Schuld sind immer die Amerikaner

 

Antiamerikanismus und Antiemanzipation

 

 

A Malicious World

 

Als am 11. September zwei Passagierflugzeuge von Selbstmordattentätern in das New Yorker World Trade Center und ein weiteres in das US-Verteidigungsministerium gelenkt wurden, kam es in den unterschiedlichen Weltgegenden erwartungsgemäß zu höchst unterschiedlichen Reaktionen: Die Stimmung in Amerika schwankte zwischen Trauer, Wut, patriotischen Bekenntnissen und dem Willen nach Vergeltung, in Lateinamerika überwog eine mal, mehr mal weniger offen geäußerte Schadenfreude darüber, dass der ungeliebte große Bruder aus dem Norden nun auch einmal etwas abbekommen hat, und in den palästinensischen Autonomiegebieten schließlich tanzten viele Menschen vor Freude ausgelassen auf den Straßen. Der große und mächtige Verbündete des verhassten Israel zeigte sich verwundbar und damit wuchs die Hoffnung, auch Israel bald verwunden und schließlich besiegen zu können.

In Europa ist die Stimmungslage vordergründig weniger eindeutig. Die ersten Reaktionen – besonders die medialen und politikoffiziellen – schienen denen in den Vereinigten Staaten sehr ähnlich: Pathetisch vorgetragene Abscheu über die 3 000 Toten in NYC und eine regierungsamtlich verkündete bedingungslose Solidarität mit den erwarteten Vergeltungsaktionen der amerikanischen Streitkräfte.

Insbesondere Deutschland schien sich – nachdem das Verhältnis zu Amerika in den letzten Jahren merklich abgekühlt war – wieder als wichtigster und treuster Verbündeter auf dem europäischen Festland zu empfehlen. Gleichwohl zeigte sich bald, dass auch hierzulande die Meinung, die USA seien irgendwie auch selbst schuld an den Anschlägen, von nicht Wenigen geteilt wird. Was zunächst nur hinter vorgehaltener Hand geäußert wurde, drückte sich bald auch im medialen Diskurs aus. Interessiert und wohlwollend wurden etwa die Thesen der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy zum 11. September quer durch alle politischen Spektren, von der rechtsextremen Jungen Freiheit, über FAZ und Uli Wickerts Tagesthemen bis hin zu diversen linken Zeitschriften aufgenommen. Von Korea über Vietnam, Chile, »Palästina«, Irak und Jugoslawien werden die Verbrechen der USA aufgezählt, um in der Feststellung zu münden, dass Amerika eigentlich verdammt Glück gehabt habe, erst zum zweiten Mal in seiner Geschichte für seine »Untaten« zur Verantwortung gezogen worden zu sein. Das erste Mal war, nach Roy, übrigens der japanische Angriff auf Pearl Harbour, so dass hier perfiderweise selbst der Vernichtungskrieg der Achsenmächte als eine Reaktion auf vorangegangene Aggressionen der USA erscheint.

Zwar ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die amerikanische Geschichte, eine Geschichte von Unterdrückung, Krieg und Ausbeutung ist. Dies gilt aber für die Geschichte des Kapitalismus insgesamt und somit auch für die Geschichte anderer kapitalistischer Nationen. Mensch denke nur an die blutige Unterwerfung Lateinamerikas durch Spanien, das British Empire, den Terrorkrieg des faschistischen Japan, den italienischen Faschismus und nicht zuletzt an die historisch singulären Verbrechen der Deutschen.

Erlaubt sei an dieser Stelle deshalb die Frage, ob denn in diesem Land mit einer ähnlich abgeklärten Ursachenforschung zu rechnen gewesen wäre, hätten die Attentäter ihr Augenmerk auf Deutschland gerichtet und statt Pentagon und WTC beispielsweise den Frankfurter Messeturm, den Berliner »Reichstag« und Schloss Neuschwanstein in Schutt und Asche gelegt? Wohl kaum. Obwohl dies, ginge es denn wirklich darum, historische Schuld zu vergelten, doch die evidentesten targets sein müssten.

Zu vermuten ist da schon eher, dass es weniger die unschönen Begleitumstände der Außenpolitik der kapitalistischen Weltmacht number one sind, derent-

halben kritische deutsche BürgerInnen nun plötzlich Verständnis für die Unterdrückten dieser Welt zu heucheln beginnen, als vielmehr der Umstand, dass es sich hier um genuin  amerikanische Untaten handelt.

