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diskus 1/00
Gorz 2000
Elend der Gegenwart – Reichtum des Möglichen
Mit dem zu Beginn des neuen Jahrtausends erschienen Buch von André Gorz
»Arbeit zwischen Misere und Utopie«1 ist die vorher in Deutschland nur im
Umkreis von kleinen linken Zeitschriften und Verlagen – wie z.B. Arranca!,
ID-Verlag, com.une.farce 2 – geführte Diskusssion um »immaterielle Arbeit«
und ein »garantiertes Grundeinkommen« in der von Ulrich Beck
herausgegebenen »Edition Zweite Moderne« (Suhrkamp-Verlag) angekommen.
Nach dem Selbstverständnis des Herausgebers und Autors der
»Risikogesellschaft« erscheinen in dieser Buchreihe Texte und Essays – z.
B. die neueren programmatischen Aufsätze vom New Labour-Vordenker Anthony
Giddens – »die eine öffentliche Kontroverse darüber anzetteln, wie die
Orthodoxie der Ersten Moderne gebrochen werden kann«. Wenn unter »Erste
Moderne« (linke) Konzepte und politische Strategien verstanden werden, die
weiterhin auf Vollbeschäftigung setzen und die fordistische
Gesellschaftsformation mitsamt männlichem Alleinernährer, Massenkonsum,
40-Stundenwoche und nationalem Wohlfahrtsstaat rekonstruieren wollen, ist
Gorz in dieser Reihe gut aufgehoben. Eine solche sozialdemokratische
Politik – sozialdemokratisch nicht im ausschließlichen Sinne einer
Parteizugehörigkeit, sondern einer organischen Ideologie des Fordismus –
lehnt er nicht nur ab, weil sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt auch
weiterhin zentral über Lohnarbeit herstellen will, sondern auch weil sie
realitätfremd ist. Wurde doch jedes Detail dieses historischen Blocks –
wie nicht nur André Gorz und Marco Revelli (1999) zeigen – dekonstruiert
(67). Das heißt aber nicht, daß Gorz damit einem (neoliberalen)
Globalisierungsdiskurs unkritisch aufsitzt und Politik als Anpassung an
quasinatürliche Sachzwänge denkt.
Vielmehr will er in der zerfallenden
fordistischen Gesellschaftsformation neue Freiräume bestimmen, die zum
»Exodus aus der Arbeitsgesellschaft« (9) führen könnten. Der Text ist in
erster Linie ein politischer Einsatz, der Material und theoretische Bezüge
unter einer strategischen Perspektive anordnet – und keine soziologische
Abhandlung.
Im Mittelpunkt unseres Artikels stehen die Diskussion um
immaterielle Arbeit und die Veränderung der Arbeitsgesellschaft im
allgemeinen sowie Gorz' Versuch einen »Komplex spezifischer Politiken zu
umreißen, die mit der Arbeitsgesellschaft brechen« (110). Diese sollen es
erlauben, »alternative soziale Praktiken« (111) zu entwickeln die dem
politischen Vakuum »jenseits von Links und Rechts« entkommen.
»Ein
ehernes Gesetz zu schmieden, das jedermann verbietet, mehr als drei
Stunden pro Tag zu arbeiten« (Lafargue)
Reproduktionsfähigkeit und gesellschaftliche Anerkennung sind nach
wie vor an Arbeit gekoppelt – und dies verhindert nach Gorz die Einsicht,
dass ein Weniger an Arbeit kein Fluch, sondern vielmehr Ausdruck des
Reichtums der metropolitanen Gesellschaften ist. Bereits vor zehn Jahren
machte er deutlich, dass allein zwischen 1965 und 1985 das jährliche
Arbeitsvolumen (die Gesamtzahl der pro Jahr gesamtwirtschaftlich
verausgabten Arbeitsstunden) in Westdeutschland um 27 % abnahm und dies
obwohl das Bruttoinlandsprodukt sich verdreifacht hatte (Gorz 1989, 343).
