diskus 1/01

Grenze als Schleier und begrenzte Schleier

Im Sachkundeunterricht schien es eindeutig: Vorne hing eine ebenso riesige wie vergilbte Landkarte, auf der das abgebildet sein sollte, was allgemein »Deutschland« bzw. seinerzeit stets mit einem Unterton von Vorläufigkeit »BRD« genannt wurde: Ein zu weiten Teilen angeblich aufgrund geographischer Höhenlagen bräunlich gefärbter, länglicher Klotz; an den Rändern umzogen von einer kräftigen (»im Osten« schraffierten) roten Linie: Die Grenze, nach draußen und drüben. Alles, was diesseits der roten Linie lag, galt als deutsches Hoheitsgebiet, ein räumlich und juristisch homogenes Territorium, Herrschaftsreich des Grundgesetzes und sämtlicher nachgeordneter Gesetze. In diesem Raum, so belehrte die Staatsbürgerkunde, genießt man volle Freizügigkeit, kann sich von oben nach unten frei bewegen, unterliegt überall den gleichen gesetzlichen Vorschriften und muss sich Passkontrollen nur in Momenten des Grenzübertritts unterziehen.

Im letzten Jahrzehnt hat sich an solchen Sachkundegewissheiten einiges geändert: In die Homogenität des juristisch-geographischen Raums wurden Löcher gerissen und Schattierungen eingezogen. Zunehmend staffelt sich die »Tiefe des Raums« in Zonen unterschiedlicher Gesetzeslagen. Ausgehend von den Schlagbäumen hat Deutschland sein Territorium zum gestaffelten Hinterland formiert und die Defensivabteilung neu organisiert..

Angesichts dieser Entwicklungen sind Vorstellungen darüber, was Grenzen sind, zu revidieren: Noch zu Sachkundezeiten gab es gängige und im Alltag taugliche »Grenzbilder«: Mediale Darstellungen und eigene Erfahrungen ließen an Schlagbäume, Schäferhunde, Stacheldraht und Grenzbeamte denken, die – in hässlich-grauen Kabuffs sitzend – die Identifikation seines Selbst durch amtliche Dokumente verlangen. Gemeinsam ist solchen Assoziationen die Vorstellung von der Grenze als einem bestimmten geographischen Ort, einer linearen Hürde, die zu überschreiten und nach Übertritt auch überschritten ist. »Grenze« verdichtete sich in einem lokal fixierten Wall. Zunehmend weniger sind Grenzen solche bloßen Demarkationslinien; vielmehr sind sie zu Ausgangspunkten eines Kontroll- und Überwachungssystems geworden, das sich nach vorne wie nach hinten, ins Landesinnere wie in Nachbar- und Drittstaaten, verschoben und vervielfältigt hat..

Im Folgenden soll es um Verzahnungen von Grenzpolitiken und Raumdefinitionen bzw. -konstruktionen gehen, d. h. darum, wie sich die Macht des Grenzregimes in den geographischen und juristischen Raum einschreibt und etablierte räumliche Unterschiede strategisch nutzt. Was hier interessiert, sind die Mittel, Kniffe und Orte, mittels derer die Politik des Neuen (Schengen-)Deutschlands Einfluss auf die Bevölkerungszusammensetzung nimmt: diese quantitativ nach Außen zu begrenzen und qualitativ, also hinsichtlich ökonomischer, rechtlicher und politischer Stati zu regulieren versucht. Es sind Prozeduren, die die Bewegung von Leuten von draußen nach drinnen und von hier nach da sanktionieren und hierarchisieren..

Von der Linie zum Raum
Die Geschichte setzt an den ehemaligen Schlagbäumen an. Mit Einführung von Schengenland haben sich althergebrachte Konzepte von Grenze und Grenzsicherung überholt, und zwar sowohl Richtung Osten wie auch Richtung Westen / Süden / Norden: Aus dem Osten kommen nicht mehr wohlwollend aufzunehmende »Systemflüchtige«, sondern hier wird Deutschland seiner europäischen Verantwortung gerecht und formiert den Schengener Schutzwall. Zum einen wurden die Schlagbäume massiv verstärkt und zum anderen durch flexible, operative und schwer kalkulierbare Auffangnetze hinter dem eigentlichen Grenzverlauf ergänzt. In alle anderen Richtungen (ausgenommen der Schweiz) soll das Prinzip der Freizügigkeit gelten. So sind die Grenzkabuffs an den ehemaligen Zollgrenzen nach Frankreich oder Belgien passierbar, ohne mit dem Pass wedeln zu müssen. Dafür wurde »kompensatorisch« auch hier die Fahndung im Hinterland intensiviert:

