diskus 1/01

Entsteht eine neue europäische Raumordnung?

Die Rückbindung von MigrantInnen und Flüchtlingen ans Territorium
31. März 1999: Der Krieg ums Kosovo ist seit einer Woche im Gange. In den ersten Kriegstagen hat Außenminister Fischer Auschwitz an die Wand gemalt, und Kriegsminister Scharping will ein KZ in Pristina ausgemacht haben. Am Morgen dieses 31. März berichten die Tageszeitungen, dass Innenminister Schily zusammen mit den anderen EU-Staaten ein »Sofort-hilfeprogramm für die Versorgung der Zehntausenden von Flüchtlingen« auflegen würde, um eine »humanitäre Katastrophe zu verhindern«. Die Flüchtlinge sollten keine Aufnahme in den EU-Ländern finden, sondern in den »unmittelbar betroffenen Krisenregionen« gehalten werden. An demselben Morgen soll eine Kosovarin aus Berlin mit ihrer Mutter im Kosovo telefoniert haben. Wir wissen nicht, was die Mutter berichtete: Ob NATO-Bomben in ihrem Ort eingeschlagen waren, ob die serbische Polizei gerade die Albanischsprechenden ihres Ortes vertrieb oder ob sich die Menschen selbständig auf die Flucht machten. Dieses Telefonat ist jedoch eines der Beweisstücke in einem Prozess gegen FluchthelferInnen, die auch während des Kriegs kosovarische Flüchtlinge bis nach Deutschland gebracht haben sollen. Der Prozess, einer der größten seiner Art, läuft seit Monaten am Berliner Landgericht. Aus der Anklageschrift geht hervor, dass das Berliner LKA die Telefonate genau in der Zeit des Krieges überwachte, als die Regierungen die Vertreibungen zur Legitimation des Kriegs heranzogen. Die Überwachungen waren explizit zu dem Zweck angeordnet, die Fluchtwege aus dem Kosovo nach Berlin zu ermitteln und zu zerschlagen.

Die Reise aus dem Kriegsgebiet durch mehrere Transitländer dauerte eine Woche bis einen Monat und kostete pauschal 3000 D-Mark. Angesichts der Aufwendungen für Beförderung, Bestechung und Logis ist der Preis eher fair als gewinnträchtig. Die Gruppen, die sich an dem Transport der Flüchtlinge beteiligten, mussten eine Garantie für ihre spätere Entlohnung erhalten und das geschah häufig fernmündlich. Die Überwachung der Telefone und der finanziellen Transaktionen sollten die Anhaltspunkte für die Konstruktion einer kommerziellen Fluchthilfeorganisation liefern. Den Angeklagten drohen bis zu zehnjährige Haftstrafen.

Wie ist es möglich, dass die Polizei aus der sozialen Lage der bedrängten Zivilbevölkerung im Krieg das Feindbild der »Illegalen«, der »Schlepper und Schleuser« konstruieren kann?

Die Existenz von Flüchtlingen und MigrantInnen zeichnet sich dadurch aus, dass sie der Aufteilung der Welt in nationale Arbeitsmärkte, Sicherungssysteme sowie der territorialen Staffelung von Akkumulationszentren und Armutszonen nicht entspricht. Es gibt keine andere Gruppe, die in eine solche Vielzahl von verwaltungsrechtlichen Kategorien aufgespalten und derartig bürokratisch umklammert wird. Die Umschließung reicht bis hin zur totalen Institution (Internierung in Lagern, Inhaftierung ohne Deliktvorwurf, Abschiebung). Sie werden zu Objekten gemacht, aus denen jede Subjektivität herausgesäubert wurde.

Ihre Bestimmung ist es, pure Arbeitskraft zu sein. Oder, wenn sie als Flüchtlinge kategorisiert werden, sind sie nur stimmlose Opfer – von »Menschenhandel«, Vertreibung und »Heimatlosigkeit«. So vermittelt es jedenfalls die herrschende politische Diskussion und Praxis. Selbständige Regungen, sei es im widerspenstigen Arbeitsverhalten oder als sozialer Zusammenschluss, sind nicht vorgesehen. Es verunsichert zutiefst die Definitionskraft und Planungsmacht von Staat, Kapital und Gesellschaft.

Die ungesteuerte Arbeitsmigration und die unvorhergesehene Ankunft zahlreicher Flüchtlinge gelten heutzutage als eine der größten innen- wie außenpolitischen Bedrohungen. Dabei besteht die Gefahr nicht etwa darin, dass die Ankommenden eine »Aufstandsbewegung« verkörperten, sondern dass sie die definitorischen und planerischen Ordnungssysteme sprengen.

