Europas

 

Das am 10. Mai letzten Jahres in Berlin eingeweihte Mahnmal für die Ermordeten Juden Europas stellt in zweifacher Hinsicht einen Kompromiss gegenüber dem siegreichen Wettbewerbsentwurf dar. Die Autoren dieses Entwurfs, der Architekt Peter Eisenman und der Bildhauer Richard Serra, wollten ursprünglich ein Feld von 4000 Stelen anlegen, und sie wollten auf jede didaktische Erläuterung verzichten. Realisiert wurde ein um ein unterirdisches Informationszentrum erweitertes Feld von 2711 Stelen. Serra, der diesen Kompromiss nicht mitzutragen bereit war, zog sich 1998 von dem Unternehmen zurück; Eisenman hat seinen Widerstand gegen das Informationszentrum in der Rede zur Eröffnung des Mahnmals als Irrtum bezeichnet. Er hat damit allerdings den Kern seiner Architekturauffassung nicht aufgegeben, nach der die Architektur als Baukunst autonom, d. h. von jeder außerarchitektonischen Zwecksetzung frei sei: »Für mich beginnt Architektur erst jenseits aller Aufgabenerfüllung.«#1

Der folgende Beitrag fragt nach dem Zusammenhang zwischen Eisenmans Konzeption einer autonomen Architektur und dem von ihm entworfenen und ausgeführten Stelenfeld – einem Bauwerk, das sich der Aufgabe stellt, Mahnmal der ermordeten Juden Europas zu sein. Beantwortet wird die Frage im Rückgang auf die Architektur des Mahnmals sowie auf Eisenmans weitere Architektur; wenn die explizit politische Auseinandersetzung um den Bau dabei unthematisch zu bleiben scheint, rechtfertigt sich das in der Freilegung der ihm implizit eingeschriebenen Politik. Sie ist eine Politik der Architektur selbst, eine innerarchitektonische Politik: ein Kampf gegen die, um die und in der Architektur. Einer knappen Beschreibung des Stelenfeldes und der Erläuterung des Entwurfsprozesses folgt eine   Diskussion des Eisenman’schen Dekonstruktivismus in seinem Verhältnis zur philosophischen Dekonstruktion vor allem Jacques Derridas. Schließlich führt die Erfahrung eines Gangs durch das Stelenfeld die Deutung des Mahnmals zurück zur Autonomie der Architektur, die für Eisenman darin beruht, Erfahrungen bereit zu stellen, die andere «Kulturformen» wie z. B. die Literatur oder der Film nicht liefern können.#2

Das Stelenfeld

Das Holocaust-Mahnmal in Berlin ist den jüdischen Opfern des nationalsozialistischen Terrors gewidmet und liegt unübersehbar als riesiger Fremdkörper im Zentrum Berlins, zwischen Brandenburger Tor, Potsdamer Platz und dem ehemaligen Reichstag. Hier ließ sich Joseph Goebbels 1937 eine Dienstvilla samt Bunker errichten. Im Zuge des Mauerbaus 1962 war das gesamte Gelände planiert worden und lag dann direkt auf dem Todesstreifen.

Der letztlich realisierte «Eisenman-II-Entwurf» belegt das Grundstück mit 2711 grauen, scharf konturierten Betonpfeilern, die in einem parallelen Abstandsraster von 95 cm aufgestellt sind. Sie sind 95 cm breit und 238 cm tief und ragen in kaum merklichen und zugleich unterschiedlichen Neigungswinkeln zwischen 30 cm und fünf Metern hoch aus dem Boden. Die Stelen erheben sich auf einem gleichzeitig sanft geböschten wie unregelmäßig abgesenkten Gelände von 19. 000 Quadratmetern Fläche, an dessen Westseite, zum Tiergarten hin, in lockeren Gruppen 41 Bäume gepflanzt wurden. In der südöstlichen Ecke des Felds liegt der unterirdische «Ort der Information», in dem auf achthundert Quadratmetern eine von Dagmar von Wilcken konzipierte Ausstellung präsentiert wird. An den Rändern nimmt die Stelendichte ab und nivelliert sich dabei bis auf Bodenniveau; der Boden selbst ist mit Kopfsteinpflaster belegt, für Rollstuhlfahrer_innen wurden spezielle Passagen markiert. Das trapezförmige Areal mit Seitenlängen von etwa 120 auf 160 Metern ist nicht umzäunt, hat keinen Eingang und keine Mitte und ist deshalb von allen Richtungen begehbar: zwischen den Stelen führen schmale Gänge immer tiefer in das unregelmäßig abgesenkte Gelände.