Extra-Schengen-Grenzen
Das Schengener Durchführungsabkommen (SDÜ)1 gibt den Vertragsstaaten einen Kontrollstandard für ihre Grenzen nach Aussen vor.2 Alle Personen sind an den zugelassenen Grenzübergängen zumindest einer Passkontrolle und einer Fahndungsabfrage im Schengener-Informationssystem (SIS) und im jeweiligen nationalen Fahndungscomputer zu unterziehen. Ausländer aus Nicht-EU-Staaten müssen zusätzlich eine »eingehende Kontrolle« inklusive Durchsuchung mitgeführter Sachen über sich ergehen lassen. Dieser Anspruch lässt sich, so die herrschende Auffassung, mit einem konventionellen Konzept einer überwachten Demarkationslinie nicht bewerkstelligen, die – so technisch perfektioniert sie auch sein mag – eben doch von begrenzter Reichweite, umgeh- und täuschbar ist. Mit Verweis auf professionalisierte Schleusemethoden wurde die einstige Grenzlinie zum Grenzraum aufgebläht und die Kontrollstationen durch zusätzliche Auffangnetze ergänzt. Zentraler Schritt der Ausweitung der Grenzfahndung war die Novellierung des § 2 des Bundesgrenzschutzgesetz von 1994: Dort werden dem BGS erweiterte Befugnisse zugesprochen, um »im Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von dreißig Kilometern die Abwehr von Gefahren, die die Sicherheit der Grenze beeinträchtigen«, sicherzustellen. In dieser als »gefährdet« deklarierten Zone ist der BGS berechtigt, Identitätskontrollen oh-ne Anlass oder konkrete Verdachtsmomente vorzunehmen. Auch dürfen fortan Häuser und Wohnungen ohne richterliche Genehmigung betreten werden, die »erfahrungsgemäß als Treffpunkte von Schleusern oder Personen ohne Aufenthaltserlaubnis genutzt werden«, wie auch verdeckte Foto- und Videoüberwachung zur prä-ventiven Überwachung sowie nachrichtendienstliche Mittel und V-Leute eingesetzt werden. Schon einige tausend Meter in Bayern oder Brandenburg befindet man sich demnach auf einem Territorium, das zwar als Deutschland deklariert, gleichzeitig jedoch juristischen Sonderregelungen unterworfen ist. Hier geht es nicht mehr um die »polizeiliche Überwachung der Grenze«, sondern um die »Kontrolle grenzüberschreitenden Verkehrs«. Mit dieser Verflüssigung der Grenze korrespondieren auch die neuen BGS-Einsatzkonzepte, bei denen Sess-haftigkeit durch Mobilität ersetzt wird: Statt routinemäßigen Patroullien »schwirren« kleine, operative und relativ selbständig agierende Einheiten durch den Raum, die in ihren Bewegungen schwer berechenbar sind.

Zusätzlich zur intensivierten und flexibilisierten Fahndung wird die Bevölkerung des Grenzraums zu mobilisieren versucht. Da etwa auch TaxifahrerInnen Teil des grenzüberschreitenden Verkehrs sind, unterliegt ihre Arbeit besonderer Aufmerksamkeit seitens des BGS. Unter Berufung auf § 92 des Ausländergesetzes, in dem das »Einschleusen von Ausländern« inkriminiert wird, sind sie aufgefordert, sich aktiv als GrenzschützerInnen zu betätigen. Lassen sie sich nicht die Papiere von Fahrgästen zeigen (wozu sie als Privatpersonen eigentlich nicht befugt sind) und melden sie ihren »Verdachtsfall« auf der Rückbank nicht umgehend, drohen die Einziehung des Fahrzeugs, der Entzug der Konzession oder Haftstrafen. Dass nicht nur gedroht, sondern durchaus ernst gemacht wird, dokumentieren Verurteilungen von TaxifahrerInnen zu Haftstrafen von über zwei Jahren. Gleichzeitig signalisiert der Protest von TaxifahrerInnen, dass auch im aufgerüsteten Grenzraum nicht immer alles reibungslos verläuft.3

