diskus 1/98

Bildung als Arena ideologischer Kämpfe
Über die Verschwisterung von konservativen und liberalen Diskursen in Zeiten des Neo

Das preußische und später das deutsche Bildungssystem war stets ein Ziel – bzw. Ausgangspunkt für gesellschaftliche Veränderungen: ob es nun um Universitätsreformen in Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts ging, um den Weimarer Schulkompromiß und das dreigliedrige Schulsystem, die Umgestaltung des Schul- und Hochschulsystems im deutschen Faschimus oder die Bildungsreform der 60er/70er Jahre, bei der sich die propagierte »Öffnung« nicht nur auf das Bildungssystem bezog, sondern sich gegen den Schweigekonsensus in der nachfaschistischen BRD wandte. Dabei sind Bildungsinstitutionen und -inhalte immer Ergebnis historischer Auseinandersetzungen und Kompromißbildungen zwischen verschiedenen Akteuren, Instanzen und Interessen. In einem Aufsatz, in dem es um die »Wiederherstellung der Hegemonie während der konservativen Restauration« geht, bemerkt M. W. Apple:

»Das Bildungswesen selbst ist eine Arena, in der sich diese ideologischen Konflikte ausagieren. Sie ist eine der bedeutenden Schauplätze, auf der verschiedene Gruppen mit wohlunterschiedenen politischen, ökonomischen und kulturellen Vorstellungen zu bestimmen versuchen, welches die sozial legitimen Mittel und Zwecke einer Gesellschaft sein sollen.« (Apple, 1994, S. 36)

Gerade im deutschen Kontext hat »Bildung« eine dominierende Rolle bei der Entstehung des Staates, in den sozialen Kämpfen wie auch in der Entwicklung und Veränderung alltagskultureller Verkehrformen eingenommen. Verfolgt man/frau die Bildungsdiskurse vom 18. Jahrhundert bis heute, so läßt sich feststellen, daß es (1) die »Bildung« als eine klar abgrenzbare Definition nicht gibt; (2) »Bildung« vielmehr einen symbolisch-diskursiven Ort der Auseinandersetzung, d.h. einen Teil der hegemonialen Verhältnisse darstellt, in dem verschiedene Subjekte (Gruppen, Klassen, Akteure, Individuen) sich jeweils anders positionieren oder positioniert werden; (3) der Diskurs um »Bildung« Anschlüsse an eine Vielzahl anderer Diskurse nicht nur zuläßt, sondern diese geradezu konstitutiv für ihn sind (z.B. Diskurse aus Anthropologie, Ökonomie, Moral und Ethik) und mit der »Bildung« auch Elemente wie Staatsverständnis, Autoritätsvorstellungen, historische Bilder von »der Nation« transportiert werden; (4)«Bildung« stets mit Differenzsetzungen und daher mit Ein- und Ausschlüssen, also mit Macht verbunden ist (national, geschlechtsspezifisch, klassen- oder gruppenspezifisch, ethnisch-«rassisch« usw.).

Daher ist es notwendig, den Diskurs um »Bildung« als ein diskursives Netz und Dispositiv zu begreifen; als eine vielfach determinierte, historisch-diskursive Praxis, die eine Pluralität von Positionen, unterschiedliche Machtpraktiken und Subjektivierungsweisen wie auch eine Vielzahl möglicher Anschlüsse an andere Diskurse zuläßt.

Zur Konstruktion eines diskursiven Ereignisses
Die Aussagen von Bundespräsident Herzog zur Bildung können als diskursives Ereignis gelesen werden1. Michael Rutz, Herausgeber des »Rheinischen Merkur«, hat seine viel zitierte und kommentierte Rede unter dem Titel »Aufbruch in der Bildungspolitik«2 zusammen mit 25 Antworten veröffentlicht. Entgegen der Erwartung, in den Antworten im wesentlichen Aussagen zu »Standort«, »Globalisierung« oder »Wettbewerb/Ökonomie« zu finden, wiesen die Texte auffällige Häufungen zu den Topoi »Gleichheit/Ungleichheit«, »Tugend/Werte« und »Begabung/Neigung« auf. Der einzige »ökonomische« Topos, der relativ häufig vertreten war, war der der »Leistung«. Eine vorläufige These könnte also lauten, daß die Rede weniger als »Standort«-Rede gelesen wurde (die sie natürlich auch ist), sondern eher als eine über (Un)Gleichheit, Talent und Werte, womit sie dem klassischen Terrain des neokonservativen Diskurses zuzuordnen wäre. Daher schien es interessant zu sein, zu untersuchen, auf welche Art und an welchen Stellen »der Neoliberalismus« und »der Neokonservatismus« diskursiv miteinander verkoppelt sind, wo sie, insofern zu trennen, sich gegenseitig stützen und verstärken oder auch quer zueinander stehen. Es geht also im Kern um die Frage, ob es sich lediglich um ein Anschließen an den neokonservativen Diskurs der 70er Jahre im historischen Kontext des neoliberalen Diskurses der 80er/90er Jahre handelt oder ob verschiedene, auch heterogene Elemente reartikuliert und zu einem neuen hegemonialen Diskurs verschmolzen werden.

