Zur Krisensituation
Die
ideologische Konstruktion »Bin Laden« stellt einen virtuellen Konflikt, ein
globales Krisenszenario dar, in dem im Lichte der neuen Terroranschläge in den
USA vergangene, gegenwärtige und zukünftige Gewaltphänomene verdichtet,
homogenisiert, in ein Zwei-Welten-Schema eingeteilt und simplifiziert werden.
Zwei Welten, die antithetisch erscheinen: die zivile Welt gegen die Barbarei,
die freie Welt gegen die Tyrannei, die christliche gegen die islamische Welt.
Dabei wird die Konstruktion des absolut Bösen, des islamischen Fundamentalismus
bemüht, die längst einen wissenschaftlich wie politisch institutionalisierten
common sense darstellt. Die unsinnige Formel »Bin Laden« kontra »Weltallianz«
vermittelt nichts anderes, als dass der Terror eine Definitionssache der
Gewaltmonopolisten ist: Wer Terrorist ist, das bestimmen wir!
In
den arabischen Ländern deutet dieser virtuelle Konflikt zugleich auf einen
»realen« Konflikt zwischen einem nach Teilhabe an Macht und Herrschaft
strebenden, oppositionellen konservativ-liberalen Block und den herrschenden
Militärdiktaturen hin.
Die
Krise des staatszentrierten
Seit
den 70er Jahren befinden sich die arabischen Länder in einer tiefgreifenden
strukturellen Krise. Sie erleben Umstrukturierungsprozesse, die nicht zuletzt
mit der Krise des Fordismus in den metropolitanen Ländern und den dadurch
bedingten Globalisierungsprozessen zusammenhängen. Ökonomisch äußert sich die
Krise im Scheitern der jeweiligen, hauptsächlich staatszentrierten
Entwicklungsstrategien und in den dadurch bedingten Liberalisierungs- und
Strukturanpassungsprozessen. Ideologisch drückt sich die Krise nicht nur in der
Verschiebung weg vom arabischen Nationalismus hin zum Islam-Diskurs aus,
sondern vor allem im Kampf um die Definition der Krise selbst.
Das
Auftreten von neuen politischen Akteuren in den arabischen Ländern ist
unmittelbar mit der Problematik der Krise verknüpft. Die Kräfteverhältnisse in
den arabischen Ländern befinden sich heute in einer entscheidenden Phase der
Verschiebung, was zu neuen gesellschaftlichen Konfigurationen führt. Den
wichtigsten Teil der hierin verwickelten Akteure stellen die islamitischen
Gruppen dar.1
Aus
der Perspektive der kapitalistischen Zentren geben Letztere ein neues Feindbild
ab, das seit dem Fall der Mauer international als Ersatz für den
Antikommunismus dient. Die islamitischen Gruppen werden zum einen in Verbindung
mit der Immigration muslimischer Arbeitskräfte in den Industrieländern als
kulturelle Bedrohung inszeniert und zum anderen zur Bedrohung von Stabilität
und Sicherheit im ökonomisch und geostrategisch wichtigen Raum Arabien
hochstilisiert. Die antidemokratisch-autoritären Praxen der herrschenden Regime
in diesem Raum erfahren dadurch eine Legitimation ex negativo: nicht die
jeweiligen Bevölkerungen entscheiden selbstbestimmt über die Rechtmäßigkeit und
das politische Überleben dieser Regime, sondern ihre Funktion als nationale und
regionale Gendarmerie beschert diesen Regimes eine politische Rente. Dadurch
werden alle Akteure, gleich welcher Couleur, auf einen Haufen geworfen. Die
Konsequenz liegt auf der Hand: Die gewaltsame Unterdrückung hält weiter an, und
jede friedliche Austragung von Konflikten wird verunmöglicht.
Neue
politische Akteure
Bei
den islamitischen Kräften handelt es sich als zugleich populistischen und
populären Akteuren weder vorrangig um kulturelle noch um religiöse, sondern um
genuin politische Bewegungen. Sie sind nicht nur auf einzelne Issues
orientiert, sondern soziale Bewegungen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse
radikal oder reformistisch verändern wollen. Diese Bewegungen sind Teil und
Ausdruck der Krise der Gesellschaftsformationen im arabischen Raum, ihr
Auftreten ist nicht zuletzt den Strategien des Krisenmanagements der
herrschenden Machtblöcke zu verdanken.