Intra-Schengen-Grenzen
Zwischen Deutschland und seinen westlichen Nachbarstaaten sind die Grenzkontrollen formal abgeschafft worden. Laut Art. 2 SDÜ ist eine Kontrolle des grenzüberschreitenden Intra-Schengen-Verkehrs und damit ein Engagement des BGS untersagt. Gleichwohl gilt die 30 km-Zone nicht nur im Osten, sondern auch an den Grenzen zu den Schengen-Vertragspartnern und auch hier hat sich – allem Freizügigkeitsgerede zum Trotz – die Präsenz des BGS massiv erhöht. Um dies entgegen den vertraglichen Vorschriften zu bewerkstelligen, zeigt man sich bauernschlau: Nach Art. 3 SDÜ bleibt nämlich die »Ausübung der Polizeibefugnisse durch die nach nationalem Recht zustän-digen Behörden von der Abschaffung der Binnengrenzen unberührt«. Kontrollbefugt ist also nicht der BGS, sondern ist die Landespolizei, was auch in den jeweiligen Landespolizeigesetzen so verankert wurde. In-sofern ist es der Polizei der jeweiligen Bundesländer weiterhin gestattet, Kontrollen durchzuführen, dies jedoch nicht aus Anlass eines möglichen Grenzübertritts, sondern um die »Fahndungsmöglichkeiten zur Bekämpfung von Straftaten« zu verbessern. Und da die Tätigkeit des BGS als »lediglich beobachtend« definiert wird, darf auch er dabei sein. Abgesichert wird dieses Arm in Arm von Landespolizeien und Bundeseinheiten durch sogenannte Sicherheitsabkommen zwischen Bundesländern und dem BIM (Baden-Württemberg machte 1997 den Anfang), in denen geregelt wird, dass auch da, wo keine Grenzen mehr sein sollen / dürfen, kontrolliert werden kann.

»Unsere Verkehrsinfrastruktur«
»Wir können es uns nicht leisten, lediglich an den Schlagbäumen der Schengen- und EU-Außengrenzen auf Kriminelle zu warten. Rechtsbrecher jeglicher Couleur nutzen unsere Verkehrsinfrastruktur für ihre kriminellen Machenschaften. Wir lassen sie aber nicht mehr unerkannt und unbehelligt einfach im Verkehr mitschwimmen.« tönte Bayerns Innenstaatssekretär Regensburger programmatisch. Was mit der 30 km-Zone anfing, die räumliche Ausdehnung der Grenze und der Grenzfahndung, setzte sich in stetigen Prozessen der inneren Landnahmen fort: Zunehmend verlängert sich die Grenze ins Binnenland. So gingen einzelne Bundesländer dazu über, zentrale Wege des bundesweiten Verkehrsnetzes als »grenzrelevante« Räume zu definieren: Auf Durchgangsstraßen (Bundesautobahnen, Europastraßen etc.) und in öffentlichen Einrichtungen des internationalen Verkehrs, sprich Bahnhöfen aller Art, Flughäfen, aber auch Tank- und Raststätten sowie Häfen wurden fortan in verschärftem Maße verdachts- und ereignisunabhängige Grenzverkehrskontrollen durchgeführt.

Auch das schien nicht genug. Im nächsten Schritt, in dem sich darauf berufen wurde, dass unerwünscht Eingereiste die zentralen Verkehrslinien immer häu-figer umgingen, wurden auch alle übrigen Straßen dem besonderen Augenmerk des Grenzschutzes unterstellt. Der eigenen Logik folgend bezeichnete der Entwurf des sächsischen Innenministeriums Bundes- und Landstraßen als »Schleichwege«.4