Vom ersten Augenschein her könnten die Stelen als Gräber oder Sarkophage gedeutet werden, doch eine solche Deutung geht am Eisenmanschen Entwurf vorbei, der jeden symbolischen Gehalt und jede Darstellungsfunktion ausdrücklich zurückweist und dies nicht nur mit seiner Konzeption autonomer Architektur, sondern auch mit der Bauaufgabe begründet: »Der höchste symbolische Akt der Architektur war die Erinnerung an ein individuelles Leben durch ein Steinzeichen, ein Kreuz, einen Stern. (...) Nach dem Holocaust und nach Hiroshima, seitdem das Individuum nicht mehr sicher sein kann, dass sein individuelles Leben durch ein einzelnes Zeichen markiert wird, hat sich die Idee der Erinnerung und des Monuments verändert, (...) muss die Architektur die Frage der Darstellung und des bildlichen Ausdrucks überdenken.«#3 Ein dem Holocaust angemessenes Monument kann für den Architekten deshalb kein Symbol, keine Darstellung, kein Bildwerk, überhaupt kein der geläufigen Wiedererkennung vertrautes architektonisches Element sein – hier also: kein Grab oder Sarkophag.

Was architektonische Elemente zu sein scheinen, sind keine. Die Erläuterung dieser begehbaren Raumstruktur kann deshalb mit der Benennung ihrer Verneinungen und Zurückweisungen beginnen: Das Stelenfeld ist kein Bau, es schützt nicht vor Witterungseinflüssen. Hier ist nichts dargestellt, es gibt keine Bilder, weder figürliche noch gegenstandslose, keine Symbole sind zu erkennen, weder Namen zu lesen, noch Proklamationen zu unterschreiben. Es gibt nichts zum Mitmachen. Allerdings soll es, wie Eisenman ausdrücklich erklärt, gerade deshalb »Spur« und insofern eben Mahnmal sein. Unter »Spur« versteht er mit Jacques Derrida eine nicht-symbolische, nichts darstellende, nichts abbildende Anwesenheit von etwas Abwesendem. Der Begriff kann dabei zunächst durchaus wörtlich verstanden werden: welche einen Abdruck im Boden als Spur deutet, liest, was sie unmittelbar vor Augen hat, ein Faktum, eine Gegebenheit. Zugleich macht sie sich eine Vorstellung von dem, was sie hinterließ, vergegenwärtigt ihn, sie oder es als jemanden, der/ die/das nicht mehr da ist, sich schon entfernt hat. Der Abdruck im Boden markiert deshalb nicht nur den Raum, sondern auch die Zeit, er ist selbst eine Spur der Zeit und also der Geschichte. Für Eisenman wie für Derrida ist dabei allerdings entscheidend, dass eine Spur zeitlich nicht einfach nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft verweist, dass sie nicht nur vergegenwärtigt, was vergangen ist, sondern auch Spur dessen sein kann, was (anders) kommen könnte: »Erinnerung ist nicht Nostalgie. Erinnerung ist auch der Versuch, die Vergangenheit in die Gegenwart zu bringen, als ob sie die Zukunft wäre.«#4

 