Im folgenden soll versucht werden, anhand einiger Topoi der Herzogrede den Charakter des diskursiven Ereignisses näher zu beschreiben, um schließlich einige Überlegungen zu den Ermöglichungsbedingungen der spezifischen Aussagen von Herzog zum Gleichheit/Ungleichheits-Topos im Anschluß an den Diskurs des Neokonservatismus anzustellen. Dazu werden zum einen einige zur Konstruktion dieses Ereignisses notwendige rhetorische Mittel aufgezeigt, zum anderen wird auf Verschiebungen im Bildungsdiskurs (seit den 70er Jahren) eingegangen, die durch die Rede und die Reaktionen darauf deutlich werden.

Die von Rutz veröffentlichten 25 Antworten auf die Herzog-Rede repräsentieren nur einen Teil, wenn auch einen dominierenden, des gesamten Bildungsdiskurses. Angeschlossen wird in den Antworten an den appellativen Gestus der Herzogrede, in der von »vermintem Gelände«, »Zukunftsfragen« und »Sputnikschock« die Rede ist, wie auch davon, »Tabus zu knacken und (...) falsche Mythen zu beseitigen«, notwendig sei ein »neuer Grundkonsensus« (sic!). Hier wird offensichtlich »Kampfposition« bezogen, und es ist nicht unwichtig, sich des nachhaltigen Appellcharakters von Herzogs Rede bewußt zu werden, da es hier um die gezielte und wohlinszenierte Form eines öffentlichen Redeereignisses geht. Diese Tendenz wird explizit an den Stellen der Rede deutlich, die rhetorische Grundfiguren erkennen lassen, wie die Rede ex negativo (»Falsch ist die Vorstellung, die Schule sei Reparaturbetrieb für alle Defizite der Gesellschaft ... Es ist ebenso falsch anzunehmen, das beste Bildungsangebot könne nur vom Staat kommen«), rhetorische Fragen (»Muß jedes geisteswissenschaftliche Studium wirklich mit einem Magister abgeschlossen werden«) oder die imperativen Selbstappelle am Schluß der Rede (»Schaffen wir ein Bildungswesen, daß Leistung fördert ... Setzen wir neue Kräfte frei ... Entlassen wir unser Bildungssystem in die Freiheit«). So wird von Beginn der Rede an eine symbolische Gegenposition aufgebaut, ein imaginärer Anderer, der in der paradoxen Figur des »konservativen 68er-Bildungsreformers« entwickelt wird. Er ist es, der Entwicklung und Zukunft verhindert, der seinen leistungsfeindlichen Gleichheitsgedanken nachhängt und auf diese Weise notwendige Veränderungen blockiert (»Reformstau«!). Es gilt daher, diese alten ideologischen Bastionen (Chancengleichheit und gleichberechtigter Zugang zu Bildung, Demokratisierung) zu schleifen und auf ihren Ruinen ein Bildungssystem zu errichten, das den Anforderungen von Standort und Globalisierung gerecht wird, die als unhinterfragbare Gegebenheiten vorausgesetzt werden. Dies bildet den Resonanzboden, um eine Kette an Konnotationen (Konkurrenz und Kampf, Wissen und Fortschritt usw.) freizusetzen, die schließlich auch den Bildungsdiskurs dominieren, indem sie ihn überlagern.

Das alles ist nicht neu und kristallisierte sich bei allen Analysen, die sich kritisch mit der Herzog-Rede auseinandergesetzt haben, heraus. Was jedoch zumeist unberücksichtigt blieb, ist die Frage: Woran knüpft Herzog bei seinen Vorstellungen von Bildung an? Aus welchen diskursiven Elementen ist die Rede zusammengesetzt und an welche Positionen ist sie anschlußfähig und an welche nicht?