Noch mehr Schleier und gefährliche Orte
Nachdem solchermaßen binnen weniger Jahre nahezu der gesamte Verkehr als Grenzverkehr entdeckt und deklariert wurde, zielten weitere Maßnahmen auf die Ausweitung der Kontrollbefugnisse und -instrumente. Sogenannte Jedermanns-Kontrollen, auf deren Grundlage AutofahrerInnen ohne Grund kontrolliert werden konnten, waren im Rahmen der Verkehrssicherheit seit den 70er Jahren in den jeweiligen Polizeigesetzen verankert. Allerdings waren die Befugnisse gesetzlich begrenzt. So waren etwa Durchsuchungen des Wagens oder die Überprüfung von BeifahrerInnen anhand der Fahndungsdatei gesetzlich nicht gedeckt. Hier schafft die »Schleierfahndung« – erstmals 1994 in Bayern erlassen – neue rechtliche Grundlagen. Mit dieser löst man sich von verkehrspolizeilichen Aufgaben und widmet sich allgemeinen Personen- und Sachfahndungen, was übersetzt heißt: der Bekämpfung des Schleuserwesens und der organisierten Kriminalität sowie der Durchsetzung ausländer- und asylrechtlicher Bestimmungen. Kontrollen im Binnenland werden demnach explizit mit der Sicherung von Deutschlands Grenzen begründet. Getreu dem Motto »Von der Grenze lernen« bezieht man dabei auch Gerät und Personal von der Grenzfahndung, d. h. am Werke sind mit High-Tech-Equipment ausgestattete operative Spezi-aleinheiten. Auch Hessen zog am 3. Mai 2000 nach und verankerte die Schleierfahndung im Polizeigesetz. Seit dem wurden mehrere Verkehrsrazzien u. a. auf einer Raststätte an der A 3 oder auch am Frankfurter Hauptbahnhof durchgeführt, wobei ca. 3/4 der Festnahmen wegen »gefälschter Pässen« vollzogen wurden.

Konsequent wurde die Praxis verdachtsunabhängiger Personenkontrollen auch in die Innenstädte verlängert. In mehreren Städten wurden von den zuständigen Polizeileitungen »gefährliche Orte« festgelegt, an denen spezielle operative Einsatzgruppen der Polizei zum Teil mehrfach täglich Razzien durchführen. Da an diesen Orten »die Gefahr lauert«, wie die Berliner Morgenpost im Dezember 2000 titelte, wurden hier wesentliche Persönlichkeitsrechte außer Kraft gesetzt. So kann die Polizei ohne Begründung Personalien überprüfen, Leute durchsuchen, Fotos von verdäch-tigen Personen anfertigen und eigenverantwortlich zeitlich unbegrenzte Platzverweise ohne Angabe von Gründen erteilen. In Berlin sind seit 1996 unter Berufung auf § 21 des allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes mittlerweile über 30 Plätze klassifiziert worden. Durch eine permanente Kontrolldrohung wird beständig Druck auf informelle Netzwerke ausgeübt und jene, deren Aufenthaltsstatus von illegalisiert bis prekär reicht, werden gezwungen, sich hier besser nicht blicken zu lassen.

# Für diejenigen, die auf dem Landweg und ohne entsprechende Dokumente einreisen, nimmt der Grenzübertritt also kein Ende mehr. Jede U-Bahnstation ist mittlerweile zum potentiellen Grenzkontrollpunkt geworden. Im Binnenland immer schon stattfindende willkürliche Kontrollen wurden gesetzlich festgeklopft und in eine systematische, entsprechend ausgestattete Fahndungspraxis überführt.5

Der Luftweg: Verschluckt im exterritorialen Loch
Man stelle sich folgende Situation vor: Man befindet sich im Wartesaal eines Krankenhauses in Höchst und wartet darauf, dass Weissbekittelte einen endlich zum Termin aufrufen. Neben einem sitzen drei andere Wartende: Zwei sind grünuniformiert und schnauzbärtig, eine dritte Person – eingeklemmt zwischen den anderen – sieht ziemlich strapaziert aus. Bekanntlich befindet sich Höchst in Deutschland. Das Verblüffende an dieser Situation ist jedoch, dass sich in der juristischen Wirklichkeit eine der Personen – die eingeklemmte – zwar im Wartesaal eines Krankenhauses in Höchst, nicht aber in Deutschland aufhält.