Eisenmans Mahnmal ist insofern nicht ein Feld von Grabdenkmälern der Opfer des Holocaust, sondern ein Feld, das von Spuren übersät ist, die erst noch zu deuten sind. Als Spuren der Geschichte in der Gegenwart, die zugleich solche des Vergangenen wie des Kommenden sind, überlagern und kreuzen sie sich und machen so aus dem Boden, dem sie sich einprägen, ein Palimpsest, eine mehrfach überschriebene Urkunde. Ein Monument, ein Denk- und Mahnmal ist das Stelenfeld folglich gerade dadurch, dass es sich einer im Symbol oder im Bild eindeutig gewordenen Bedeutung entzieht. Derart im doppelten Sinne der Geschichte ausgesetzt, der vergangenen wie der kommenden, jetzt zu vergegenwärtigen Geschichte, wird das Mahnmal für die ermordeten Juden zum »Zwischenraum in Raum und Zeit. Es privilegiert nicht einen einzelnen Boden, sondern Serien sich überlagernder Böden, etwas zwischen Abstraktion und Figuration. Das Projekt versucht, Hierarchisierung, Zentrierung, Abgrenzung und Gegenständlichkeit zu verneinen. Es präsentiert ein Feld von Stelen als Zeichen in einem Text, in einer Serie sich überlagernder Texte.«#5 Was darunter zu verstehen ist, kann am Entwurfsprozess und dann an der Entwurfs- und Architekturphilosophie Eisenmans erläutert werden.

Exkurs: Der Entwurfsprozess

Ausgangspunkt des Entwurfsprozess war die Überlagerung zweier Pläne: eines Rasters von 95 x 95 cm, mit dem das Verhältnis der Stelen und der Leerstellen zwischen ihnen bestimmt wurde, und eines Katasterplans des Großraums Berlins. Im Computer in datenbasierte Gitternetze umgewandelt, wurden die beiden übereinander gelegten Pläne dem »Morphing-Programm« unterworfen, einer selbstgenerierenden Animations- und 3-D-Software, die Bewegungsabläufe visualisiert und kontrolliert. Dabei ergab die Verschränkung der Punkte des polygonalen (also vielwinkligen) Rasters von Berlin mit dem orthogonalen (also rechtwinkligen) 95-cm-Raster eine wellenförmige Auf- und Abwärtsbewegung der übereinanderliegenden Gitternetze. Deren Schwingungshöhe, -breite und intensität resultierte aus vorher festgelegten, allerdings untereinander ganz unterschiedlichen und insofern kontingent zusammengestellten «Attraktoren», die sich etwa aus der Beschaffenheit und Ausdehnung des Geländes, aus der Notwendigkeit, zwischen den Stelen Wege anzulegen, aus der maximalen Stelenhöhe von fünf Metern (u. a.) ergaben.

Derart verbanden sich die beiden Netze im Prozess des Morphing zu einer dreidimensionalen Raumstruktur, in der, und das ist entscheidend, die Zeit zum eigenständigen Entwurfsmoment wurde, zur vierten Dimension des Entwurfs selbst. Die tatsächliche Gestalt des Gebildes wurde erst in dem Augenblick fixiert, als seine Schwingungsbewegung willkürlich vom Entwerfer angehalten wurde. Aus den sich ergebenden Schnittpunkten zwischen den Leerstellen des Stelenrasters und dem Katasterplan Berlins ermittelte Eisenman die genaue Grundfläche des Feldes sowie die Anzahl und Oberkantenfläche der Stelen. Die Höhe und Neigung der einzelnen Stelen ergab sich dabei aus ihrer Platzierung in der dreidimensionalen Raumstruktur: waren Grund- und Oberkantenfläche an einer gegebenen Stelle weit voneinander entfernt, wurde die Stele lang, kamen sie einander nahe, wurde die Stele kurz. Im Interview mit der Zeit befragt, ob er derart nicht »den Zufall zum Prinzip gemacht« und »viel Kontrolle an den Computer abgegeben« habe, antwortet Eisenman: »Ja, denn es ist eine Möglichkeit, den herkömmlichen Vorstellungen von Architektur zu entkommen und etwas ganz anderes entstehen zu lassen. Verstehen Sie, es ist die Andersartigkeit, die Differenz, auf die es mir ankommt.«