Sozialgeschichte der Festung Europa
Zwischen 1985 und 1990 haben sich erst die Bundes-republik Deutschland, Frankreich und die Benelux-Länder, und nach und nach fast alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zu einer gemeinsamen Flüchtlings- und Migrationspolitik unter dem Namen Schengen zusammengeschlossen.

In jenen frühen Jahren stellte sich heraus, dass das Modell der Rotationsmigration endgültig gescheitert war: viele »GastarbeiterInnen« kehrten nicht zurück. Die Bundesrepublik hatte Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre auf das Rotationsmodell in der Vision gesetzt, dass sich die Produktionsordnung auf lange Sicht fortschreiben ließe. Aber die Arbeitskämpfe, die einsetzende kapitalistische Krise und die Verwandlung von Arbeitskräfteimporten zu dauerhaften ImmigrantInnen machten den Planungsvisionen ein Ende. Alle De-facto-Einwanderungsländer verhängten einen Zuwanderungsstopp, den aber viele MigrantInnen mit Hilfe der Familienzusammenführung nachhaltig unterliefen.

In jenen Jahren forcierte der globalisierte Kapitalismus auch in den Ländern der nachholenden Entwicklung den Gegensatz zwischen Inseln der Industrie umgeben von einem Meer der Armut. Bürgerkriege lokaler Machthaber und Verwüstungen führten zu jenen Flüchtlingsbewegungen, von denen bisher nur ein kleiner Teil die westeuropäischen Zentren erreichte, deren Abwehr aber derart heftig Westeuropa geprägt hat.

Das war der Rahmen, in dem die Agenturen der Großunternehmen und des Staats in den frühen 80er Jahren die Migrationspolitik an westeuropäische Polizeiklubs abgaben. Die polizeilichen Konferenzen und Innenministerrunden, die als Arbeitsgruppen unter Namen wie TREVI anfangs die Bekämpfung linker Bewegungen koordinierten, übernahmen nun zusätzlich die Konzeption einer neuen Flüchtlings- und Migrationspolitik. Ihr Ziel war die Schaffung eines einheitlichen westeuropäischen Raums, in dem sich das Kapital, Waren, Dienstleistungen sowie die nationalen Bevölkerungen frei bewegen könnten. Zwei Mittel sollten zu diesem Ziel führen: die Errichtung einer westeuropäischen Außengrenze, die Menschen von außerhalb abhalten sollte, und die Umwandlung der innereuropäischen Schlagbaumpolizisten in mobile Fahndungseinheiten gegen Andersaussehende (Schleierfahndung). Das neue Westeuropa war damit als ein verpolizeilichter Großraum angelegt.

Die Schengener Grenzpolitik wurde so zunehmend zum Motor einer westeuropäischen polizeilichen Integration. Vor allem der Maastrichter Vertrag (1991 unterzeichnet, 1993 in Kraft getreten)1 verlagerte die Integrationsebene von der Wirtschaft zur Polizei- und Innenministerpolitik. Gegenüber sozialwirtschaftlichen Aufgaben haben ordnungspolitische Interventionen des Staates an Bedeutung gewonnen.

Dieser Wandel auch auf der EG / EU-Ebene ist um so bemerkenswerter, als die lange Geschichte der Europäischen Gemeinschaft von den Interessen der Stahl-, Atom- und Agrarindustrie geprägt war. Die EG-Wirtschaftspolitik hatte zu einer starken »Vergemeinschaftung« geführt, das heißt zu einer Art supranationaler Regierung in Brüssel wie sie heute in der Europäischen Kommission zum Ausdruck kommt. Mit der Umwandlung der EG zur Europäischen Union (EU) 1991 / 93 entstanden neben der Kommission nun weitere organisatorische Standbeine, die »Säulen« genannt werden. Neben der »zweiten Säule«, der Gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik (GASP), avancierte die Zusammenarbeit der Innenminister und Polizeien zur »dritten Säule«. Sie unterliegt keiner parlamentarischen Kontrolle und ihre Beschlüsse sind bis heute zum großen Teil geheim. Ihr organisatorisches Prinzip ist eher intergouvernamental (zwischenstaatlich) als supranational.