Auch für dieses Phänomen sind die Schengen-Regelungen verantwortlich. Die Logik ist so simpel wie perfide: Diejenigen, die irgendwo durch deutsche Gegenden laufen, müssen, um hier her gekommen zu sein, einen Nachbarstaat durchquert haben – und da alle angrenzenden Staaten als sichere Drittstaaten deklariert sind, können die Aufgegriffenen getrost dorthin zurückverfrachtet werden. Schwieriger wird’s bei jenen, die eingeflogen sind: Hier wäre die deutsche Rechtsprechung zuständig, wenn, ja wenn die Leute sich auch tatsächlich in Deutschland aufhalten würden. Während es bei dem bisher Beschriebenen darum geht, illegal Eingereiste wieder nach draußen zu befördern, zielt das Flughafenverfahren darauf, Eingeflogene in exterritorialen Transitzonen so festzuhalten, dass sie als nicht mal eingereist gelten. Entsprechend sieht das Asylverfahrensgesetz hinsichtlich Flughäfen vor, dass eine Prüfung des Asylantrags vor der Einreise durchzuführen ist, »soweit die Unterbringung auf dem Flughafengelände während des Verfahrens möglich oder lediglich wegen einer erforderlichen stationären Krankenhausbehandlung nicht möglich ist« (AsylVfG § 18 a).6 Auch laut § 59 Ausländergesetz (AuslG) gilt eine Person so lange nicht als nach Deutschland eingereist, solange sie die Grenzübergangsstelle nicht oder nur »zu einem bestimmten vorübergehenden Zweck« passiert hat, »solange den Behörden die Kontrolle des Aufenthalts des Ausländers möglich bleibt.« Und so kommt es, dass Leute monatelang im Internierungsknast im Frankfurter Transitbereich ein- und von ihrer Einreise ausgesperrt bleiben und sich selbst im Höchster Krankenhaus nicht in Deutschland befinden.

Grenze Landkreis
Kürzlich, als ich mit dem Auto durch den Vordertaunus fuhr, machte mein Begleiter die Bemerkung, wir hätten gerade den Landkreis gewechselt. Landkreis? Während ich noch darüber nachdachte, ob die Abstimmung über einen Landkreisvorsitzenden wohl eines meiner demokratischen Rechte darstellt, dämmerte es mir, dass mein Beifahrer eine Grenze überschritten hatte: Eben noch auf Spritztour, nun schon ordnungswidrig. Für diejenigen, denen zwar die Einreise gelungen ist, deren Asylantrag aber noch bearbeitet wird, wird das Bundesterritorium mittels § 56 des Asylverfahrensgesetzes und § 36 des Ausländer-gesetzes weitgehend flächendeckend zur no-go-area konstruiert. Die Aufenthaltsgestattung ist räumlich auf den Bezirk der zugewiesenen Aufnahmeeinrichtung und der damit zuständigen Ausländerbehörde beschränkt.7 Diese Residenzpflicht untersagt es, diesen Bezirk ohne ausdrückliche Genehmigung zu verlassen. Mit dieser Regelung schnurrt der legal betretbare Raum für die nach Deutschland Eingereisten also auf Bezirksgröße zusammen. Bei dem Versuch, einen Unverfrorenen, der sich mehrfach über die ominöse Grenze bewegt hatte, seiner Strafe zuzuführen, scheute sich die Polizei Anfang Mai in Tübingen nicht, diesen mit dem Hubschrauber im Tiefflug durch die Stadt zu verfolgen.

Quartiersverbote – Beispiel Bremen
Hätte sich die Vordertaunus-Szene in Bremen ereignet, hätte es sein können, dass mir mein Begleiter einen Stadtplan vorgelegt hätte, in dem zentrale Viertel der Innenstadt mit dicken Linien umrandet gewesen wären. Ein beiliegendes behördliches Schreiben würde anordnen, dass ihm »der Aufenthalt in dem Gebiet, das in dem anliegenden Stadtplan schwarz umrandet ist, untersagt« wird. Mit der Neuregelung des Asylverfahrensgesetzes von 1992 ist den Ausländerbehörden das Recht eingeräumt worden, die Aufenthaltsgestattung mit zusätzlichen Auflagen zu versehen. In Bremen wird diese Befugnis bei Bedarf so realisiert, dass die Zonen legitimen Aufenthalts weiter eingeschränkt werden. Angesichts solcher unbefristeter Betretungsverbote sieht für manche deutsche Freizügigkeit also so aus, dass sie aus dem ihnen zugewiesenen Bezirk nicht raus, in städtische Viertel nicht rein dürfen. Betretungsverbote werden meist für diejenigen ausgesprochen, die beschuldigt werden, beim »Handel mit Betäubungsmitteln in Erscheinung getreten zu sein«. In einem solchen Fall bittet die Polizei die Ausländerbehörde um Amtshilfe, d. h. diese verhängt prompt und ohne weitere Nachfragen die zusätzliche räum-liche Beschränkung. Wie aber tritt man wegen Handels mit Betäubungsmitteln in Erscheinung? Beim Nachweis entsprechender Indizien beweisen deutsche Bullen ihre ganze Pfiffigkeit: Man muss nicht verurteilt sein oder unter Anklage stehen; es ist auch nicht nötig, beim Handel ertappt zu werden oder illegalisierte Drogen bei sich zu tragen; vielmehr gelten als stichhaltige Hinweise, sich in »kriminogenen« Bereichen aufzuhalten, mit anderen üblichen Verdächtigen zu sprechen oder in einer Gruppe rumzustehen, in denen jemand anderes dealt – womit Unschuldsvermutung außer und Kollektivverdacht in Kraft gesetzt sind. Als lupenreines Indiz gilt auch das »Mitführen von Geldbeträgen in typischen Stückelungen«, d. h. hochverdächtige 10- oder 20-DM-Scheine.