Um
jeden einfachen Kausalnexus auszuschließen, ist festzuhalten, dass es einige
dieser Akteure schon vor der Krise gab, und dass sie bei der Auslösung der
Krise mitwirkten. Erst im Zuge der Krise in den 70er Jahren jedoch traten die
islamitischen Gruppen in größerem Umfang auf der politischen Bühne auf. Ab 1977
durften z. B. in Ägypten qua Gesetz politische Parteien gebildet werden und
sich zur Wahl stellen, wobei das Gesetz zunächst so konzipiert war, dass es
konservative Parteien wie die Muslimbrüder sowie kommunistische und
nasseristische Parteien ausschloss. Die Organisierung der islamitischen Gruppen
als politische Parteien war ein entscheidender Moment in der Umgruppierung der
Klassenverhältnisse, die im Folgenden noch dargestellt wird.
Die
Sehnsucht nach dem Ursprung, nach den sogenannten Fundamenten des wahren Islams
ist diskursanalytisch als ein performativer Akt zu verstehen. Der Islam als
Diskurs ist weit mehr als eine Religion im engeren Sinne. Bei dem Islam-Diskurs
haben wir es mit einer Formation zu tun, in der sich diverse ideologische
Elemente artikulieren: nationalistische, panarabistische, sozialistische,
sozialdemokratische, feudale etc. Im Islam-Diskurs sind aber auch Elemente der
traditionellen religiösen Institutionen als Teil der »ideologischen
Staatsapparate« im Sinne Althussers sowie lokale und regionale kulturelle
Praxen wiederzufinden. In den 50er Jahren dominierten im Islam-Diskurs
sozialistische und sozialdemokratische Elemente. Dies zeigt sich in den
Schriften der wichtigsten Ideologen der Muslimbrüder in Ägypten, Syrien etc. In
jener Phase des Fordismus überwogen wohlfahrtsstaatliche und
entwicklungspolitische Fragen. Es ging um »soziale Gerechtigkeit im Islam« oder
um den »Sozialismus des Islams«. Seit den 70er Jahren fungierte dagegen das
legalistische Element als Gravitationspunkt des Islam-Diskurses. Auf dieses
Element, das auf die Bildung eines »Rechtsstaates« abzielt, sind auch andere
Momente hin orientiert: Privateigentum, individuelle Freiheiten, Sicherheit,
rechtliche Gleichheit etc. Die einzige allen Gruppen, Parteien und Bewegungen
von rechts bis linksliberal gemeinsame programmatische Forderung ist die Einführung
der Scharia, die eben nicht nur in dem engen Sinne der Durchsetzung einer alten
islamischen Rechtssprechung zu verstehen ist, sondern auch im allgemeineren
Sinne der Verwirklichung eines Rechtsstaates.2 Das legalistische Element hat
insofern zur Popularität des Islam-Diskurses beigetragen, als die
Entkolonialisierung und nationale Staatsbildung im arabischen Raum zwar ein
bürgerliches Gesetzbuch formal mit sich brachte, de facto aber die kolonialen
Praktiken der Entrechtung und Entsubjektivierung der Bauern und der
proletarisierten und marginalisierten Klassen und Schichten fortgesetzt
wurden.3 Letzten Endes wird im Islam-Diskurs um die Einführung bürgerlicher
Rechte gekämpft. Dieser »Rechtsstaat« braucht aber sein eigenes Subjekt. Als
ein wichtiges Element des Islam-Diskurses, als ideologisches Verhältnis, kann
die Konstitution eines Subjektes (im Sinne Althussers) ausgemacht werden, eines
»islamischen« Subjektes: der gesellschaftspolitisch handelnde »Gläubige«. Die
in der Retrospektive diskursiv konstruierte vorislamische Zeit, die sogenannte
Jahilliya (»Barbarei, Unwissenheit«) stellt nichts anders dar als die
gegenwärtige, krisenhafte Gesellschaftssituation. Die historische Mission des
islamischen Subjektes bestünde nun darin, diese Situation revolutionär oder
reformistisch umzuwälzen.
Die Muslimbrüder
Die
Organisation der Muslimbrüder aus Ägypten ist der älteste, politisch
prominenteste und geopolitisch grenzübergreifendste islamitische Akteur im
arabischen Raum. Anhand ihrer Entwicklung seit den 70er Jahren lassen sich die
politischen Verschiebungen und die Veränderungen der Konfliktformen, Strategien
und der zukünftigen Perspektiven verdeutlichen.