Solche Statistiken sind zwar unvollständig, weil sie die herrschende
Arbeitsideologie verlängern, da eine Arbeitsstunde nur dann zahlenmäßig
erfasst wird, wenn sie an einem offiziellen Arbeitsplatz und nicht am
heimischen Herd oder während der Kindererziehung erbracht wird. Andere
Zahlen liegen aufgrund dieses blinden Flecks demgemäß nicht vor. Dennoch
lässt sich zumindest für jenen Bereich der Güterproduktion zeigen, dass
notwendige menschliche Arbeitszeit tatsächlich auf ein Minimum reduziert
wird.3
Gorz' Interventionen sind nun darauf gerichtet, den Diskussionen
über Arbeit eine Richtung zu geben, die es ermöglicht »in der
untergehenden und sich verändernden Welt Keimzellen anderer möglicher
Welten zu erkennen« (40).
Wenn Marx in den Grundrissen schreibt, dass
die Entwicklung der Produktivkräfte und der gesellschaftlichen Beziehungen
die materiellen Bedingungen sind, um die kapitalistischen
Produktionsverhältnisse »in die Luft zu sprengen, weil das Kapital hier –
ganz unabsichtlich – die menschliche Arbeit auf ein Minimum reduziert« und
dies die Bedingung der Emanzipation der Arbeit ist, nämlich der vollen
Entwicklung »der künstlerischen und wissenschaftlichen« Ausbildung der
Individuen (Marx 1983, 598 ff), so unternimmt Gorz den Versuch, die
konkrete, historische Aktualität dieser immanenten Tendenz der
warenproduzierenden Gesellschaften zu beweisen.
Die beiden wesentlichen Veränderungen in dieser Entwicklung sind zum
einen die Flexibilisierungsstrategie der Unternehmen als Antwort auf die
Macht und Kämpfe der ArbeiterInnenbewegung, forciert durch die
»mikroelektronische Revolution« und die neuen Informationstechnologien,
die zu einem weiteren Schub der Reduktion der notwendigen Arbeitszeit
führte, zum anderen die Integration der Subjektivität in den
Produktionsprozess und damit zur Etablierung der sogenannten
»immateriellen Arbeit« als zentraler Produktivkraft beitragen. Diese
beiden Momente sind nach Gorz »die Speerspitze eines tiefgreifenden
Umwälzungsprozesses, der die Arbeit und das Lohnverhältnis abschafft und
den Anteil der Erwerbsbevölkerung, der die gesamte materielle Produktion
sichert, auf 2 % zu reduzieren tendiert«.
Immaterielle Arbeit
Eine der Besonderheiten an Gorz' neuem Buch ist sicherlich sein
neuerliches Eintreten für ein unbedingtes Grundeinkommen, verknüpft mit
der These vom »general intellect«, die die italienischen Operaisten im
Anschluß an die Marxschen Grundrisse aufgestellt hatten. Gorz bezieht sich
dabei explizit auf Theoretiker der »immateriellen Arbeit« wie Antonio
Negri oder Maurizio Lazzarato, die – im Anschluß an den Operaismus – mit
diesem Begriff die Vergesellschaftlichung der Lohnarbeit bzw. die
Fabrikwerdung der Gesellschaft (Revelli)4 analytisch zu fassen
versuchen.
Die Waren in der postfordistischen Ökonomie bestünden, so
die These, zu einem immer größeren Anteil aus Informationen und Wissen,
aus Sprache und damit letztlich aus Subjektivität. Die neuen, auf
Kommunikation basierenden Technologien und Formen der Arbeitsorganisation
erforderten Subjektivität, anstatt sie, wie das Fließband zu unterdrücken
(Lazzarato 1998, 40). So heißt Arbeit in den gegenwärtigen »metropolitanen
Gesellschaften mit ungebrochener Tendenz immaterielle Arbeit – also
intellektuelle, affektiv-emotionale und technowissenschaftliche Tätigkeit,
Arbeit des Cyborg« (Negri/Hardt 1997, 14 f). Die abhängige Arbeit nimmt
dabei selbst vormals unternehmerische Qualitäten an. Es geht um die
Fähigkeit, soziale Beziehungen zu organisieren, gesellschaftliche
Kooperation zu initiieren und auszuweiten.