 

 

Angriff auf die deutsche Kultur: Big Mac oder Bratwurst

 

Wenngleich Amerika nach dem verlorenen Krieg für die Deutschen einen gewissen Vorbildcharakter bekam, sich die deutsche Gesellschaft in vielen Bereichen von Politik über die Wirtschaft bis hinein in das kulturelle Feld weitgehend amerikanisiert hatte, haben die Deutschen Amerika den Sieg über den Faschismus doch nie ganz verziehen. Die Titulierung der in Deutschland stationierten US-Soldaten als »Besatzer« und die Verwendung des bis in die 80er Jahre beliebten Slogans »ami go home!«, der seine semantische Nähe zum »Ausländer raus!« des deutschen Alltagsrassismus eigentlich kaum verbergen kann, demonstrierten schon vor Jahren eine prinzipielle Anschlussfähigkeit vorgeblich linker Amerika-Kritik an das antiamerikanische Ressentiment der deutschen NormalbürgerInnen: Tatsächlich empfanden die meisten Deutschen die siegreichen amerikanischen und sowjetischen Truppen eher als Besatzer denn als Befreier. Dass aber ausgerechnet eine Linke, der bewusst hätte sein müssen, dass die Deutschen den Nationalsozialismus niemals selbst hätten besiegen können, da sie selbst in ihrer Mehrheit Nazis waren, ausgerechnet hier den historischen Grund für die Anwesenheit »fremder« Truppen in Deutschland ausblendete, ist mit Ignoranz allein wohl kaum hinreichend zu erklären.

Das antiamerikanische Ressentiment äußert(e) sich zwar selten in einer offenen politischen Kampfansage an Amerika – das bleibt zumeist der extremen Rechten überlassen. Bevorzugtes Terrain des deutschen Antiamerikanismus war und ist das kulturelle Feld: Seien es die Primitivitäten der Ami-Musik, die Verunstaltungen der wunderschönen deutschen Sprache durch hässliche Anglizismen, die Zumutungen von Hamburger und Coca Cola oder die Schundproduktionen aus Hollywood: Es entfaltet sich hier ein facettenreiches Ensemble an Vorurteilen und nationaler Borniertheit zur Bebilderung einer dem deutschen Dichter- und Denkervolk schon sprichwörtlich gewordenen Kulturlosigkeit der AmerikanerInnen. Auch dies fand ohne größere Widerstände Eingang in den linken Mainstreamdiskurs: McDonald’s, Coca Cola und Hollywood sind, wie so manche Diskussion um »Globalisierung« zeigt, bis heute auch für viele sich links verstehende Menschen im Land von Ballermann und Jägerschnitzel Synonyme eines bösartigen amerikanischen Kulturimperialismus geblieben.

Politisch instrumentalisierbar ist der Antiamerikanismus gegenwärtig nicht zuletzt für die neue Rolle, die Deutschland seit ’89 in der Welt einzunehmen gedenkt. Konnte zuvor auf Amerika als Verbündeten gegen die Sowjetunion kaum verzichtet werden, erscheint Amerika seither manchem/r zusehends als Konkurrent für eine künftige Weltmacht Europa unter deutscher Führung.

 

 

Wer schützt uns vor Amerika?

 

Auch dann, wenn (linke) Kritik an Amerika sich nicht offen als simpler Antiamerikanismus geriert, ist es also keineswegs ausgeschlossen, dass sich Kritik an Amerikas Politik – selbst wenn sie berechtigt ist – unter der Hand in eine Verharmlosung deutscher Großmachtambitionen verwandelt. Sie läuft, ob sie es will oder nicht, schnell Gefahr, in das diskursive Fahrwasser des deutschen Mainstreams oder – schlimmer noch – der extremen Rechten zu geraten.