Während sich zu Beginn der 90er Jahre die Verschränkung von Flüchtlings- und Europapolitik vor allem lokal durch die Aufrüstung der Außengrenze artikuliert hat, greift sie mit dem Zerfall des sowjetisch dominierten Blocks weit über die Grenzen hinaus. Vor allem die osteuropäischen EU-Beitrittsländer und Südosteuropa sind davon betroffen. Die Flüchtlings- und Migrationspolitik Westeuropas droht so zum Katalysator einer neuen europäischen Raumordnung zu werden. Zwei internationale Organisationsformen im Vorfeld der Festung Europa, die weitgehend in der Öffentlichkeit unbekannt sind, seien kurz vorgestellt: der sog. »Budapester Prozess« und die IOM.

Der »Budapester Prozess« führt die Innenministerien und Polizeiapparate West-, Ost- und Südosteuropas zur Bekämpfung der »illegalen« Migration zusammen. Seinen Ausgang nahm er mit der Berliner Konferenz der Innenminister 1991. Bis heute scheint die deutsche Bundesregierung der wichtigste Akteur im Hintergrund dieser Vorfeldorganisierung der Festung Europas zu sein. Daneben hat in den letzten Jahren eine andere internationale Organisation an Bedeutung gewonnen: Die International Organization for Migration (IOM). Sie entstand vor 50 Jahren auf Initiative der USA in Westeuropa (unter dem Namen ICEM; der Namenswechsel zu IOM erfolgte 1989), um im beginnenden Kalten Krieg potentielle Unruhebewegungen durch gesteuerte Emigration zu kanalisieren. Im Unterschied zum UNHCR sollte die IOM nicht von den Vereinten Nationen kontrolliert werden. Inzwischen ist sie in jedem Land Europas präsent und hat verschiedenste Aktivitäten der Migrationsbekämpfung entwickelt. Menschenhandel, Frauenhandel, freiwillige Rückkehr, Erkundung von Abschiebemöglichkeiten für Regierungen und der Aufbau paramilitärischer Gruppen (wie die Umwandlung der UCK in einen technischen Hilfsdienst) sind heute Arbeitsthemen der IOM.

Wenn man die 90er Jahre Revue passieren lässt, so kann man erkennen, dass sich die Festung Europa an ihren Rändern stark verändert hat. Weit vor der Oder-Neiße-Grenze sind vorverlagerte Grenzringe entstanden. Praktisch alle Länder übernahmen zumindest auf konzeptioneller Ebene das Feindbild der zu bekämpfenden »Illegalen«. Das wesentliche Merkmal der neuen Entwicklung ist aber sicherlich, dass die jeweiligen Bevölkerungen je nach Verwertbarkeit und Ar-mut migrationspolitisch klassifiziert werden. So wird die Lockerung der Freizügigkeitsbeschränkung gegenüber PolInnen diskutiert, während gleichzeitig die ostpolnischen Grenzen oder zwischen den Nachfolgestaaten der Bundesrepublik Jugoslawien aufgerüstet werden.

Scheitern und neuer Versuch europäischer Bevölkerungspolitik
Doch das wichtigste Resümee ist, dass die Festung Europa trotz aller Grenzaufrüstungen erodiert ist. Denn trotz Abschottung sind weiterhin MigrantInnen und Flüchtlinge bis nach Westeuropa gelangt.

Seit 1999 – dem Nato-Krieg um das Kosovo und gegen die Bundesrepublik Jugoslawien – hat sich die Bewertung der »Emigrationsgefahr« in die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Europäischen Union und den von ihr abhängigen neuen Staatsverwaltungen in Südosteuropa verwandelt, die hier provisorisch »Protektorate« genannt werden sollen. Entsteht ein Europa der zwei Klassen – Souveränität und Normalität der neuen EU auf der einen Seite, Ausnahmezustand und Protektion auf dem Balkan auf der anderen? Privilegien für die EU-BürgerInnen einerseits und underdogs auf der anderen Seite, denen aufgrund ihrer sozialgeografischen Herkunft und heimlichen Ankunft in der EU die Persönlichkeit, die soziale Eingebundenheit und der juristische Status abgesprochen werden?