Das Maß des Werts in der
Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie sei, wie in den Grundrissen
prophetisch formuliert, nicht mehr in Arbeitszeit zu fassen (vgl.
Negri 1998, 176). Quelle des Werts ist weiterhin die Arbeit, aber in einem
unendlich erweiterten Sinn, Arbeit umfaßt demnach auch die »Prozesse der
Produktion von gesellschaftlichen Subjektivitäten, von
Gesellschaftlichkeit und von Gesellschaft selbst« (Negri/Hardt 1997, 12).
Damit ist jedoch nicht jedwede Tätigkeit gemeint, sondern durchaus Arbeit
als wertschaffende Praxis im Marxschen Verständnis – nur: Was als eine
solche Praxis zählt, ist immer historisch und sozial determiniert. An den
gesellschaftlichen Auseinandersetzungen etwa um die Rolle der Haus- und
Pflegearbeit könne das gezeigt werden, aber auch an der Diffundierung der
Fabrikarbeit, die immer mehr auch außerhalb der Fabrikmauern stattfindet.
Beide Beispiele verdeutlichen die Sinnlosigkeit der Unterscheidung
zwischen Produktion und Reproduktion oder zwischen produktiver und
unproduktiver Arbeit in Bezug auf den Wert.
Gorz' Plädoyer für ein unbedingtes Grundeinkommen, (in der deutschen
Diskussion meistens als »Existenzgeld« bezeichnet; vgl. diskus 4/98)
knüpft zu einem nicht geringen Teil an die These vom »general intellect«
an. Weil die Arbeitszeit nicht mehr meßbar sei, die für eine
(immaterielle) Dienstleistung oder ein Produkt aufgewandt werden muß,
könne, so Gorz, nur ein solches Grundeinkommen einen Anreiz bieten,
berufliche »Aktivitäten zu Gunsten eines multi-aktiven Lebens zu
reduzieren« (120).5 Umgekehrt die Begründung des Existenzgeldes bei den
Postoperaisten: Gerade weil die Gesellschaft zur Fabrik und immer mehr
Tätigkeiten wertschaffend würden, müßten diese auch bezahlt werden. Dem
postoperaistischen »Die Welt ist Arbeit« (Negri/Hardt 1997, 16) hält Gorz
jedoch entgegen, daß es gerade darauf ankomme, den Arbeitsbegriff und den
daran gekoppelten Arbeitsfetisch zurückzudrängen. Es sei politisch
katastrophal, nachweisen zu wollen, daß alle Tätigkeit im Kern Lohnarbeit
und damit produktiv sei, und dann darauf zu vertrauen, daß die
Sprengkraft, die in der immateriellen Arbeit durchaus liege, sich von
selbst entfalte.
Gorz betont, daß die Möglichkeit eines »Jenseits der kapitalistischen
Gesellschaft in deren Entwicklung selbst enthalten« (112) sein muß,
konzipiert aber Subjektivität und Autonomie als Gegensätze zum Kommando
des Kapitals. Bei Negri hingegen sind die immateriellen Arbeiter das
Kapitalverhältnis, das heißt, daß diese Einheit von Subjektivität und
Produktionsmitteln im gleichen Augenblick unterwerfende und befreiende
Potentiale haben kann. Autonomie kann beides bedeuten: Die
Instrumentalisierung kreativer Potenzen im Dienste neuer
Unternehmensphilosophien, aber auch die Selbstkonstitution des
intellektuellen Proletariats.
Eine Horrorvorstellung für Gorz: Er
sieht durch die Auflösung der fordistischen »Lohnarbeitsgesellschaft«
(Aglietta), in der Arbeit das zentrale »Sozialisierungs-, Normalisierungs-
und Standardisierungsinstrument« war, gerade außerhalb der Lohnarbeit neue
Freiräume entstehen. Diese sollten von den gesellschaftlichen Akteuren
dazu genutzt werden, die »Verfügungsmacht der Gesellschaft (ihrer
Institutionen, Berufsorganisationen, Gesetze und Vorschriften) über die
gesellschaftlichen Akteure [...] zugunsten von deren Verfügungsmacht über
die Gesellschaft« (12) zurückzudrängen.