»NeoKonservativLiberalismus«
Die Bildungsrede ist nicht nur ein Plädoyer für den Standort Deutschland im Rahmen von Globalisierung, für den das Bildungssystem entsprechend funktional umgestaltet werden muß, sondern es handelt sich auch und erneut um den Versuch, Positionen des Neokonservatismus der 70er Jahre im Kontext Neoliberalismus und Globalisierung zu reform(ul)ieren, d.h. neu zu artikulieren. Dabei geht es im Kern um eine Akzentverlagerung auf ein Element, das immer Bestandteil des (neo)konservativen Diskurses war, nämlich die Verknüpfung von Ungleichheit und Leistung. Die neoliberal-modernisierte Gestalt des neokonservativen Diskurses hat in diesem Sinn die neoliberalen Zeichen der Zeit (Privatisierung und Deregulierung) erkannt. Das ist beispielsweise an der diskursiven Ausweitung des Begriffs Verantwortung abzulesen, mit der der schrittweise Rückzug des Staates aus der Finanzierung der Universitäten (Stichwort: Entlassung von Institutionen aus staatlich-bürokratischer Bevormundung) wie auch der Abriß des Gebäudes Sozialstaat (Individuen übernehmen Verantwortung für sich selbst) gerechtfertigt wird.

Individuelle Verantwortung gehörte in den 70er Jahren ins neokonservative Rezeptbuch gegen die Anomalien postindustrieller Gesellschaften. Für den Neokonservatismus stand zu diesem Zeitpunkt noch ein normativ-gemeinschaftlicher Wertekanon im Vordergrund, um den diagnostizierten Phänomenen von Verfall und Pathologie (Verfall von Familie, Staatsverdrossenheit, Drogenkonsum, Hedonismus, wilde Streiks, Jugendunruhen, Wehrdienstverweigerung, Bürgerinitiativen usw.) entgegenzuwirken. Dies ging mit der Wiederherstellung autoritärer Verhältnisse einher und war gegen die vermeintliche »Ungleichheit, die sich als Folge realisierter Chancengleichheit erst herstellt« (H. Lübbe, 1977), gerichtet.

In den 80er/90er Jahren ging es darum, auf ein leistungsbezogeneres Bildungsystem umzustellen, wozu jede Art von Gleichheitsvorstellung zunehmend unter Ideologieverdacht gestellt wurde. Die angekündigte geistig-moralische Wende entpuppte sich Anfang der 80er Jahre als neoliberaler Schwenk, der, wie Dubiel schon 1985 feststellte, zu einer Aktzentverschiebung beim Konservatismus führte, so daß er zu der These gelangte, »daß der von den Neokonservativen beklagte Niedergang der Leistungsbereitschaft nur eine Verschiebung der Leistungskriterien aus dem Produktionsbereich in den kulturellen Bereich der Selbstentfaltung von Individuen widerspiegelt (...) Für Konservative sind Unterschiede des Talents, der Neigung und Motivation Teil der angeborenen Grundausstattung der Individuen.« (Was ist Neokonservatismus? Ffm, S. 69/70)

Es ist einleuchtend, daß der Bildungsbereich die diskursive Arena war, in der der Kampf um Gleichheit vs. Ungleichheit am heftigsten tobte:

»Die Einführung der ›affirmative action‹- Programme in den USA, der Gesamtschulen in der Bundesrepublik, des kompensatorischen Sprachunterrichts für Kinder (...) all diese Maßnahmen basierten ja auf der öffentlich diskutierten und zum Anlaß sozialpolitischer Reformen gemachten Prämisse, daß die klassischen formalen Gleichheitsgarantien die Gleichheit der Startchancen eben noch nicht garantieren. (ebd., Seiten 74/75)

Der Effekt der selektiven Kopplung bestimmter Elemente aus neoliberalem und neokonservativem Diskurs ist, daß sich der Schwerpunkt des neokonservativen Diskurses im Kontext von neoliberalen Konkurrenz- und Effizienzdiskursen zum leistungsbezogenen Element hin verschoben hat, der neoliberale Diskurs wiederum in puncto Werte, Tugenden und Ungleichheit an den neokonservativen anknüpft und sich darüber gegenseitig funktional verstärken. Die Herzogrede markiert genau diese Art der selektiven Anknüpfung und gegenseitigen Verstärkung.

Dies weist auf eine auf Änderung der Regulationsweise hin: Die diskursive Verschiebung in Richtung einer Expansion des Ökonomischen (in Bereiche von Verwaltung, Bildung usw.) bedeutet gleichzeitig eine Transformation des Politischen und mithin auch des Konsens’. Während auf der einen Seite der Staat »Verantwortung« in bestimmten Bereichen »abgibt«, »übernimmt« er in anderen Bereichen (Innere Sicherheit, Drogen- und Ausländerpolitik) mehr »Verantwortung«. Es handelt sich also um komplementäre und nicht sich ausschließende Entwicklungen.