Exemplarisch zeigt sich der mehr als nur problematische Charakter einer »Imperialismusanalyse«, die ein einziges Land – Amerika – als hauptverantwortlich für den Zustand der Welt benennt, an verschiedenen Antikriegskampagnen im Herbst letzten Jahres. (Neben vielen anderen wäre hier vor allem die Berichterstattung der deutschen linken Tageszeitung »Junge Welt« oder die Diskussion auf den Seiten des Internetprojektes »Indymedia« zu nennen.) Für die-

se Linke ist Amerika-Israel als »Achse des Bösen« aus-

gemacht. Systematisch unterschlagen wird die offensichtliche Tatsache, dass am 11. September zuerst Amerika von den radikalislamistischen Djihadis-

ten angegriffen wurde. Selbst der Umstand, dass

NPD und Nazi-Kameradschaften mittlerweile mit z.T. identischen Parolen (»USA – internationale Völkermordzentrale!« oder »Stoppt den US-Imperialismus!«) wie die sich links dünkenden KriegsgegnerInnen durch deutsche Straßen ziehen (manchmal sogar, wie etwa in Berlin, inmitten einer »linken« Demo) vermag leider kein Nachdenken über die Frage auszulösen, wem eine solch platte Amerikakritik denn eigentlich nutzt.

 

 

Die Linke, das Volk und die Unmöglichkeit nationaler Befreiung

 

Augenscheinlich fällt es vielen Linken noch immer schwer, sich von einem, durch die Lenin’sche Imperialismusanalyse geprägten, dualistischen Weltbild zu lösen. In diesem Bild stehen sich, in falscher Ana-

logie zur Klassenanalyse, die imperialistischen Unterdrückernationen und die »unterdrückten Völker« antagonistisch und unversöhnlich gegenüber. Die So-

lidarität gilt dann ganz selbstverständlich den unterdrückten »Völkern«, die in ihrem Befreiungskampf gegen das umstandslos in der Metropole verortete Kapital und seinen politischen und militärischen Handlangern unterstützt werden müssen. Wenn nun Amerika offensichtlich die stärkste und mächtigste imperialistische Macht der Metropole ist, liegt es dann nicht nahe, so die Frage der AntiimperialistInnen, den Kampf auf diese Nation zu fokussieren?

Falsch ist diese Analyse jedoch gleich in mehrfacher Hinsicht: Die Vorstellung, es gäbe so etwas wie ein gemeinsames Interesse der »Metropole« gegenüber der »Peripherie«, homogenisiert die höchst unterschiedlichen Interessen der verschiedenen weltwei-

ten AkteurInnen. Es negiert die Tatsache, dass auch in den »Ländern des Südens« ein – vorsichtig ausgedrückt – nicht unerhebliches Interesse an der Aufrechterhaltung des Modells der Wertvergesellschaftung bestand und besteht. Vielfach (wenn nicht meist) entpuppte sich der »nationale Befreiungskampf« der »unterdrückten Völker« eben nicht als Kampf gegen die »Unterdrückung des Menschen durch den Menschen« (Marx), sondern als ein Projekt nachholender Entwicklung mit dem Ziel, funktionierende kapitalistische (oder wahlweise realsozialistische) Nationalstaaten aufzubauen.

Das antiemanzipative Konstrukt »Volk« wird keineswegs schon dadurch zu einem brauchbaren Begriff der Linken, dass mensch ihm das Adjektiv »unterdrückt« voranstellt. Es verstellt vielmehr den Blick auf die durch Ausbeutung, Sexismus und Rassismus geprägten Unterdrückungsverhältnisse. Es ist – mehr noch – gerade als die ideologische Voraussetzung zur Perpetuierung eben jener Verhältnisse anzusehen. Dass ausgerechnet Teile der deutschen Linken in einem Land, in dem der Begriff des »Volkes« nach dem Nationalsozialismus endgültig diskreditiert hätte sein müssen, diesen mal wieder, wenn auch (zunächst) nach außen gewendet, verstärkt aktiviert haben, wirft auf diese ein doch sehr unschönes Licht.

Eine derartige positive Bezugnahme auf den Volksbegriff begann verstärkt in den späten 60er und vor allem 70er Jahren, als viele Linke – enttäuscht vom deutschen »Proletariat«, das sich der beschworenen Revolution partout nicht anschließen mochte – ihre Hoffnungen auf ein geschichtlich wirksam werdendes »revolutionäres Subjekt« kurzerhand in den Trikont projizierten. Damit öffneten sie aber zugleich einer

positiven Besetzung dieses im (linken) deutschen Kontext nach dem Nationalsozialismus weitgehend tabu-isierten, aber im Grunde nie wirklich radikal kritisierten Begriffs die Tür.

War vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges, der auch in Amerika selbst zu massiven Protesten und zur Entstehung einer starken Neuen Linken geführt hatte, eine Kritik an der amerikanischen Politik und eine Solidarisierung mit dem vietnamesischen Befreiungskampf noch verständlich, zeigte sich mit der Zeit immer stärker der problematische Charakter der positiven Bezugnahme auf nationale Befreiungsbewegungen. Das Terror-Regime der Roten Khmer in Kambodscha, die wahllosen Anschläge der IRA in Londoner U-Bahnen oder die im Umgang mit KritikerInnen aus den eigenen Reihen sich zeigende autoritäre Verfasstheit von Gruppen wie etwa der PKK ließen die Parteinahmen antiimperialistischer SolidaritätsaktivistInnen zunehmend zweifelhafter erscheinen. Als sich dann nach 1989 fast alle noch existierenden Befreiungsbewegungen mehr oder weniger deutlich von der Perspektive einer sozialistischen Revolution zu ver-abschieden begannen, zeigten sich auch in der bundesdeutschen Antiimp-Szene deutliche Auflösungs-erscheinungen. Nicht zuletzt die Drohungen des irakischen Diktators Saddam Hussein während des zweiten Golfkrieges 1991, Israel mit Giftgasangriffen auszulöschen, führten bei Teilen der deutschen Linken zu einem Überdenken ihrer bisherigen Praxis: Es war nicht mehr so einfach, die Welt entlang der Trennlinie »imperialistische Metropole hier – unterdrückter Trikont da« manichäisch in »gut« und »böse« einzuteilen. Im sich anschließenden Diskussionsprozess rückten dann auch verstärkt Themen wie Antisemitismus und Antiamerikanismus in den Blick.

Die Abkehr vom platten Antiimperialismus der 70er vollzogen jedoch längst nicht alle Linken mit. Gerade Antiamerikanismus und ein sich als »Antizi-onismus« ausgebender Antisemitismus sind noch immer feste Bestandteile im Selbstverständnis vieler Linker.

 

 

Global Backlash

 

So falsch es ist, Amerika allein für die ungleiche Verteilung des weltweiten Reichtums verantwortlich machen zu wollen, so falsch ist es auch, in den immer

einflussreicheren islamistischen Gruppen zwischen Algerien und den Philippinen, Tschetschenien und Somalia so etwas wie eine bloß fehlgeleitete Artikulation eines an sich berechtigten Anliegens zu sehen.

Zwar ist es tatsächlich so, dass der Aufstieg des Islamismus in einem engen Zusammenhang mit den katastrophalen Auswirkungen der Krise des fordistischen Akkumulationsmodells seit den 70er Jahren speziell für ökonomisch periphere Regionen steht. Für die meisten der früher noch euphemistisch »Entwicklungsländer« genannten Staaten bedeutet diese Krise nichts weniger als den Verlust jedweder »Entwicklungsperspektive«. Die ostasiatischen Wachstumsregion vielleicht ausgenommen, drohen mittlerweile weite Teile der Welt von Lateinamerika bis Russland, Südasien bis Nahost – von Afrika ganz zu schweigen – dauerhaft von der ökonomischen und technologischen Entwicklung in den industriellen Zentren Europas, Nordamerikas und Japans abgeschnitten zu werden.

Die Entstehung einer sich gegen den drohenden vollständigen Zusammenbruch formierenden Gegenbewegung, die bereit ist, sich der ökonomischen »Degradierung« gewaltsam zu widersetzen, kommt insofern keineswegs überraschend.

Überraschender – aus linker Perspektive – vielleicht schon, dass sich dieses »Widersetzen« heute fast ausnahmslos (z. B. Chiapas) reaktionär artikuliert. Statt eines Che Guevara betreten diesmal nationalistische SeparatistInnen (Ex-Jugoslawien, Ex-Sowjetunion), Warlords (Liberia, Kongo, Somalia) und Djihadisten (Afghanistan, Algerien, Palästina) die Bühne der Weltgeschichte. Kritik eines globalen Verwertungszusammenhangs, der allem technologischen Fortschritt zum Trotz für die Mehrheit der BewohnerInnen dieses Planeten nur wachsendes Elend übrig hat, findet praktisch nicht statt. Stattdessen ist ein Prozess zu beobachten, in dem die soziale Frage ethnisiert wird, nationalistische Rhetorik zum bestimmenden Moment des öffentlichen Diskurses der »Weltgesellschaft« mutiert und Kritik der politischen Ökonomie antisemi-

tischen Projektionen weicht.