Der herkömmlichen Architektur entkommen

Nach dem Studium der Architektur und Architekturtheorie unterrichtete der 1932 in Newark, New Jersey geborene Peter Eisenman in Cambridge, Princeton und seit 1975 an der New Yorker Cooper Union. Er war Gründer und langjähriger Leiter des Institute for Architecture and Urban Studies in New York und einer der Herausgeber von deren Zeitschrift Oppositions. Gemeinsam mit Charles Gwathmey, John Hejduk, Richard Meier und Michael Graves gründete er 1969 die Gruppe The New York Five, deren Ausstellungen und Publikationen weithin Aufsehen erregten. Weil ihre Entwürfe sich stets durch klar gegliederte weiße Baukörper in der Tradition der Klassischen Moderne auszeichneten, wurden sie als The Whites bezeichnet. Die Gruppe ging jedoch bald zur Kritik der Moderne über, wobei sie begann, deren berühmte Entwürfe im Wortsinn des griechischen Begriffs Analysis in ihre Einzelteile zu zerlegen. Das theoretische Rüstzeug lieferten Sprachwissenschaft und Zeichentheorie, nach deren Vorgabe Eisenman schließlich dazu überging, auch die Architektur als selbstreferentielles System zu verstehen  und zu praktizieren. Ab 1967 baute er eine Serie von Wohnhäusern (House One bis House Eleven Odd), später folgten Museumsbauten, Kongresszentren, Verwaltungsgebäude, Universitäten und Konzerthallen. Während der Arbeit an der programmatischen Ausstellung Deconstructivist Architecture im New Yorker Museum of Modern Art (1988) lernte er Jacques Derrida kennen, mit dem er bis zu dessen Tod im Herbst 2004 öffentlich über den Zusammenhang und den Unterschied von philosophischer und architektonischer Dekonstruktion diskutiert. Der Begriff selbst geht auf Martin Heidegger zurück, der der Philosophie in einer Wendung gegen sich selbst die Aufgabe stellte, ihre eigene Tradition zu »destruieren«. Heidegger hat dann klargestellt, dass solche Destruktion kein bloß negatives Verfahren der Zerstörung und deshalb auch kein Irrationalismus, sondern ein Verfahren des Ab-Baus des »überlieferten Bestandes« der Philosophie auf ihre »ursprünglichen«, mittlerweile aber verdeckten »Erfahrungen« ist, ein Verfahren letztlich der »Wiederholung« von Erfahrungen, deren Eigenart darin liegt, zwar erlitten, doch nicht vollzogen zu sein. Weil ein solcher Ab-Bau dann natürlich selbst ein Bau, eine in »positiver Absicht« ausgeführte Konstruktion ist, deren »negative Funktion unausdrücklich und indirekt« bleibt, hat Derrida Heideggers Begriff der Destruktion in seinem Begriff der De-Konstruktion präzisiert.#6 Die Philosophie zu dekonstruieren heißt dabei, sich noch einmal mit den historisch am wirkungsmächtigsten, mit den Namen Platons, Descartes, Kants und Hegels gezeichneten Philosophien auseinander zu setzen. Hatten diese versucht, hinter allem Denken und Sein einen letzten Grund zu finden,  die Idee, das ego cogito, die reine Vernunft, den absoluten Geist – besteht die Dekonstruktion darin, hinter jedem letzten Grund einen gleichsam aller-letzten Abgrund offen zu legen: den der Zeit und mit ihr der Geschichte.

 

Der Ab-Bau des »überlieferten Bestandes« der Architektur zielt aber nicht oder jedenfalls nicht unmittelbar auf Platon und Descartes ab, sondern vor allem auf Euklid und Vitruv, die in der Architekturgeschichte eine vergleichbar entscheidende Bedeutung haben. Analog zur philosophischen Dekonstruktion geht es dabei allerdings auch im wörtlichen Sinn um ein Ab- und Wegbauen der Fundamente der Architektur und insofern um ein Bauen am Abgrund von Zeit und Geschichte, darum also, die Architektur in ihre Zeitlichkeit zu stellen, ihre vorgeblich ewigen Gründe und Wahrheiten mit architektonischen Mitteln zu destruieren. Eisenman bezeichnet einen solchen Ab-Bau präzisierend als »Dis-lokation«, Ent-Ortung.