Negri kritisiert daher in
seiner Besprechung des Gorz-Buches, daß dieser die Entwicklung der
intellektuellen Produktivkräfte nur als heteronome technische Ordnung
denke, als »Unterwerfung des ›general intellect‹ unter die Ordnung der
kapitalistischen Produktionsweise« (Negri 1998, 174). So sei unklar, wie
die »schönen Seelen unversehrt und autonom bleiben könnten« im »Dröhnen
und Tumult der Veränderung« (ebd.). Das Resultat der Emanzipation, die
Autonomie, sei bei ihm tautologisch auch die Voraussetzung zur
Emanzipation.
Umgekehrt befürchtet Gorz, daß Negri & Co. die
befreiende Wirkung der neuen Arbeitsverhältnisse überschätzen. Denn die
potentielle Emanzipation der postfordistischen ArbeiterInnen innerhalb
ihrer Arbeit gehe oftmals mit einer verstärkten sozialen Kontrolle einher.
Während im Fordismus das Verhältnis zwischen Arbeitern und Unternehmern
konfliktgeladen war und fortwährend Kompromißbildungen erforderte, werde
heute »von den Einzelnen bedingungslose persönliche Hingabe an die Ziele
des Unternehmens« (56) verlangt. Die totale Immanenzperspektive von Negri
und Co. – der »systemische Spinozismus« (60) wie Gorz süffisant anmerkt –
führt dazu, daß ein tendenziell einheitlicher Mechanismus der
Vergesellschaftung imaginiert wird, in der es keine anderen Modi der
Kommunikation, Tätigkeit und Praxis zu geben scheint.
Gegen das postoperaistische Vertrauen in die Selbstorganisation nicht
mehr »der Massen«, sondern nunmehr der »multitude« die zur
»Wiederaneignung der konkreten Macht« (Negri 1996, 105) führen soll,
formuliert Gorz eine Reihe von Fragen der politischen Vermittlung, »aus
denen die Infragestellung der Produktionsweise und -ziele hervorgehen muß«
(60); etwa die Frage danach, ob ein Produktionssystem so konzipiert ist,
daß es die größtmögliche Autonomie der Arbeiter in ihrer Arbeit und im
sonstigen Leben gewährleistet. Und: Woher kommen die Bedürfnisse, die die
Produkte gewährleisten sollen und wer bestimmt, wie diese Bedürfnisse und
Wünsche befriedigt werden; wer also definiert das Konsum- und
Zivilisationsmodell? Und vor allem: In welchem Verhältnis stehen die
unmittelbaren Teilnehmer zu den potentiellen oder peripheren Teilnehmern
am Produktionsprozeß? Eine antikapitalistische Bewegung, die diese Fragen
nicht beantworten könne, habe der laufenden Umstrukturierung, die selbst
ihre sozialen und kulturellen Bedingungen herstellt, nichts
entgegenzusetzen. Denn die immateriellen ArbeiterInnen »erzeugen Reichtum
und Arbeitslosigkeit in ein und demselben Akt. [...] Es ist unsinnig, eine
Arbeit, die zu immer weniger Arbeit und Lohn für alle führt, als
wesentliche Quelle von Autonomie, Identität und Entfaltung aller
darzustellen« (67).
»Vom Post-Fordismus her denken« oder: »André,
dovè la porta?«
Gorz geht es darum, eine andere Perspektive einzunehmen, die es
erlaubt, die Reduktion des Arbeitsvolumens und die zentrale Bedeutung der
lebendigen kreativen Fähigkeiten nicht nur als Krisenphänome des Fordismus
zu betrachten, sondern in ihnen die Möglichkeit eines Bruchs mit der
Lohnarbeitsgesellschaft zu sehen.