Warum
gewannen solche Bewegungen in einer erstaunlich kurzen Zeit dermaßen an
gesellschaftlicher Popularität? Vor allem die Migration spielt hier eine
entscheidende Rolle. Migration ist spätestens seit den 70er Jahren ein
relevantes Phänomen im arabischen Raum. Sie ist durch die ökonomischen
Umstrukturierungs- und Privatisierungsprozesse und insbesondere durch die
Vertreibung von Bauern im Zuge des Comeback der Klasse der Großgrundbesitzer
bedingt. Letzteres führte zu gravierenden sozialen und ökonomischen Problemen.
Am schwersten war Ägypten davon betroffen. Millionen waren dazu gezwungen, sich
insbesondere in den Ölmonarchien als Arbeitskräfte zu verdingen. Politisch
wurde diese Situation am raffiniertesten von den Muslimbrüdern ausgenutzt, die
ihre Anhänger nunmehr in alle Zielländer der Migration schickten und die bei
der Po-
litisierung
der jeweiligen Bevölkerungen, vor allem ihrer Bildungseliten, eine zentrale
Rolle spielten. Dabei wurde insbesondere die Golfregion ins Visier genommen,
was dadurch erleichtert wurde, dass die Muslimbrüder bei den konservativen
Monarchien einen höheren Status genossen. Die Wirkung dieser Politisierung
zeigt sich bei der Formierung von islamitischen Gruppen und Parteien in dieser
Region, die mittlerweile eine entscheidende Rolle neben den Liberalen in der
Opposition spielen.
Zivilgesellschaft
und Demokratisierung
Die
gescheiterten Versuche der politischen Veränderung gegen und durch den Staat in
den 70er Jahren führten in den 80er Jahren, verstärkt Anfang der 90er, zu
Auseinandersetzungen hauptsächlich im Vorfeld des Staates. Wir können drei Phasen
in dieser Entwicklung unterscheiden:
In
den 70er Jahren ging es vor allem um Umstrukturierungsprozesse in den
Machtverhältnissen, bei denen es sich einerseits um die Ausgrenzung von alten
politischen Akteuren (meist linken Kräften) aus den Staatsapparaten, ihre
Verdrängung von der politischen Bühne handelt, während an ihrer Stelle neue
Kräfte einziehen. Der bürokratische und militärische Apparat wird
umstrukturiert, neue Parteien bilden sich, alte werden reformiert. Längst
verdrängte Kräfte erleben ihr Comeback, insbesondere die Großgrundbesitzer nach
den Landreformen in der 70er und 80er Jahren. Vertreter der sich neu
formierenden Finanz-, Handels- und Industriegruppen, Gruppen des tertiären und
informellen Sektors usw. gewinnen in den Staatsapparaten an Einfluss.
Andererseits treten auf der gesellschaftlichen Ebene verstärkt neue politische
Akteure auf: die islamitische Bewegung, die Frauenbewegung,
Menschenrechtsgruppen, die Studentenbewegung und Gewerkschaften. Die
etablierten politischen Regime spielen die diversen politischen Akteure in
ihren Strategien des Krisenmanagements und denen der Konsolidierung ihrer
Machtposition gegeneinander aus und entwickeln eine der Machtkonsolidierung im
Staat komplementäre Fraktionierungsstrategie.
Sieht
man von einigen Splittergruppen wie z. B. dem Jihad in Ägypten, die weiterhin
gewaltförmig agieren, ab, so findet in den 80er Jahren eine Verschiebung der
konfrontativen Auseinandersetzung zwischen dem Staat und den gesellschaftlichen
Akteuren hin zu einer gesellschaftlichen Debatte um Zivilgesellschaft und
Demokratie statt, welche sich auch im reformistischen, koalitions- und
kompromissfähigen Charakter der politischen Akteure und im Boom von diversen
privaten Vereinigungen und Organisationen zeigt. Dabei ist der Versuch der
Vereinnahmung der Begriffe seitens der diversen Akteure zu registrieren. Die
islamitischen Gruppen versuchen z. B. den historisch-gesellschaftlichen Kontext
und den ideengeschichtlichen Hintergrund von Begriffen zu verschieben:
»Gemeinschaft« tritt an die Stelle von Zivilgesellschaft; der »Gläubige« an die
Stelle des Bürgers, universale Menschenrechtskonzeptionen werden durch
Menschenrechte im Islam ersetzt, der »Kommunalismus« wird als ein Widersprüche
und Konflikte ausmerzender Romantizismus propagiert. Anfang der 90er Jahre
lassen sich die Entstehung zivilgesellschaftlicher Einrichtungen und
Teilerfolge bei der Durchsetzung demokratischer Forderungen beobachten.