 

 

Death to America

 

Im Islamismus drückt sich eine Sicht auf die (kapitalistische) Moderne aus, die dem westlichen Modus der Vergesellschaftung, welcher als Bedrohung der sozialen Existenz erfahrenen wird, mehr ideologisch denn praktisch eine vermeintlich bessere authentisch islamische Welt entgegengesetzt. Materiell sind es die längst verlorengegangenen Sicherheiten einer feudal-patriarchalen Gesellschaft, welche die Attraktivität des Islamismus zu begründen vermögen. Ideologisch ist es ein anti-westliches und strukturell bis offen antisemitisches Weltbild, das in der Lage scheint, die ökonomische und soziale Krise des Nahen Ostens zu »erklären« und einfache »Lösungen« anzubieten, ohne Herrschaftsverhältnisse und gesellschaftliche Widersprüche »im Innern« der arabischen Gesellschaften thematisieren zu müssen. Dieses Weltbild ermöglicht, potentiell alle Klassen und gesellschaftlichen Gruppen zu homogenisieren und in einer konstruierten »islamischen Gemeinschaft« gegen die imaginierten äußeren und inneren Feinde fest zusammenzuschließen. Es bietet die Möglichkeit, einer in strukturellen Krisen immer drohenden Delegitimierung der bestehenden Machtverhältnisse zuvorzukommen, ohne an ihnen tatsächlich etwas ändern zu müssen.

Diese drohende Delegitimierung ist eng verknüpft mit einem Legitimationsverlust des westlich-fordistischen Vergesellschaftungsmodells im nahen Osten insgesamt. Es verliert – der fortdauernden ökonomischen, politischen und nicht zuletzt militärischen Stärke des Westens zum Trotz – zusehends seinen hegemonialen Charakter und beginnt, einem diffusen Hass auf den Westen, insbesonders auf seine Führungsmacht Amerika, zu weichen.

Amerika erscheint in der Sicht des Islamismus eben nicht nur als die erfolgreichste kapitalistische Nationalökonomie, die einen entsprechenden Militärapparat unterhält, um den Ordnungsrahmen einer global operierenden Weltökonomie repressiv abzusichern. Es erscheint vielmehr als die Inkarnation eines politisch, ökonomisch und moralisch durch und durch verderblichen Gesellschaftsentwurfs. Das Scheitern des Modernisierungsprojekts in den arabischen Ländern wird – unter Ausblendung aller interner Faktoren – vom Islamismus, die Traditionen des panarabischen Nationalismus teilweise in sich aufnehmend, umstandslos übersetzt in eine amerikanische Verschwörung gegen den Trikont und speziell die arabisch-islamischen Länder. So sich der Kampf der Islamisten nach innen richtet, sind es die schädlichen Einflüsse des Westens, die es auszumerzen gilt.

In der islamistischen Konstruktion eines die »islamische Welt« bedrohenden Feindes sind es vor allem zwei diskursive Stränge, die sich wechselseitig verstärken: ein sich im Feindbild Amerika verdichtender antiwestlicher Diskurs und zum anderen ein verschwörungstheoretisch aufgeladener, zunehmend aggressiver auftretender Antisemitismus.

Zugleich aber – und das muss in einer Thematisierung des Islamismus aus einer Sprecherposition in einer westlichen Gesellschaft immer mitbedacht werden – ist der Diskurs um den Islamismus immer auch für rassistische Ausschlusspraktiken im Westen anschlussfähig: In dem Maße, in dem der Verdacht des

Islamismus gegenüber Menschen einer bestimmten Herkunft in Anschlag gebracht wird – so etwa in den Diskussionen um die Rasterfahndung in Deutschland – wird er kompatibel zu einem Diskurs, dem es nicht um die Thematisierung des dem Islamismus zu Grun-

de liegenden antiemanzipatorischen Gesellschaftsentwurfs gelegen ist, sondern um die Führung des »Beweises«, dass die »westliche Kultur«, der des »Orients« überlegen sei. Auch hier gilt deshalb, dass der »Hauptfeind« zuerst im eigenen Land steht und es erste Aufgabe einer deutschen Linken sein muss, Rassismus und Antisemitismus auch zuerst in Deutschland (einem Land in dem es in dieser Hinsicht kaum an Betätigungsfeldern mangeln dürfte) zu bekämpfen.