Innerhalb der fordistischen Logik
kann das Erodieren des Normalarbeitsverhältnisses nur zu einer
Prekarisierung der Lebensverhältnisse führen: zu aufgezwungener
Flexibilisierung, zur Zunahme von befristeten Arbeits- sowie
Billiglohnarbeitsverhältnissen unter dem Existenzminimum, Schwarzarbeit,
durchlöcherten Arbeitsverträgen, Scheinselbständigkeit, kurz: die
»Unsicherheit [wird] in eine Lebensweise verwandelt« (73). Während die
klassisch sozialdemokratische Linke das Heil in der Wiederherstellung von
Vollbeschäftigung und Normalarbeitsverhältnis sucht, muß nach Gorz
»diskontinuierliches Arbeiten zu einem wünschenswerten, sozial
abgesicherten Recht werden, zu einer gesellschaftlich geachteten Form
menschlicher Vielseitigkeit, zu einer Quelle selbständiger Alltagskultur
und neuer Gesellschaftlichkeit« (77f.) – statt als minderwertig, unsicher,
uns aufgezwungen zu gelten. Es gilt, die kapitalistische Verkopplung von
Einkommen und Lohnarbeit aufzuheben, Einkommen soll »nicht mehr an einer
dauerhaften und festen Stelle hängen« (102).
Die postfordistischen
Arbeitsverhältnisse enthalten die Tendenz zu jenem Bruch – aber nicht
eindeutig: Auch auf der Seite der Unternehmen wird die Bedeutung von
Autonomie der Arbeit und neuer Subjektivität erkannt und anerkannt. Jedoch
in einer Weise, die die Lebenszeit und Arbeitsrhythmen in Wirklichkeit den
Rentabilitätsansprüchen des Kapitals unterwirft. Es findet also ein »Kampf
um die Zeitsouveränität« statt, ein »Kampf um die Macht selbst: um ihre
gesellschaftliche Verteilung und um die Richtung, in der sich die
Gesellschaft entwickelt« (104). Diesen gesellschaftlichen Kampf können
wir, so Gorz, nur gewinnen, wenn es gelingt, der »Flexibilisierung« einen
anderen als neoliberalen Sinn zu geben. Dabei reicht es nicht aus, die
neoliberale Arbeitswelt bloß verschieden zu interpretieren. Die
postfordistische Perspektive muß in alltägliche Praktiken eingebettet
sein, die »durch heute schon zu verwirklichende Veränderungen« (134) den
Bruch mit der Lohnarbeitsgesellschaft greifbar machen.
Die Entfaltung
neuer Formen von Gesellschaftlichkeit, die jenseits der Lohnarbeit
sozialen Zusammenhalt schaffen, benötigen als Voraussetzung sowohl ein
ausreichendes Einkommen für alle, als auch die Umverteilung von Arbeit,
verbunden mit individueller und kollektiver Zeitsouveränität.6 Nur im
Zusammenspiel und sich gegenseitig flankierend können diese Elemente den
Ausstieg aus dem Kapitalismus vorbereiten. Einzeln dagegen können sie
schnell Teil einer kapitalistischen Modernisierung werden.
Dabei läßt
sich durchaus auf ein historisches Reservoir alternativer Praktiken
zurückgreifen, die jedoch unter postfordistischen Bedingungen neu zu
bestimmen sind. Die fordistischen selbstverwalteten Projekte etwa hatten
vor allem damit zu kämpfen, dass sie sich der kapitalistischen
Verwertungslogik nicht entziehen konnten und durch Selbst-Überausbeutung
zu Vorreitern neoliberaler Arbeitsverhältnisse wurden. Nun können sich die
immateriellen ArbeiterInnen in Form von kleinen dezentralen
Kooperationsgenossenschaften die neuen Technologien kollektiv aneignen und
so in Eigenarbeit die Fähigkeit erhalten, ihre Potentiale zu entwickeln.