Indessen
zeichnet sich Ende der 90er Jahre ab, dass die Reformversuche gescheitert sind
und das Machtmonopol der herrschenden Regime weiter besteht. Dies hat nicht
zuletzt mit der Durchsetzung von Strukturanpassungsmaßnahmen im Laufe der 90er
Jahre zu tun. Seit Mitte der 90er Jahre sind erneut verstärkte Repression,
willkürliche Verfolgungen und Inhaftierungen sowie die Bekämpfung von
zivilgesellschaftlichen Institutionen und politischen Parteien zu registrieren.
Das
»Islam-Kapital«
Was
ist eine islamische Ökonomie? Gibt es so was wie eine theologische Ökonomie?
Oder ist diese Frage falsch gestellt, weil dieser Begriff einen Widerspruch in
sich darstellt bzw. zwei distinkte Praxen diskur-
siv
vermengt? Ich werde zunächst die ökonomische Praxis des Islam-Kapitals
komprimiert darstellen, um dann die ökonomisch falsch gestellte, jedoch ideologisch
und politisch brisante Frage nach einer islamischen Ökonomie zu beantworten, d.
h. sie ökonomisch zurecht zu rücken und den gesellschaftspolitischen Kern
dieser Konstruktion zu präzisieren.
Mit
dem Begriff des Islam-Kapitals bezeichne ich ökonomisch bestimmte
nichtmonopolistische Kapitalfraktionen (in Industrie, Handel und Finanzwesen)
und den politisch-ideologischen Kitt dieser Fraktionen. Dadurch wird eine
Grenze innerhalb der herrschenden Klassen und Schichten gezogen, anhand derer
Widersprüche und Konflikte in der herrschenden Klasse sichtbar gemacht werden
können.
Der
entscheidende Punkt des Islam-Kapitals ist in diesem Kontext sein Verhältnis
zum Zins. Dieser wird als Wucher definiert und dementsprechend verboten. Die
Strategie der zinslosen Investitionen war einerseits durch die globale Krise
der Regulation des Geldes und die Privatisierung der Kapitalmärkte und
andererseits
durch die Ölkrise bedingt. Die Überakkumulation an Geldkapital nahm mit den
gigantischen Öleinnahmen im arabischen Raum die Form des »Petrodollars« an. Mit
den Petrodollars fand spätestens seit 1974 eine ökonomische, geostrategische
und politische Achsenverschiebung statt: von einer ehemals dominanten
panarabistischen und sowjetisch orientierten Konstellation hin zu einer
konserva-
tiv-neoliberalen
unter der Schirmherrschaft der USA und der Regionalmächte Ägypten und
Saudi-Arabien. Die neoliberale Strategie ziel-
te
in Ägypten darauf ab, die Petrodollars durch die Liberalisierung in das Land zu
locken. Gleichzeitig verfolgte Saudi-Arabien ein konservatives
Hegemonieprojekt, das auf die Zurückdrängung nationalistischer,
panarabistischer und sozialistischer Kräfte abzielte, was eine
Interessenidentität mit dem ägyptischen Sadat-Regime bedeutete. Aus dieser Zeit
datiert das finanzielle Netzwerk des Islam-Kapitals.
Doch
welche ökonomische Praxis bildete den Hintergrund für diese Entwicklung?
Einerseits gab es lokale, kollektive Sparpraktiken unter den Lohnabhängigen.
Die Verteilung des kollektiv gesparten Geldes erfolgte nach dem
Rotationsprinzip. Andererseits spielt hier die Gründung besonderer lokaler
Sparkassen im Jahre 1963 in Ägypten unter Nasser eine Rolle. Deren Funktion war
es, lokale Kleinprojekte von Bauern und Kleinbetrieben mit zinslosen Krediten
zu versorgen und gleichzeitig Sozialfürsorge durch einen speziellen Zakatfund
(arabisch: »auf individueller, freiwilliger Basis bezahlte Almosensteuer«) zu
betreiben. Diese, eher nichtkapitalistischen Produktionsweisen entsprechenden
ökonomischen Praxen stellen den Hintergrund für das Islam-Kapital dar.
In
den 70er Jahren, verstärkt in den 80ern, entwickelte sich ein Netzwerk von
Banken, Versicherungen, Immobilienfirmen, Sparkassen etc. in den Golfstaaten
und in Ägypten, später auch mit Nieder-
lassungen
im Ausland (London, Dänemark, Schweiz etc.), wobei sich der Schwerpunkt
tendenziell vom Industriekapital hin zum Handels- und Geldkapital verschob. Das
islamische an diesen Geldinstitutionen ist vor allem ideologischer Natur.