Wer gegen das Aufenthaltsverbot verstößt – hierzu reicht es schon, am Bahnhof umzusteigen – handelt sich Bußgeldbescheide ein. Wer diese wiederum nicht zahlen kann (vielleicht, weil die zugeteilten Essenspakete von den Behörden nicht akzeptiert werden), wird in »Erzwingungshaft« genommen.8 Manche müssen also nur einen öffentlichen Platz überquert haben, um sich in deutschen Knästen wiederzufinden. Um solche Inhaftierungen gesetzlich abgesichert verhängen zu können, muss sich die Polizei auf § 2 des Bremer Polizeigesetzes berufen, wonach eine Person dann in Gewahrsam genommen werden kann, wenn sie eine »erhebliche Gefahr« darstellt, also »den Bestand des Staates, Leben, Gesundheit oder nicht unwesentliche Vermögenswerte« gefährdet. Wäre es doch so, dass man durch das Überqueren eines Platzes den Bestand des Staates gefährden könnte ...9

Grenzen staatlicher Verfolgung
Will man die Gegenwart von Raum-Grenze-Recht hierzulande beschreiben, kommt man um Differenzierungen nicht herum: Für »mich« hat hinsichtlich Legalität und Legitimität die eingangs erwähnte Abbildung eines homogenen Innenraums, der lediglich an seinen Rändern begrenzt ist, noch weitgehend Gültigkeit. Für andere spaltet sich je nach gestattetem Staatsbürger-kapital der geographische Raum Deutschland auf in Sonderbefugnisse, Kontrolldichten, Illegalitätszonen. Vom Status der sich bewegenden Subjekte hängt es ab, ob überhaupt eine Grenze überschritten wurde und welche Konsequenzen der Übertritt zeitigt.

Die Konstruktion von differenzierten und differenzierenden Räumen basiert formal auf juristischen Definitionen und materiell auf der Entsendung von Gerät und Personal. Wirksam wird das Ganze durch die aktive Anwendung der vorhandenen Mittel: Es wird patrouilliert, durch Nachtsichtgeräte geglotzt, der Computer gefüttert, die Bevölkerung mobilisiert, die Kelle hochgehalten, ausgefragt, mal ein-, mal ausgesperrt. Die Vervielfältigung von Grenzen bezieht ihr Wissen und ihre Technologien dabei aus einem Repertoire bereits andernorts erprobter Kontrollkonzepte: Know-how, technisches Equipment und Personal werden von der Grenze ins Landesinnere transferiert, die Schleierfahndung greift auf Erfahrungen aus AntiTerrorismus-Kampagnen der 70er Jahre zurück, die Infrastruktur zur umfassenden elektronischen Daten-erfassung wurde im bürokratischen Wohlfahrtsstaat entwickelt. Und auch die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und Meldepflicht erinnern an Disziplinierungsmethoden, denen Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosengeldbezieher unterliegen.

Angesichts des etablierten Grenzregimes drängt sich das Bild eines perfektionierten und allmächtigen Fahndungsapparates auf. Und tatsächlich zeigen die Raster und Schleier, die übers Land gelegt wurden, (abschreckende) Wirkungen: Immer Weniger wagen die Einreise, viel zu groß ist die Gefahr geworden, sich in den diversen Auffanglinien zu verheddern oder kriminalisiert zu werden bzw. gar darin umzukommen. Selbst noch in seinem »Scheitern« scheint das Grenz-regime (s)einen Zweck zu erfüllen: Auch diejenigen, die die gesamte Maschinerie durchlaufen oder umgangen haben, sind ihr nicht entgangen: Ihnen sind Stati zugewiesen – die Skala reicht von illegal bis geduldet – die jeden weiteren Schritt hier festlegen.