Dieses Verfahren ist zunächst wiederum wörtlich zu verstehen: »Die Privilegierung des Ortes als Kontext schlechthin führt zur Unterdrückung anderer möglicher Kontexte. Den Ort als Quelle für einen ursprünglichen Wert anzusehen, heißt, auf die Präsenz des Ortes fixiert zu sein, auf die Vorstellung, der Ort existiere als ein fortdauerndes, erkennbares Ganzes. Solch ein Glaube ist heute nicht mehr aufrechtzuerhalten. Wenn man den Ort nicht nur als Gegenwart betrachtet, sondern sowohl als Palimpsest und als Fundgrube und Steinbruch, dann erscheint der Ort nicht länger als statisch.«#7 Dann erschafft eine ent-ortete und ent-ortende Architektur in ihren Bauten aber keinen Ort (Topos), sondern die Ortlosigkeit (Atopie) eines »Dazwischenseins«: »Wenn die Architektur traditionsgemäß lokalisiert ist, bedeutet dazwischen sein: zwischen irgendwo und nirgendwo sein. Wenn die Architektur sich traditionsgemäß mit Topos befasst, bedeutet dazwischen sein: einen Atopos suchen, die Atopie innerhalb des Topos.«#8

Im zweiten Schritt führt die Ent-Ortung der Architektur zum Ab-Bau der tradierten Bedeutungs- und Assoziationssysteme ihrer Elemente, die dabei zu »rhetorischen Figuren« dysfunktionaler und in diesem Sinn selbstreferentieller, folglich autonomer Bauten werden. Finden sich in Eisenmans Architekturen wie anderswo auch Wände, Fenster und Dächer, entziehen sie sich dennoch dem gerade der Klassischen Moderne wesentlichen Grundsatz »form follows function« und zielen derart auf ein Jenseits von Form und Funktion. So gibt es in Eisenmans berühmten »House 6« eine unbegehbare rote Treppe, die kopfüber in ein Geschoss führt, das nicht existiert. Wie durch einen Axthieb ist das aus zwei Kuben und zwei flankierenden Wandscheiben zusammengesetzte Gebäude von einem (verglasten) Spalt durchtrennt. Durch Zweckentleerung der Form ist Architektur hier zu einer Skulptur geworden, an der weder das Verhältnis von Stütze und Last noch das von Oben und Unten umstandslos zu erkennen sind. Natürlich untergräbt solche Dis-lokation in der Tendenz die Realisierbarkeit des Baus: »House 11« wird als Axonometrie entworfen, die nur noch im Modell auszuführen war. Dabei ist der Ab-Bau der Konventionen des Bauens weder Willkür noch Selbstzweck, legt die Dekonstruktion doch derart die Macht offen, mit der diese Konventionen die Architektur beherrschen und über die Architektur schließlich gesellschaftliche Empfindungs-, Denk- und Handlungs-, letztlich Lebensweisen bestimmen.