Ökonomisch kann das Zinsverbot durch institutionelle, diskursive und
finanztechnische Praktiken ad absurdum geführt werden (so z. B. durch die
Delegation der Spekulation
an
stellvertretende, ausländische Geldinstitutionen, durch die Umdefinierung des
Zinses in Preis, Dividende oder durch Gewinnbeteiligungen etc). Das Etikett
Islam kann qua institutioneller »Anrufung« (Althusser) als absatzfördernde
Marke, zur Kundenge-
winnung
und zur Mobilisierung von Geldkapital, das ansonsten schwer vom Staat und
ausländischen Geldinstitutionen akkumuliert werden kann, dienen. Denn ein
Problem liegt darin, dass viele Menschen entweder dem Staat und dem
Auslandskapital aufgrund vergangener Erfahrungen nicht trauen oder moralische
Hemmnisse dagegen spüren. Zum Zweiten investieren einige aus sozialen und
ideologischen Gründen, weil sie erwarten, dass diese Institutionen islamische
Einrichtungen unterstützen. Der Islam-Code fungiert also als ein ideologisches
Moment der Regulation des Geldes und der Konkurrenz. Er wird so zu einem
»Standortvorteil« des nichtmonopolistischen Kapitals in der Konkurrenz gegen
die mit dem Staat verbundene Kompradorenbourgeoisie und das ausländische
Monopolkapital.
Überwiegt
noch bis Anfang der 70er Jahre in den fordistischen und sowjetischen
Produktionsweisen das kollektiv-korporative Moment und die monopolistische
Regulation, so werden Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre im jetzt dominanten
Neoliberalismus individuelles Privateigentum, Marktwirtschaft und eine
konkurrenzgesteuerte Regulation propagiert. Diese Verschiebung deutet auf einen
Konflikt innerhalb der herrschenden Klassen hin: im Islam-Kapital drückt sich
das nichtmonopolistische Moment in relativer Abgrenzung zum Monopolkapital aus,
das in diesem Raum mit den Staatsunternehmen und dem ausländischen Kapital der
multinationalen Konzerne zusammenfällt. Dementsprechend wird vom Islam-Kapital
ein liberales Konzept des Staates und des laissez-faire gefördert, dessen
Funktion darin liegt, Sicherheit und freie Konkurrenz zu gewährleisten.
Ausbeutung wird indes mit Monopolkapital und Staatsökonomie gleichgesetzt.
Diese Vorstellung ist aus der Sicht des Islam-Kapitals insofern konsequent, als
durch die über den Staat vermittelte Monopolstellung gewisse Großunternehmungen
von den Begünstigungen profitieren, die sich aus exklusiven Rechten zur Ausbeutung
von strategischen Ressourcen, Lizenzen, Kreditvergaben etc. ergeben. Durch die
Vermittlung von Finanz- und Handelscliquen sowie bürokratischen Eliten
entstehen auf der Basis von Joint-ventures zwischen dem internationalisierten
Kapital und dem Staat exportorientierte Enklaven und freie Handelszonen.
Dagegen werden mit der Liberalisierung der Ökonomie durch den Wegfall von
Subventionen und Schutzzöllen kleine und mittlere Betriebe, die lokal und
national agieren und die nicht mit dem Monopolkapital vernetzt sind,
vernichtet, da sie der internationalen Konkurrenz schutzlos ausgeliefert sind.
Daher propagiert das nichtmo-
nopolistische
Kapital die ethische und soziale Verantwortung in Konkurrenz zum Staat, dem
ausländischen Monopolkapital und den Finanz- und Handelscliquen. Unter diesen
Umständen unterstützt es strategisch die kollektiven und genossenschaftlichen
Produktionsformen von kleinen und mittleren Betrieben sowie Bauernkollektiven,
wobei hierin ein politisches und ideologisches Moment steckt, eine grenz-
übergreifende
Entwicklungsstrategie unter der Dominanz des konservativ-liberalen Blocks, der
tendenziell auf eine monarchistische Regimeform zusteuert.