Die neue geopolitische Vision der EU wird am deutlichsten im Strategiepapier zu Asyl und Migration erkennbar, das die österreichische EU-Präsidentschaft am 1. Juni 1998 vorgelegt hat und das wenig modifiziert vom Rat später angenommen wurde. Hier wird Osteuropa und die übrige Welt nach migrationspolitischen Kriterien in eine neue Landkarte konzentrischer Kreise unterteilt.2 Es handelt sich dabei um einen integrierten Ansatz, wobei die migrationspolitischen Vorgaben der EU in allen anderen Politikfeldern miteinbezogen werden sollen. So heißt es in Punkt 61, 62 und 63 des verabschiedeten Strategiepapiers:

»Man wird etwa Wirtschaftshilfe mit Visafragen, Grenzerleichterungen mit Rücknahmegarantien, (...) wirtschaftliche Kooperationsbereitschaft mit den wirksamen Maßnahmen zur Reduktion von Push-Faktoren junktimieren müssen. Hier kann man ein Modell konzentrischer Kreise als Basis für eine differenzierte ›Außenstrategie‹ setzen. Die intensivsten Kontrollmaßnahmen setzen derzeit aus naheliegenden Gründen die Schengener Staaten. Ihre Nachbarstaaten (im wesentlichen die Assoziationsstaaten und vielleicht auch der mediterrane Raum) sollten schrittweise in ein ähnliches System eingebunden werden (...). Ein dritter Kreis von Staaten (etwa der GUS-Raum, einige Balkanstaaten, die Türkei und Nordafrika) wird sich dann vor allem auf die Transitkontrolle und Schleppereibekämpfung und ein vierter Kreis (mittlerer Osten, China, Schwarzafrika) primär auf die Beseitigung von Push-Faktoren konzentrieren. Die Erfüllung der sich in der jewei-ligen Rolle ergebenden Pflichten soll im Gesamtsystem positive, die Nichterfüllung negative Konsequenzen für das jeweilige Land haben.« (Hervorhebung im Original)

Andererseits wurde die Bevölkerung im Hinterhof der EU in dieser Konzeption für die Wirtschaft interessant. Je nach Bedarf der neuen Ökonomien und der demografischen Planung sollen arbeitstüchtige Leute als Kontingente nach EU-Europa hinein.

Mit dem expansiven Kurs der EU verändern sich da-rüber hinaus die Begründungen und Politikstile. Die Front der Akteure ist enorm breit geworden; da die Grenzpolitik nun auch in den Herkunftsgebieten gemacht wird, werden zunehmend NGOs aus dem Bereich der Entwicklungszusammenarbeit einbezogen. Auch im Landesinneren ist nicht mehr ausschließlich der Bundesgrenzschutz tätig, der in früheren Jahren die meisten Fluchthilfeprozesse angestrengt hatte. Mittlerweile arbeiten die unterschiedlichsten Behörden im Landesinneren, die von ihrer Kompetenz her nichts oder nur am Rande etwas mit heimlichen Grenzübertritt zu tun haben, mit.

Die neuen »public enemies«
Das frühe Feindbild, das die Schengener Gremien vor zehn Jahren beschworen hatten, war eine Art Heer, ein ausgemalter Ansturm von Millionen.

Die heute von Politikern, Medien und Behörden ausgerufenen »public enemies« sind nicht mehr allein die heimlichen GrenzüberschreiterInnen, sondern insbesonders die »Schlepper und Schleuser«. Die Flüchtlinge und MigrantInnen werden aufgespalten in übermächtige Agenten der sogenannten Organisierten Kriminalität (OK) einerseits und in absolute Opfer andererseits. Die OK sei den staatlichen Kräften immer um einige Züge voraus, daher erhält die Exekutive zur Gefahrenabwehr ständig neue Kompetenzen. Die Geschleppten hingegen, werden in diesem propagandistischen Verständnis von der Polizei geschützt, aus Schmuggel-LKWs regelrecht befreit, allerdings nur um sofort abgeschoben zu werden.

Mit dieser Aufspaltung in übermächtige Agenturen und absolute Opfer wird verdeckt, dass das soziale Universum von Flüchtlingen und FluchthelferInnen vielfältig und widersprüchlich ist. Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass es durchaus »skrupellose Schlepper« gibt. Wohl aber handelt es sich meistens – so Berichte von Flüchtlingen – um ein mosaikartiges Gefüge, mit dem man sich heimlich über die Grenzen bewegen kann. Häufig sind Arbeitslose und Geringverdienende der Grenzregionen die entscheidenden FluchthelferInnen. Sie verdienen daran vergleichsweise wenig. Auch manche Flüchtlinge, die in Transitländern stecken bleiben, verwandeln sich zeitweise in FluchthelferInnen, bis sie wieder finanziell auf eigenen Füßen stehen.

Die Emanzipation der Flüchtlinge und MigrantInnen von ihrer eigenen herrschenden Sozialstruktur, von Frauen aus der patriarchalen Enge, das »sich selbständig machen«, ist eines der Momente von Flucht und Migration. Gerade diese Selbsttätigkeit wird aber durch die Aufspaltung in Kriminalitätsmonster und handlungsunfähige Opfer ausgelöscht.