 

 

Djihad gegen die jüdische Weltfinanz

 

Im Diskurs um den Angriff auf das WTC verdichten sich die Stränge des antiwestlichen, primär gegen Amerika gerichteten, und des antisemitischen Diskurses, wenn sie als Angriffe auf eines der wichtigsten Symbole New Yorks als imaginiertem »Zentrum des internationalen Finanzkapitals« verstanden werden. Diese Vorstellung eines, die ganze Welt beherrschenden »internationalen Finanzkapitals«, dessen »Drahtzieher« und »Hintermänner« an der amerikanischen »Ostküste« und speziell im New Yorker financial district lokalisierbar seien, ist seit über hundert Jahren eingebettet in einen heute global wirksamen antisemitischen Diskurs.

In der dem antisemitischen Diskurs zu Grunde liegenden verkürzten Kapitalismuskritik bleibt das zentrale Prinzip der Wertvergesellschaftung unbegriffen: Der Doppelcharakter der Ware, die immer als Tausch- und Gebrauchswert zugleich auftritt und die von Marx als Warenfetisch und Verdinglichung beschrieben wurden.

Im Kapitalismus erscheinen die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zueinander nicht als solche, sie sind als Warenbeziehungen verdinglicht und fetischisiert. Die Ware selbst erhält so ihren Doppelcharakter: als konkret-stoffliche besitzt sie Gebrauchswert, als abstrakt-gesellschaftliche Tauschwert. Ebenso die Arbeit: einmal – konkret – als produktive Arbeit, das andere Mal – gesellschaftlich vermittelt – als abstrakte Arbeit. Im Fetisch verschwinden die gesellschaftlichen Verhältnisse hinter ihrem konkreten Schein. Die Herrschaftsbeziehungen sind durch ihre Verdinglichung verschleiert. Die kapitalistische Gesellschaft erscheint so nicht mehr als eine von Menschen gemachte soziale Form, sondern als Sachzwang. Es ist zwar unübersehbar, dass der gesellschaftliche Reichtum ungleich verteilt ist, doch bleibt die Quelle dieses Reichtums – die Aneignung menschlicher Arbeit – weitgehend unbegriffen. Während der Profit des industriellen Kapitals immerhin noch als »Unternehmerlohn« (falsch) erklärt werden kann, ist das zinstragende Kapital ohne arbeitswerttheoretische Überlegungen nicht zu verstehen. Der hier entstehende Reichtum gerät zum vollendeten Mysterium.

In der Fetischisierung des Kapitalverhältnisses ist der Fetischcharakter der Ware – und des Kapitalismus überhaupt – auf die Spitze getrieben. Der Zins scheint aus dem sich in Dingen materialisierenden Kapital selbst zu entspringen und eine diesen Dingen natürlich zukommende Eigenschaft zu sein. Damit ist zugleich sein gesellschaftlicher Ursprung verschleiert. Der Ursprung des Zinses in der menschlichen (Mehr-) Arbeit ist nicht mehr unmittelbar ersichtlich.

Jede auf einer Kritik des zinstragenden Kapitals verkürzte Kapitalismuskritik beruht auf der impli-ziten Annahme, die Produktions- von der Zirkula-

tionssphäre trennen zu können; der von Marx beschriebene notwendige Zusammenhang der beiden Sphären wird übersehen, die Bedeutung des Handels- und Finanzkapitals für die kapitalistische Zirkulation ausgeblendet.

Der Kapitalismus wird in seinem konkreten Aspekt zu einer rationalen und nützlichen Organisationsform industrieller Produktion (Industriekapital), in seinem abstrakten Aspekt zu einer schmarotzenden, schädlichen Profitmacherei (Finanzkapital). Ideologisch kann damit das abstrakte vom konkreten Kapital soweit getrennt werden, bis das konkrete Kapital als überhistorische Notwendigkeit erscheint.

Eine auf die Betrachtung der Zirkulationssphäre verkürzte »Kapitalismuskritik« war – in Europa wie im Nahen Osten – immer schon in das diskursive Feld des Antisemitismus eingelassen: die Konkretisierung des Abstrakten im Juden, das »internationale Finanzkapital« als Ausdruck »jüdischer Weltherrschaft«.