Dieses
Kapital versucht auch, sich seinen eigenen »inneren« Markt zu schaffen, indem
es zur Generierung einer islamitischen Konsumnorm beiträgt. Seit Ende der 70er
Jahre lässt sich die Tendenz der Durchsetzung von Lebensstilen,
Konsumgewohnheiten und kulturindustriell vermittelten Mustern der
Freizeitgestaltung islamitischer Prägung beobachten. In dieser Konsumformation
artikulieren sich diverse Elemente unter der Dominanz einer islamitischen
Lebensweise, die durch »feine Klassen- und Schichtenunterschiede«
hierarchisiert ist und deren Produktions- und Zirkulationsnetz von der
Textilindustrie über Modehäuser, Werbeagenturen, Design- und Verkaufzentren bis
hin zur kulturellen Raumgestaltung reicht. Die angestrebte,
klassenübergreifende islamitische »Uniformierung« ist bloß optisch,
reproduzieren sich doch de facto die Unterschiede und die hierin immanente
Konkurrenz in einer spezifisch konservativen Form. So werden die
Konsumgewohnheiten und Waren für die bürgerlichen und aristokratischen Klassen
von renommierten Industrien und Modehäusern in den Zentren produziert, die für
das Kleinbürgertum in der Semiperipherie und die für die Bauern und
LohnarbeiterInnen hausindustriell und lokal.
Neoliberale
Öffnung
Von
der Strategie der neoliberalen Infitah (arabisch: »Öffnung«) ab dem Jahr 1974
profitierten nicht zuletzt die Großgrundbesitzer durch die Reprivatisierung von
Grund und Boden und finanzielle Entschädigungen für die Landreformen der 60er
Jahre. Die Großgrundbesitzer verwandelten sich durch Kapitalkonzentration,
Mechanisierung der Landarbeit und Exportbegünstigungen von Agrargütern in
Agrokapitalisten. Gleichzeitig wurde mit der Transformation der Landwirtschaft
eine massenhafte Vertreibung der Bauern in die Städte und in andere Länder
(meist in die Golfstaaten) in Gang gesetzt.
Verlierer
der neoliberalen Infitah waren neben den marginalisierten Bauern die
Lohnabhängigen (wegen Inflation, Reallohnstagnation, Arbeitslosigkeit), kleine
Warenproduzenten, lokale Industrien, einfache Angestellte (nicht jedoch die
bürokratischen Eliten). Die subalternen Klassen formierten »spontane«
Widerstände gegen den Staat, die militärisch blutig niedergeschlagen wurden.
Gemäß
der Ethik des Islam-Kapitals werden zivilgesellschaftliche Projekte (der Aufbau
von privaten Moscheen als Sprachrohr, von sozialen Einrichtungen,
Bildungsstätten, Berufsverbänden, Menschenrechtsorganisationen etc.), die auf
eine klassenübergreifende bzw. klassennegierende Netzwerkbildung abzielen und
die Funktion von »Schutzgräben« (Gramsci) erfüllen, und politische
Wahlkampagnen finanziert, was die wechselnden Allianzen zwischen konservativen,
liberalen und linksliberalen Parteien und Bewegungen erst möglich macht bzw.
forciert.
Diese,
auf demokratischer und reformistischer Basis verfolgte Strategie der
schrittweisen Eroberung des erweiterten Staates kann nach Gramsci als
Stellungskrieg bezeichnet werden, der sich fundamental von dem durch radikale
Gruppen wie al-Jihad oder Takfir wa al-Hijra in Ägypten an der Peripherie
dieses Blocks verfolgten konfrontativen Kurs unterscheidet. Letzterer, der
gewalttätige und direkte Angriffe auf Staatsapparate, Entscheidungsträger und
prominente Intellektuelle umfasst, kann als Bewegungskrieg charakterisiert
werden. Seine Hauptakteure sind hauptsächlich radikal-konservative Studenten
und eine traditionelle Intelligenzia, deren Wissen entwertet wurde. Diese
Akteure haben die Hoffnung auf eine friedliche und graduelle Verschiebung der
politischen Verhältnisse längst verloren.
Radikale
islamitische Gruppen:
Bis
Mitte der 70er spielten linke Kräfte noch eine wichtige Rolle, vor allem in der
Studentenbewegung. Die linken Gruppen waren den von den etablierten Regimes
mittlerweile geduldeten islamitischen Studentenvereinen überlegen, jedoch
verschob sich das Dominanzverhältnis vor allem seit 1977 zugunsten der letzteren:
Grund dafür war vor allem der pragmatische, alltagsorientierte Kurs der
Konservativen, der im Gegensatz zu dem eher abstrakt-allgemeinen,
staatsfixierten und international orientierten Diskurs der linken Studenten
stand. Dies wird am Beispiel der Brotrevolte, des vielleicht größten Aufstands
in Ägypten seit Anfang des 20. Jahrhunderts deutlich. Obwohl der Aufstand
spontan war und sich vor allem gegen die Entsubventionierung von
Nahrungsmitteln richtete, gelang es den islamitischen Kräften, ihre Popularität
zu steigern. Wichtig ist, dass die islamitischen Studenten sich selbst
radikalisierten, indem sie die Linken verdrängten: Der Radikalismus war ein
studentisches Phänomen und zunächst gegen einen inflationären Ausbau der
Sicherheitsapparate gerichtet. Gleichzeitig reagiert er auf die Deregulierung
und die Entwertung der staatlichen Intelligenzia und des intellektuellen
Wissens des traditionellen Kleinbürgertums sowie auf die Aufwertung des
neoliberalen Experten- und Managementwissens bürokratischer Eliten.