Das bedingungslose Grundeinkommen stellt sicher, dass niemand zu
Reproduktionszwecken arbeiten muss. Durch die technischen Veränderungen
und die enormen Potentiale immaterieller Arbeit sei es denkbar, dass »die
Produktivität wie die Qualität der lokalen Selbstversorgungsaktivitäten
denjenigen der bestehenden großen Firmen vergleichbar oder überlegen ist«
(153).
Von einer Gestaltung des öffentlichen Raumes durch Einrichtungen
und Orte, die zur Entwicklung der eigenständigen Aktivitäten aufrufen,
erwartet Gorz entscheidende Impulse im »Gärungsprozess«, in welchem sich
die »zur Hegemonie berufenen« Widerständigen befänden, die mit der
Erarbeitung von alternativer Gesellschaftlichkeit experimentierten (145).
Dies wäre auch ein Betätigungsfeld für die ehemals fordistischen
Massengewerkschaften, die zum Verschwinden verdammt seien. Die Gestaltung
des gesellschaftlichen Raumes könnte die neuen Lebensformen aus ihrer
Isolation herausholen.
Das bedingungslose Grundeinkommen als politische
Forderung schließlich könne die lokalen Kämpfe verknüpfen: »Die
Attraktivität und der Charme der Existenzforderung besteht gerade darin,
politische Bündnisse zwischen einem sehr heterogenen Spektrum
gesellschaftlicher Reformkräfte zu ermöglichen« (Hartel nach Gorz, 127),
ein Bündnis aus Umweltgruppen, feministischen Organisationen,
Betriebsgruppen, Arbeitslosen-, Sozialhilfe- und MigrantIn-neninitiativen
und Studierenden.
Der politische Einsatz Gorz' besteht vor allem darin, diesen
Perspektivwechsel vorzunehmen, der es erlauben könnte, der Lethargie der
vergangenen Dekade zu entkommen. Eine postfordistische Politik besteht
dabei auch darin, die vom Fordismus überlieferten Schemata und Kategorien
des Politischen selber infragezustellen. In einer Situation, in der die
traditionelle Links-Rechts Unterscheidung vielfach brüchig geworden
ist, übernimmt die neue Sozialdemokratie die Rolle der Moderniserung als
passive Revolution – Politik als Management von oben. Die
Rechtspopulisten inszenieren sich mit ihrer teilweise antikapitalistischen
Rethorik als die einzigen, die die kleinen Leute noch ernst nehmen und
etwas gegen das neoliberale Ungeheuer machen, das von denen da oben von
der Kette gelassen wurde. Die Linken wirken in diesem Szenario reichlich
desorientiert, da die Alternative nur darin zu bestehen scheint, liberal
bzw. weltoffen und damit gleichzeitig neoliberal zu sein oder aber gegen
die Globalisierung zu sein und damit provinziell und nationalborniert
argumentieren zu müssen. Das zeigt sich momentan an der Diskussion um die
sogenannte Green-Card. Die Gorzsche Perspektive erlaubt es in so einer
Situation nicht nur einen kritischen Kopf zu bewahren, sondern auch
handlungsfähig zu werden. Ist erst einmal das abstrakte politische Ziel
einer Abschaffung des Kapitalismus gewissermassen »operationalisiert«,
können Kriterien zur Beurteilung der gesellschaftlichen Verhältnisse
entwickelt werden. Die meisten mögen dies für utopisch im schlechten Sinne
halten, aber es sind die konkreten Utopien, denen die Aufgabe zukommt »uns
zum Zustand der Dinge jenen Abstand zu geben, der es uns möglich macht,
unser Handeln im Lichte dessen, was wir tun könnten oder sollten, zu
beurteilen« (161).
Sonja Buckel, Stephan Adolphs, Serhat Karakayali
Anmerkungen:
<1> Im Original unter dem Titel »Misères du présent. Richesse du
possible« bereits 1997 erschienen. Alle Zitate ohne Namen sind diesem Buch
entnommen. <2> In der Arranca! Aufsätze von und Interviews mit
Revelli (Nr.12 u. 13), im ID-Verlag Negri und Lazzarato (s.