Dennoch: Die Perspektive ist zu kurz gegriffen, wonach man es hier mit einer geschlossenen Institution zu tun hat, die »alles und jede(n) im Griff hat«. Das Grenzregime mag die Sichtbarkeit (von Schleichwegen und Schleichenden) erhöhen, Wahrscheinlichkeiten (dass jemand auffällig wird) optimieren und den Zugriff erleichtern – es vermag »staatliche Unwissenheit« über die Praktiken und Wege Vieler nur einzugrenzen, nicht aber auszuräumen. Konstruktionen von Grenzen sind zwar zu jeder Zeit und an jedem Ort mobilisiert worden – darin jedoch nicht willkürlich: Sie folgen den Wegen derer, die hier nicht sein sollen, von deren Grenzübertritt bzw. Einreise über die nächsten Etappen »ins Landesinnere« und schließlich an innerstädtische Orte, wo sie sich aufhalten. So mächtig die beschriebenen Politiken auch sein mögen, Ressourcen zu nutzen und die anderer zu begrenzen, so jagen sie den Praktiken der Verfolgten mitunter doch hinterher. Besondere Befugnisse im Grenzraum wurden erst dann erlassen, als Leute ihre Art der Einreise organisiert und bereits Pfade getreten haben; die Deklaration von Orten als gefährliche und die Installierung von Videokameras in den Innenstädten sind Reaktionen darauf, dass Leute ihre Netzwerke geknüpft und sich Plätze angeeignet haben. Es sind auch die untergründigen Taktiken vieler, die die Verfolgungsbehörden herausfordern und ihnen Anpassungen aufnötigen. Das wahrzunehmen heißt nicht, dass das bisher Geschriebene falsch ist; vielmehr heisst es, dass es nur eine Perspektive auf das Grenzregime ist. (Und beim Schreiben dieses Schlusses wächst der Ärger, auch bei diesem Text wieder genau diese Perspektive – »der Staat tut dies, der Staat tut jenes« – reproduziert zu haben, die den leidigen Effekt hat, dass in ihr die Praktiken der GrenzgängerInnen abermals verschluckt werden.) Es geht nicht darum, aus den, den ganzen Text über als »Objekte« erwähnten per Handstreich nunmehr glorreiche Subjekte des Widerstandes zu machen. Die Chance, sowohl paternalistische als auch idealisierende Haltungen hinter sich zu lassen, liegt genau in dem Versuch, die Widersprüchlichkeit von Grenzregimes wahrzunehmen, d. h. einzubeziehen, dass Grenzgeschichten auch Geschichten von alltäglichen Organisierungen, von Wissen um Schlupflöcher, Pfade und Kontaktstellen und von der Bereitschaft sind, sich den Risiken auszusetzen; und dies nicht, weil Leute unbedingt gegen den Staat opponieren wollen, sondern weil sie gezwungen sind, sich auf dessen Terrain und inmitten dessen Grenzarrangements zu bewegen, wenn sie dem Wunsch nach einem anderen Leben bzw. einem Leben anderswo nachgehen.
Christian Sälzer