Der antisemitische Charakter der Anschläge von NYC zeigt sich aber nicht allein im Angriff auf das vermeintliche Zentrum der »Weltfinanz«. Die Atten-täter der al-Qaida verbindet mit allen anderen islamistischen Terrororganisationen auf der Welt vor allem Anderen ihr grenzenloser Hass auf Israel. Israel ist als »kleiner Satan« neben Amerika – dem »großen Satan« – für den militanten Islamismus das Feindbild schlechthin. Auf einen stark in den islamischen Gesellschaften verankerten Antisemitismus sich stützend (vgl. Osten-Sacken / Uwer), gelingt es den Is-

lamisten immer wieder recht gut, israelische Machenschaften für alle möglichen »Missstände« in den arabischen Gesellschaften verantwortlich zu machen: Ob Wirtschaftskrise, gekränkter Nationalstolz, Ohnmachtgefühle oder der allseits beklagte, die Auflösung der traditionellen Gesellschaft begleitende »Verfall der Sitten« – schuld sind im Zweifelsfall die Juden, der Mossad oder das »von Juden kontrollierte« Amerika.

 

 

Epilogue

 

Festzuhalten bleibt, dass der sich seit dem 11. September wieder stärker

artikulierende Antiamerikanismus ob von »links« oder von rechts, in Europa, Arabien oder sonst

irgendwo auf der Welt einen zutiefst antiemanzipatorischen Charakter hat. Er ist anschlussfähig sowohl an einen mit Amerika konkurrierende hegemoniale Projekte (Deutschland / Europa) begleitenden nationalistischen Diskurs, als auch an einen reaktionären Is-

lamismus, der – notdürftig kaschiert durch Versatzstücke eines längst dahingeschiedenen Antiimperialismus – einen finsteren Gottesstaat propagiert.

Dabei kann es selbstverständlich genauso wenig um eine Apologie der amerikanischen Politik wie um ein Mitbasteln am ideologischen Konstrukt einer der islamistischen »Barbarei« diametral entgegengesetzten westlichen »Zivilisation« gehen.

Es kommt darauf an zu erkennen, dass die weltweiten Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse durch die Vorstellung einer den Rest der Welt gegen ihren Willen beherrschenden metropolitanen Zwingburg nicht adäquat beschrieben werden können, sie – im Gegenteil – den Blick auf die tatsächliche Funktionsweise von Herrschaft verstellt. So wie sich im Innern einer jeden Gesellschaft Herrschaft nicht durch nackte Repression von Wenigen über die Vielen herstellt, sondern sich die gesellschaftlichen Machtverhältnisse beständig in den Köpfen der Mehrheit reproduzieren, so dass Herrschaft sich schließlich als ein gesellschaftlicher »Konsens gepanzert mit Zwang« (Gramsci) darstellt, so verhält es sich auch im weltweiten Maßstab: Die Einteilung der Welt in ein Ensemble konkurrierender Nationalstaaten mit je unterschiedlichen Positionen in der weltweiten Hierarchie und die Vergesellschaftung unter den  Bedingungen von Warentausch und Wertform sind keine Verhältnisse, die der Welt noch aufgezwungen werden müssten. Sie haben sich als hegemoniale Vorstellungen längst etabliert. Gestritten wird seltener um das »ob« eines nationalstaatlich verfassten Kapitalismus als um den eigenen Platz in der internationalen Hierarchie.

Kritik des Antiamerikanismus schließlich ist als notwendige Bedingung jeder emanzipatorischen Gesellschaftskritik anzusehen, welche die verheerenden Auswirkungen eines rassistisch, nationalistisch, sexistisch und antisemitisch strukturierten globalen Verwertungszusammenhangs nicht durch den besonderen Charakter einzelner nationalstaatlicher Akteure zu erklären trachtet, den Fehler vielmehr im falschen Ganzen sucht.

 

Oliver Groß

 

 

[ txt ]

¬          Karl Marx: »Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis«, in: Das Kapital (I)

¬          Moishe Postone: »Antisemitismus und Nationalsozialismus«,

diskus 3-4 1997 (www.copyriot.com/sinistra/reading/postone1.html)

¬          Thomas von der Osten-Sacken / Thomas Uwer: »Der arabische Antisemitismus«, in: Hermann L. Gremliza (Hg.): »Hat Israel noch eine Chance?«, Hamburg 2001

¬          Gerhard Scheit: »Das Böse ist nicht das Böse« (Jungle World 41/01: www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2001/41/05a.htm

¬          Anton Landgraf: »Ins Gesicht gespuckt« (Jungle World Nr. 51/01: www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2001/51/05a.htm)