Konsequenterweise zielt die architektonische De-Konstruktion im dritten Schritt auf die Zurückweisung des menschlichen Körpers als das Maß der (architektonischen) Dinge. Eisenmans Architektur entwickelt ihre Formen deshalb aus mathematischen bzw. mathematisierten Strukturen, die im Computer konfiguriert werden und ihre Proportionen insofern gerade nicht aus der Bezogenheit auf den Menschen, auf seine Größe, seine Sicht gewinnen. Indem der architektonische Entwurf von anthropozentrischen Vorgaben befreit wird, entledigt er sich zugleich und konsequent von seinem vorgeblichen Autor, dem Baumeister. Er will damit – gleichen Sinnes wie die philosophische Dekonstruktion, doch gemäß seinen eigenen Möglichkeiten – Erfahrungen möglich werden lassen, die von der philosophischen wie der architektonischen Tradition verdrängt bzw. verhindert werden. In konzentrierter Wendung gegen diese Tradition und zugleich im direkten Bezug auf das Berliner Mahnmal nennt Eisenmann im Interview mit der Zeit dabei die »Erfahrung, sich verloren zu fühlen«: »Wer das Stelenfeld durchwandert, verliert Richtung und Ziel und vielleicht auch seine Gewissheiten. Verstehen Sie, in unseren Köpfen schwirren lauter Fotos und Filme über den Holocaust herum. Das Mahnmal versucht, die Macht dieser Medienbilder zu brechen. Es versucht, die Hegemonie des Visuellen zu überwinden, es setzt auf primäre körperliche Erfahrung, auf Affekte.«

Ein dis-loziertes Mahnmal?

An dieser Stelle gilt es deshalb, die Erfahrung eines Gangs durch das Stelenfeld und mithin dessen performative Dimension ins Spiel zu bringen. Tatsächlich hebt Eisenmans Verweigerung gegenüber einer figurativen wie einer abstrakten Symbolisierung, mithin seine Verweigerung der konstativen Funktion von Architektur und darin sein Beharren auf der Autonomie der Architektur ja nicht auf ein zweckfreies l’art pour l'art ab: Autonom ist Architektur für ihn nur insoweit, als sie Erfahrungen ermöglicht, die andere «Kulturformen»  Literatur, Film, aber auch, so wäre zu ergänzen, der wissenschaftliche oder der politische Diskurs und mit ihnen eine dem Gegenstand »Holocaust-Mahnmal« entsprechende Ausstellungsdidaktik –nicht bereitstellen können. Diese Erfahrungen sind »primär körperlicher« Natur, erschließen sich also nicht in der visuellen Kontemplation, sondern in dem Affekt, den die Bewegung im Stelenfeld provoziert. Dabei schließt Eisenmans an Freuds Unterscheidung von Gefühl und Affekt an: »Das Gefühl ist eine ursprünglich ungefilterte emotionale Antwort auf eine Erfahrung. Der Affekt ist etwas anderes, insofern es in ihm eine kritische Distanz zwischen dem ursprünglichen Gefühl und einer zweiten, vielleicht tieferen Regung gibt.«#9 Dem entspricht vor allem, dass das Mahnmal, anders als in mancher Fotografie suggeriert, in keiner einnehmbaren Perspektive je monumental wird, nicht wie eine formierte oder gar uniforme Masse von homogenen Blöcken wirkt. Tatsächlich kann und muss eine die Stelen stets in ihrer unterschiedlichen Höhe und Stellung und auch in ihrer dezentrierten Streuung wahrnehmen.