] 1 [ Dieses Durchführungsabkommen dokumentiert nachdrücklich, wie wenig oder besser: wie selektiv Schengen »mehr Freizügigkeit« bedeutet. Von den 142 Artikeln, in denen die Umsetzung des Schengener-Abkommens geregelt werden, beschäftigt sich gerade mal einer mit der Aufhebung von Kontrollen. Der Rest behandelt »Ausgleichsmaßnahmen«, also Fragen, wie gerade wegen dem Wegfall von Binnengrenzen weiter und umfassender kontrolliert werden kann.
] 2 [ Halbjährlich schickt der Schengener Exekutivausschuss »Besuchsteams« an die Außengrenzen der Vertragsgemeinschaft, um die Erfüllung der Kontrollstandards zu überprüfen. In deren Berichten wird insbesondere Deutschland, das an den Ostgrenzen »ein umfassendes Entwicklungsprojekt vorweisen« könne, wegen seiner »sehr fortschrittlichen« technischen Ausrüstung gelobt.
] 3 [ Zusätzlich basiert die Mobilmachung des Grenzraums verstärkt auf der Einbeziehung der Bevölkerung seitens des BGS: Willige Personen werden als sogenannte »Grenzpolizeiliche Unterstützungskräfte« oder im Rahmen von Projekten wie »Solidargemeinschaft Schutz vor Kriminalität« als Bürgerstreifendienst in die Fahndungen eingebunden. Es sagt viel über die Gewissenhaftigkeit als auch über die Ressentiments der Bürger, dass 2/3 der Kontrollen auf Hinweise »aus der Bevölkerung« zurückgehen.
] 4 [ Und so kommt es, dass selbst Thüringen, das weder eine Schengen-Binnen- noch eine Schengen-Ausengrenze hat, den Wegfall der Grenzkontrollen kompensiert, da – so der Gesetzestext – »aufgrund des Zusammenwachsens der europäischen Staaten, die mit der Bewegungsfreiheit einhergehende Migration und die damit im Zusammenhang stehenden Kriminalitätsformen (zeigen), dass auch Thüringen (...) nicht außerhalb des kriminalgeographischen Spektrums liegt«.
] 5 [ Es ist ein nicht unerheblicher Aspekt, dass sich der Bund durch die massive Zuständigkeitserweiterung des BGS einen lang gehegten Wunsch erfüllt hat: Er verfügt nunmehr über eine bestens ausgestattete Bundespolizei.
] 6 [ Laut § 74 a des AuslG sind Flughafenbetreiber verpflichtet, auf dem Flughafengelände geeignete Unterkünfte zur Unterbringung bis zum Vollzug der grenzpolizeilichen Entscheidung über die Einreise bereitzustellen. Hinzu kommt, dass den Fluglinien von den staatlichen Behörden sogenannte Carrier Sanctions, also Strafgeldern drohen, wenn sie Menschen ohne gültige Dokumente befördern.
] 7 [ Auch Personen mit »geduldetem Status« ist es untersagt, ihren jeweiligen Landkreis bzw. ihr Bundesland zu verlassen.
] 8 [ Auch hier unterliegen Nicht-Deutsche gesetzlicher Sonderbehandlung: Im Gegensatz zur Gesetzeslage für Deutsche wird die Geldbuße mit der Haft nicht abgesessen, sondern ihr lediglich »Nachdruck verliehen«, d. h. auf Zahlung des verhängten Betrages wird unvermindert insistiert – weswegen sich oft weitere Inhaftierung anschließen.
] 9 [ Aber auch hier ist noch nicht Ende der Bremer Fahnenstange: Seit 1996 arbeiten hier Polizei und die Betreibergesellschaft der Straßenbahnen (BSAG) zusammen und verhängen – wieder aufgrund der Beschuldigung mit Drogenhandel – einjährige Beförderungsverbote in Straßenbahnen.

some txt + info:
¬ alaska. Zeitschrift für Internationalismus, Heft 235: »Grenzsituation. Grenzen, Rassismus, Migration«. Bremen März 2001
¬ cilip. Bürgerrechte und Polizei, Heft 1 / 1998: »Europas neue Grenzen«. Berlin (www.cilip.de)
¬ Forschungsgesellschaft Flucht und Migration und Pro Asyl: »Die Grenze – Flüchtlingsjagd in Schengenland«, Themenheft in der Reihe des Niedersächsichen Flüchtlingrates. Juli 1998 (www.ffm-berlin.de)
¬ Heft 4: Antirassismusbüro Bremen, Heft 4: »Sie behandeln uns wie Tiere – Rassismus bei Polizei und Justiz in Deutschland«. Berlin 1997. (www.ffm-berlin.de)

Die Bilder auf den Seiten 6 – 8 sind Videostills aus dem Projekt »Dienstleistung: Fluchthilfe« von Martin Krenn und Oliver Ressler. Dieses Projekt greift mittels verschiedener Medien die durchgesetzte negative Besetzung von Begriffen wie »Schleuser« oder »Schlepper« auf und an. Hierzu wurde u. a. eine Postwurfsendung entlang der EU-Aussengrenze in der Steiermark verteilt. Im Herbst 2001 wird das Projekt im Kunstraum Lüneburg ausgestellt. Thanks for the material. Red.
Infos: www.t0.or.at/fluchthilfe