Die
radikalen Kräfte haben auch ihre traditionellen Intellektuellen, die
sogenannten Rechtsgelehrten, die ihre Aktionen politisch-moralisch
eigenmächtig, d. h. ihrem Selbstverständnis als autonome, rechtsprechende
Instanz folgend legitimieren. Dieses Selbstverständnis deutet im Zuge der
Unterhöhlung des Staates auf eine nomadisch-bäuerliche Praxis hin, d. h. auf
eine privatisierte Form der Gewalt an der Peripherie des Staates. Und in der
Tat lässt sich an den Peripherien der arabischen Gesellschaften (auf dem Lande,
aber auch in den Städten) eine gewisse Autonomie in der sozialen Organisation
feststellen, die von der Bewaffnung und Selbstverteidigung über die Schaffung
einer eigenen Rechtsordnung bis hin zur Organisation von Zufluchtsorten für
illegale bzw. illegalisierte Kräfte reicht.
In
diesem Kontext gewinnt das Phänomen der Migration nicht nur ökonomische und
politische, sondern auch ideologische Schattierungen. Einerseits bringt die
Migration demographische Verschiebungen mit sich (vom Land zur Stadt und
zwischen den Nationalstaaten). Andererseits bedeutet Migration (arabisch Hijra)
für die Radikalen intellektuell wie räumlich Rückzug zwecks Potenzierung der
inneren Kräfte, um Ziele (hier Gesellschaft und Staat) in Angriff zu nehmen,
was das nomadische Moment zum Ausdruck bringt.
Gegenwärtige
Über
die nationalen Gesellschaftsformationen hinaus finden konservativ-liberale
Blockbildungsprozesse statt.
Es
gibt jedoch Widersprüche innerhalb dieser und innerhalb der organischen
Intellektuellen. Die aktuelle gesellschaftliche und politische Verschiebung
lässt sich am deutlichsten anhand eines Segments dieser Intellektuellen
aufzeigen. Die traditionelle Intelligenzia entsprach den fordistischen
Idealtypen (Ingenieure, Techniker, Technokraten etc.), war staatsfixiert und
nationalistisch gesinnt. Selbst bei ihrem radikalen Teil drückte sich die
Kriegführung gegen den Staat in konventionellen Mitteln und Techniken aus. Seit
Mitte der 90er Jahre zeichnet sich dagegen die Bildung einer neuen Intelligenzia
ab, die ich analog zur inneren Bourgeoisie als innere Intelligenzia bezeichnen
möchte. Diese kann weder in dem schlichten soziologischen Sinne der technischen
Kräfte der Staatsapparate verstanden werden, noch allein als ein Segment der
organischen Intellektuellen des konservativ-liberalen Blocks in der
Zivilgesellschaft. Sie zeichnet sich durch ihre Autonomie, ihr hoch
technisiertes Wissen und ihren Internationalismus aus. In ihrer radikalen
Variante ist sie durch die Verschiebung des Konfliktterrains und »liberale«
Strategien der Kriegsführung
gekennzeichnet,
d. h. durch die Rekrutierung von Freiwilligen, von Söldnern oder
stellvertretenden Kämpfern und durch die private Finanzierung der Terror- und
Gewaltakte. Die Kriegsführung des radikalen Teils der »inneren Intelligenzia«
steht im Widerspruch zu dem dominant-reformistischen Kurs des oppositionellen
Blocks.
Dieser
strategische Widerspruch muss in Bezug auf die regionale Unordnung, die
Widersprüche innerhalb der inneren Bourgeoisie und die Widersprüche zwischen
dieser und den herrschenden Regimes dekodiert werden: Weder erwiesen sich die
herrschenden Regime als reformfähig bzw. -willig, noch gelang es dem
oppositionellen Block, eine politische Verschiebung herbeizuführen, noch waren
die USA, an deren militärische und politische Präsenz ursprünglich viele
(unbegründete) Hoffnungen des konservativ-liberalen Blocks geknüpft waren,
bereit, den bestehenden Status quo zu verändern.