Die »kriminell organisierte Zuwanderung« (1997 Innenminister Manfred Kanther) kennt keine eigenverantwortlichen Subjekte unter den Flüchtlingen und MigrantInnen mehr: Das Feindbild macht aus diesen Menschen Figuren, die durch ihre organisierte Übermacht oder durch ihre Reduzierung zum absoluten Opfer aus der Gesellschaft gänzlich ausgeschlossen scheinen.

Der NATO-Krieg um den Kosovo wurde hierfür zum Lehrstück. Die KosovarInnen auf der Flucht aus dem Kriegsgebiet, man erinnert sich an die Medien-bilder, wurden als Menschen ohne Stimme dargestellt. Als Objekte der internationalen Hilfsorganisationen war ihr Ort das Flüchtlingslager. Alle, die sich eigen-tätig auf den Weg nach Westeuropa aufmachten, verwandelten sich in potentiell Kriminelle, in Exporteure der Unruhe des Balkans, in Schlepper und Schleuser oder aber deren Opfer.

In der Anklageschrift des genannten Prozesses am Berliner Landgericht ist keine einzige Beschwerde von um ihr Geld betrogenen Flüchtlingen notiert. Statt dessen hatten die Flüchtlinge, wenn sie von der Polizei gefasst wurden, mit institutionellem Rassismus zu rechnen: Wenn ihr Fluchtweg anhand von Passeinträgen oder Fahrkarten nachweisbar war, wurden sie zurückgeschickt. Die Anklageschrift do-kumentiert mehrere dieser inhumanen Kettenrückschiebungen bis ins Kriegsgebiet.

Auch in Deutschland sind es die kosovo-albanischen Flüchtlinge, die, obwohl durch den jugoslawischen Staat bis zum Einmarsch der KFOR verfolgt, in asylrechtlicher Hinsicht am schlechtesten behandelt wurden. An dieser Gruppe wurde bereits vor dem Krieg mit Hilfe des verschärften Asylbewerberleistungsgesetzes der Entzug jeglicher sozialer Unterstützung erprobt: Wenn sie keinen Pass vorlegen konnten wurden ihnen selbst die monatlich 80 D-Mark, ein Bett und die Fresspakete versagt. Die minimale soziale Absicherung wurde den Flüchtenden unter dem Vorwand entzogen, dass dadurch die Schlepper und Schleuser getroffen würden. Die Flüchtlinge wurden angeblich deswegen ausgehungert, um der Organisierten Kriminalität den Geschäftsboden zu entziehen. So haben die Berliner Sozialbehörden die KosovarInnen just vor Beginn des Kriegs in eine angebliche soziale Gefahr verwandelt.

Doch die gezielte Aushungerung sprach sich bis zu den Flüchtlingen im Kosovo he-rum. Die Fahndungslage und die Sozialpo-litik zwangen sie dazu, zwar ohne Pass zu reisen, aber mit einem Pass in Berlin anzukommen. So organisierten sie separat von ihrem Fluchtweg die Verschickung von Pässen. Dies geriet ihnen nun wiederum zur Falle, wie der derzeit laufende Fluchthilfeprozess in Berlin zeigt.

Trotz Kriminalisierung: Menschen sind letztlich nicht zu kontrollieren, ihre Bewegungen auch nicht. Der gesellschaftliche Zusammenhalt vom Kosovo bis nach Berlin ist nicht zu verpolizeilichen, denn trotz aller Grenzkontrollen gelang den meisten Flüchtlingen die mehrfache heimliche Grenzüberschreitung durch die Transitländer bis nach Deutschland. Und ob er in Wert gesetzt werden wird, in einer Kaskade von Löhnen und Migrationskontingenten im Rahmen der neuen Migrationspolitik, wird sich zeigen.

Helmut Dietrich (Forschungsgesellschaft Flucht und Migration, FFM)


] 1 [ Mit Titel VI des Maastrichter Vertrags (EUV) ist die Schengener grenzpolizeiliche Politik voll zum Durchbruch gekommen.
] 2 [ Die Idee der konzentrischen Kreise tauchte in der EU-Politik 1998 nicht zum ersten Mal auf: Christopher Tugendhat, von 1981 bis 1985 britisches Mitglied der Europäischen Kommission, entwickelte 1985 ein solches Modell als eine graduelle Differenzierung von Kerneuropa bis hin zu den Peripherien. Tugendhat, Christopher: How to Get Europe Moving Again, in: International Affairs 1985, 421 – 429, hier: 426 f.