Dem entspricht zweitens, dass der Gang durch das Feld zu keiner Zeit die Erfahrung akuter Desorientierung auslöst: du weißt stets, wo du dich befindet, in welche Richtung du dich wendest, wo der nächste Weg hinausführt. Wohl aber macht eine die Erfahrung eines dis-lozierten und in diesem Sinn des-orientierten Raumes, d.h. eines Raums ohne Zentrum, ohne eindeutige Ausrichtung, ohne klaren Plan und klares Rechts-Links-Oben-Unten. Wer die Besonderheit dieser Erfahrung als eines Affekts ausloten will, der sei a contrario ein Gang durch Daniel Libeskinds Holocaust-Museum empfohlen. Das soll sich zwar gleichermaßen im Performativ bewähren, provoziert jedoch im Sinn der Freudschen Unterscheidung lediglich ein Gefühl, konkret: das in der effektiven Auslösung physischen Schwindels erlittene Gefühl der Desorientierung. Im zum Museum gehörigen «Garten des Exils» kann dieses Gefühl so massiv werden, dass die Museumsleitung sich aus versicherungstechnischen Gründen genötigt sah, die Besucher_innen per Hinweisschild auf die Sturzgefahr aufmerksam zu machen. Eisenman geht es demgegenüber um die im Freudschen Sinn affektive Erfahrung eines ent-orteten Raumes und darin um »die Erfahrung, sich verloren zu fühlen«. Während Libeskind die Macht der Architektur zur mehr oder minder zwingenden Manipulation von Gefühlen nutzt, affiziert Eisenmans Mahnmal seine Besucherinnen, indem es ihnen den physischen Nachvollzug eines architektonisch praktizierten Widerstands gegen die Herrschaftsform Architektur ermöglicht, in der sich ein von den Herrschaftsparametern der Architektur befreiter Raum erschließt und derart eine architektonische Subversion von Herrschaft schlechthin. Darin präzise wird das Mahnmal mit architektonischen Mitteln und in der Architektur zum politischen Performativ. Natürlich kann das Mahnmal in der Konkretion auf sein Thema sehr wohl als Anspielung auf einen Friedhof und genauer auf einen jüdischen Friedhof erfahren werden. Allerdings bleibt der Verweis unbestimmt genug, um sich einer definitiven Deutung als Darstellung eines solchen Friedhofs zu verweigern und damit den Anspruch der Verweigerung einer darstellenden Funktion überhaupt einzulösen. Die Deutung als Friedhof stellt sich als Denkmöglichkeit ein, bleibt aber stets  der Intention des Entwurfs entsprechend  Denkmöglichkeit unter anderen: »Es wäre falsch, wenn die Schrecken des Holocaust zu einem erkennbaren Symbol erstarren würden, zu etwas, das wir verstehen und in unsere Psyche einordnen können. Es gibt da keine Wahrheit zu verkünden, keinen Sinn zu verschreiben.«#10 Eisenmans späte Zustimmung zur Anlage des  unterirdischen, also im Stelenfeld selbst nicht sichtbaren  Informationszentrums erweist sich insofern als das, was sie wohl ist: als pragmatische Einwilligung in einen Kompromiss.

Nicht-Ort des Gedenkens

Was aber ist dann der vom Mahnmal eröffnete Raum? Das, was er zu sein verspricht: ein Mahnmal, ein Raum des möglichen und notwendigen, doch von der Anlage selbst nicht vorweggenommenen, vorherbestimmten Gedenkens. Wie ist es das? Als ein Raum der Begegnung von Leuten, die aufgefordert sind, des Holocaust zu gedenken  und dies im wörtlichen, genauer gesagt: im physischen, noch genauer: im affektiven Sinn. Die wesentliche Erfahrung des Gangs durch das Stelenfeld ist die zugleich dauernde, wiederholte und dennoch immer plötzliche und flüchtige Begegnung mit denen, die ebenfalls durch das Feld gehen, die plötzlich an einer Kreuzung auftauchen und gleich darauf wieder aus dem Blick geraten, im nächsten Gang verschwinden. Im kurzen Augenblick der Begegnung kreuzen sich  nicht immer, doch sehr oft  die Blicke, und oft sind es Blicke, die Orientierung auf einem Weg suchen, der nur einzeln abgeschritten werden kann. Das gilt für die, deren Blick man auffängt, aber auch für eine selbst. So plötzlich, wie man des anderen gewahr wird, so plötzlich wird man in diesem Augenblick vom anderen entdeckt, und dies stets an einer Kreuzung, an der man selbst wie der andere auch seinen Weg sucht, sich entscheiden muss, wie man weiter geht  nach rechts, nach links, geradeaus, zurück, und dann wieder geradeaus, zurück, nach rechts oder nach links. Es bleibt nicht aus, kann kaum ausbleiben, sich dabei zu erinnern, welchem Zweck der Ort, das Feld und der Gang durch das Feld dient, wiederum: der eigene Gang wie der der anderen. Das gerade ist die «primäre körperliche Erfahrung», der Affekt, von dem Eisenman spricht: ein Affekt allerdings, um das noch einmal im Gegenzug auf Libeskind zu präzisieren, der kein bloßer Effekt, nicht die zwangsläufige Folge einer Manipulation ist. Dem entspricht dann auch, dass sich ganz offensichtlich nicht alle Besucher des Stelenfelds dieser Erfahrung öffnen, dass sich der intendierte Affekt nicht zwingend einstellt.