Was
al-Qaida und Bin Laden angeht, so ist deren Geschichte als eine amerikanisch-saudisch-pakistanische
Co-Produktion der 80er und 90er Jahre bekannt. Politisch ist jedoch von
Bedeutung, dass al-Qaida in radikaler Form zum Ausdruck bringt, was auch der
konservativ-liberale Block politisch anstrebt: Rückzug des amerikanischen Militärs
aus der Region, politische Teilhabe in den jeweiligen Staaten und, unter seiner
Führung, eine grenzübergreifende Bildung eines einheitlichen arabischen Raumes,
die gegen die Fraktionierung dieses Raumes in einen von der EU dominierten
nordafrikanischen Raum sowie einen durch die Ölförderung bestimmten
»Energieraum« (die Golfregion) und einen Nahostraum im engeren Sinne (Ägypten,
Jordanien, Palästina, Israel und Syrien) unter der Kontrolle der USA gerichtet
ist. Diese an den Panarabismus der 50er und 60er Jahre erinnernde Strategie ist
populär, auch bei den Linken.
Aus
der Sicht der USA kommt diese Strategie nicht nur dem politischen Zustand vor
dem Golfkrieg im Jahre 1990 gefährlich nahe, sie erscheint noch weit
gefährlicher zu sein: Es droht nicht nur der Verlust der verbündeten Monarchien
am Persischen Golf, sondern es droht auch noch der neu zu besetzende
Energieraum im mittleren Asien verloren zu gehen. Relevant ist in diesem
Zusammenhang vor allem, dass Bin Laden und sein Netzwerk einen Quasi-Staat in
Afghanistan darstellen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es dann zweitrangig, ob
Bin Laden und al-Qaida tatsächlich hinter dem Terrorakt vom 11. September
stehen, ob Beweise dafür vorliegen oder nicht. Eins ist allerdings sicher: die
USA wie auch Großbritannien haben ein starkes Interesse daran, den nahöstlichen
und den zentralasiatischen Raum entsprechend ihren Erfordernissen
umzustrukturieren. Für dieses riskante Projekt ist das globale
Bedrohungsszenario »Bin Laden« außerordentlich nützlich.
Indessen
bestehen die regionalen Konflikte und Instabilitäten weiter. Die Strategie der
Terrorbekämpfung der USA bedeutet indes noch mehr militärische Präsenz und
Unterstützung, ja eine noch nie da gewesene Legitimierung der herrschenden
Regime. Dies kann nur zur Verschärfung der Situation führen.
Sabah
Alnasseri
1 — Wegen des
propagandistisch-denunziatorischen Charakters der Schlagwörter »islamistisch«
oder »fundamentalistisch« ziehe ich den Ausdruck »islamitisch« vor. Er ist eine
Hilfskonstruktion, die eine möglichst vorurteilsfreie Analyse ermöglichen soll.
2 — Die Artikulationsform Scharia im
Islam-Diskurs muss von autoritär-patriarchalischen Formen der Scharia-Praxis
unterschieden werden. Sie stellt weniger eine programmatische Forderung mit
konkreten Inhalten dar, vielmehr ist sie ein diskursives Terrain mit wider-
sprüchlichen
Elementen, die von der Vorstellung bürgerlicher, individueller Freiheitsrechte,
über rechtstaatliche Forderungen (vor allem im Bezug auf Gewaltenanteilung) bis
hin zu Vorstellungen von
Gerechtigkeit
und formaler Gleichheit vor dem Gesetz reichen. Die Träger dieses Diskurses
sind keine Rechtsgelehrten, sondern meist städtische Intellektuelle, die nicht
nur die Rechtsgelehrten (die traditionellen Intellektuellen), sondern auch die
Institutionalisierungsform der Scharia kritisieren.
3 — Die Institutionalisierung der Scharia als
Teil des Zivilrechts in den arabischen (und islamischen) Ländern ist dem
Kolonialismus geschuldet, der – neben der Einführung des bürgerlichen Rechts
für die aristokratischen und embryonal entstandenen bürgerlichen Schichten und
vor allem für die europäischen Kolonialisten – die islamische Rechtssprechung
als eine Herrschaftstechnik verstaatlichte. Seit den 70er Jahren wird nun diese
alte Polarisierung durch die islamitischen Intellektuellen in neuer Form
artikuliert.
Eine
längere Version dieses Textes wurde in Prokla 125, Dez. 2001,
Seite
557 – 577, veröffentlicht.