Literaturliste), Texte von Franco ›Bifo‹ Berardi auf [www.copyriot.com/unefarce/no1/artikel/forza.htm] <3>
Die USA werden in diesem Zusammenhang gemeinhin als Gegenbeispiel zitiert:
sie befänden sich im Stadium der Vollbeschäftigung. Fordistische
Normalarbeitsplätze stehen jedoch auch in den USA nicht reichlicher zur
Verfügung als in der BRD, sondern es werden genau jene Tätigkeiten, die in
Deutschland und in zahlreichen anderen europäischen Ländern noch immer
vorzugsweise im privaten Haushalt, in Eigenarbeit, gelegentlich in
Schwarzarbeit oder auch gar nicht erbracht werden, kommerzialisiert und
zumeist für Billiglohn angeboten, eine Entwicklung, die André Gorz
»Südafrikanisierung« der Metropolen nennt (Gorz 1989, 223). <4>
Gemeint sind Dienste – öffentlich oder privat organisiert – im Transport-,
Kommunikations- und Bildungswesen, im Gesundheits- und Energiebereich, die
»nicht mehr einfach nur ein Moment der Warenzirkulation oder ein Element
der Reproduktion von Reichtümern darstellen, sondern den strukturellen
Rahmen der Produktion bilden« ( Negri 1996, 83). In diesem Bereich kommt
es nach Negri zur Koproduktion zwischen ProduzentInnen und KonsumentInnen,
etwa im Gesundheits- oder Bildungsbereich, aber auch bezogen auf
Netzdienste (vgl. ebd., 84). <5> Um die Diskussion der
Arbeitswerttheorie bei Marx nicht weiter zu vertiefen, sei nur angemerkt,
daß es bei der Bestimmung des Werts durch abstrakte Arbeit nie darum ging,
die jeweils konkret geleistete Arbeit zu messen, geschweige denn, einen
Zusammenhang zwischen der Qualität der Arbeit und ihrer Dauer oder gar dem
Gebrauchswert des Produkts und letzterer herzustellen. Der Wert ergibt
sich nach Marx immer erst im Nachhinein, wenn die Waren sich auf dem Markt
vergleichen bzw. verglichen werden. Notwendige durchschnittliche
Arbeitszeit ist demnach eine Größe, die sowieso nicht meßbar ist, da sie
permanent durch gesellschaftliche Kommunikation (der Waren und ihrer
Produzenten) neu hergestellt wird. <6> Eine ähnliche Strategie
verfolgen die UnterzeichnerInnen des »Appells der 35« (vgl. Revelli
1999).
txt:
å Gorz, André (1989): Kritik der ökonomischen Vernunft.
Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft. Frankfurt am Main. å ders.
(2000): Arbeit zwischen Misere und Utopie. (Hrsg. v. Ulrich Beck).
Frankfurt am Main. å Lazzarato, Maurizio (1998a): »Immaterielle Arbeit«
In: Umherschweifende Produzenten. (Hg.: Thomas Atzert) Berlin. å ders.
(1998b): »So einfach ist das« Interview zur Ökonomie des Immateriellen.
In: Die Beute – Neue Folge Nr. 2, S. 159 – 169. å Negri, Toni (1996):
»Die Wiederaneignung des öffentlichen Raumes« und »Verlangt das
Unmögliche«. In: Die Beute Nr. 12, 4/96. å ders. (1998a): »Elend der
Gegenwart – Reichtum des Möglichen« In: Die Beute – Neue Folge Nr. 2, S.
170 – 180 å ders. (1998b): »Autonomie und Separatismus«. In:
Umherschweifende Produzenten. (Hg.: Thomas Atzert) Berlin. å
ders./Michael Hardt (1997): Die Arbeit des Dionysos.
Berlin-Amsterdam. å Marx, Karl. (1983): Grundrisse (MEW 42).
Berlin. å Revelli, Marco (1999): Die gesellschaftliche Linke. Jenseits
der Zivilisation der Arbeit.
Münster.
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