Das Mahnmal kann gar nicht mehr tun, als eine Gelegenheit des Gedenkens einzuräumen, es kann sie nicht und niemandem aufnötigen, darf solches nicht einmal wollen: und erreicht es doch. Das hat György Konrád sehr schön auf den Punkt gebracht, der ursprünglich ein entschiedener Kritiker des Entwurfs war, sein Urteil nach einem Gang durch das Stelenfeld aber revidierte: »Vom Rand aus beobachten sie, fotografieren das Mahnmal. Es gibt einen beruhigenden und humoristischen Blickwinkel auf die Gedenkstätte. Geweiht den ermordeten Juden Europas. Kinder und Liebespärchen dringen tiefer ein, spielen Haschen und Verstecken, küssen sich. Auf den äußeren Stelen, von der Stadt kommend, rasten. Nach den Zerknirschungen des Tourismus eine nachmittägliche Stärkung zu sich nehmen und einen Blick werfen in die quadratischen, parallelen, schmalen Korridore. In denen gibt es kein Arm-in-Arm-Schlendern, hier kann der Mensch nur allein vorankommen. Immer kleiner und immer einsamer.«#11 Eine derart ent-ortende und deshalb auch vereinzelnde Architektur, die zugleich der Begegnung im jeweils einzeln zu übernehmenden Gedenken Raum bietet, hat zur Aufgabe eines Holocaust-Mahnmals dann aber doch eine besondere Affinität, nimmt diese Aufgabe trotz des programmatischen Widerstands gegen »Bauaufgaben« als solche zum eigensten Kontext. Denn im ideologischen Horizont der Täter, der zweifellos nicht nur der der Nazis ist, muss sie als »jüdischen Wesens« erscheinen: bejaht ihr »Dazwischensein«, ihr »Ent-ortet-Sein« doch gerade die Ort-, Wurzel- und Bodenlosigkeit, die der Antisemitismus auf »die Juden« projiziert, die er in »den Juden« verneinen und auslöschen wollte, um zum eigenen, »angestammten« Boden, zur Heimat und zur eigenen Gemeinschaft mit den Nächsten und Anverwandten zurückzufinden. Gerade deshalb darf ein solches Mahnmal kein Ort sein, der angeeignet, der zum Eigentum werden kann: er kann bestenfalls ein Raum sein, wo wir  noch einmal in Eisenmans Worten – »uns selbst als Fremde begegnen können. (...) Zumindest hoffe ich das.«#12

 

Bettina Rudhof

 

 

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1__: Peter Eisenman, Ich war ein Nichts. Interview in Die Zeit 51/2004.

 

2__:a.a.O.

3__: Peter Eisenman, Notations of Affect. An Architecture of Memory. In: Klaus Herding, Bernhard Stumpfhaus, Pathos, Affekt, Gefühl, Berlin/New York 2004, S. 504. Eigene Übersetzung.

 

4__: a.a.O.

5__: Peter Eisenman, Notations of Affect, S. 506.

 

6__: Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 6.

 

7__: Peter Eisenman, Aura und Exzess  Zur Überwindung der Metaphysik in der Architektur, Wien 1995, S. 92.

 

8__: Peter Eisenman, zit. n. Erszébet Berta, WEB-FU: Wiener elektronische Beiträge des Instituts für Finno-Ugristik, April 2003, http://webfu.univie.ac.at/texte/berta.pdf

 

9__: Peter Eisenman, Notations of Affect, S. 509.

 

10__: Peter Eisenman, Ich war ein Nichts, a. a. O.

 

11__: György Konrád, Komm herein in den Stelenwald! In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 202/2005

 

12__: Peter Eisenmann, Ich war ein Nichts, a.a.O.