M. W. Apple stellt für das Bildungssystem der USA eine zunehmende Popularisierung »darwinistischen Denkens« fest und weist auf einen neuen »Machtblock« aus »Unternehmertum, der Neuen Rechten und neokonservativen Intellektuellen« hin. Charakteristisch für die neuen `Ungleichheitsideologien` ist dabei die Umdefinition von »Gleichheit«:

»Sie wird nun nicht mehr in einen Zusammenhang gestellt mit der früher beklagten Unterdrückung und Benachteiligung bestimmter Gruppen. Sie wird jetzt vielmehr umdefiniert in den Anspruch auf die garanierte persönliche Wahlfreiheit unter den Bedingungen eines ›freien Marktes‹.«3

Diese Umdefinition von Gleichheit hat erhebliche Konsequenzen, was Machstrukturen und gesellschaftliche Diskriminierung betrifft. Im Kern geht es um den Versuch, soziale Unterschiede als Ergebnis von Macht und Herrschaft wegzudefinieren, quasi unsichtbar zu machen, um auf diese Weise den Raum für eine Reartikulation dieser Unterschiede unter Bezugnahme auf »natürliche Differenzen« zu schaffen. Historisch war es das Ergebnis der Bürgerrechtsbewegung, daß soziale Unterschiede unter dem Vorzeichen der Ungleichheit politisiert werden konnten, das heißt, nicht nur in die Sphäre der öffentlichen Politik gerieten, sondern auch gegen den amerikanischen Urmythos eines gleichberechtigten und »Differenzen-integrierenden« (»melting-pot«) homogenen amerikanischen »Volks« standen. Eine neoliberale Differenzpolitik setzt demgegenüber auf eine Politik des »radikalen Individualismus« – eine Diskursfigur, die nur scheinbar quer zu allen Gruppenrechten steht und an den Teil des Multikulturalismusdiskurses, den F.O. Radtke als »kulinarisch-zynisch« und »demographisch-instrumentell« bezeichnet, anschlußfähig ist. Danach lassen sich der/die »KlientIn«, »VerbraucherIn«, »KonkurrentIn« als »Einzelwesen« mit »Einzelbedürfnissen« und »Einzelfähigkeiten«, gleichgültig ob »einheimisch« oder nicht, für die verschiedenen Diskurse paßgerecht abkopieren (Klient- und Talentfigur im Bildungsdiskurs). So weist Apple zurecht darauf hin, daß es im neoliberalen Kontext auf der einen Seite um die »Hochschätzung von Excellence« und auf der anderen Seite auch um den Faktor »Effizienz« gehe.

Mit Blick auf das Verhältnis von Neoliberalismus und Neokonservatismus läßt sich eine Verschiebung in den hegemonialen Verhältnissen dahingehend diagnostizieren, als aufgrund der oben erwähnten Diskurskopplung der Topos der Ungleichheit als »natürliche Differenz« in verschiedenen Diskursen dominant geworden ist (Ökonomie, Bildung, Politik), Elitedenken, Elitebewußtsein und Hierarchievorstellungen einen neuen Stellenwert bekommen haben. Die gesellschaftliche Akzeptanz von Ungleichheit, Ausschluß und der Haß aufs »Nicht-Identische« (Adorno) haben in ganz verschiedenen Praxisbereichen erheblich zugenommen.

Die »Anerkennung der individuellen Differenz«, unter Abstraktion von Macht- und Herrschaftsverhältnissen und als Natureigenschaft gedacht, stellt die neokonservative Seite der Differenzmedaille dar. Diese repräsentiert einen klassischen wirtschaftsliberal-neokonservativen Gegenentwurf, um kollektive Ansprüche (z.B. Minderheitenrechte, Rechte für Frauen usw.) jenseits von Volk und Nation auszuhebeln und läßt sowohl den gesamten ökonomischen Bereich, wie soziale Machtverhältnisse, die durch Werte, Normen und Traditionen erst begründet und aufrechterhalten werden, unangetastet. Daher wäre es für entsprechende Gegendiskurse notwendig, Differenzen ins Verhältnis zu Machtpraktiken und Gewaltverhältnissen zu setzen, um die Ambivalenz von Differenzdiskursen zu umgehen, die stets der Gefahr »machtvoller Vereinnahmung« (durch Retorsion etwa) und Instrumentalisierung ausgesetzt sind und letztendlich funktional für die etablierten Machtverhältnissen sind.4

Herzogs ideologischer Kampf um Ungleichheit
Vor dem Hintergrund dieser diskursiven Kultivierung und spezifischen Politisierung der Differenz (Naturalisierung von Arbeitsvermögen und Leistung als »Talent« oder »Neigung«) kann von einer Art funktionalen und komplementären Verklammerung von neoliberalen und neokonservativen Elementen gesprochen werden, wobei »der Neoliberalismus« nie nur ein »Wirtschaftssystem« repräsentiert, sondern auch spezifische Vergesellschaftungs- und Subjektformen impliziert, wie »der Neokonservatismus« in seiner Tendenz, z.B. Leistung zu betonen, auch eine ›ökonomische Seite‹ hat. In Anknüpfung an die eingangs gestellte Frage nach der Verbindung zwischen dem Diskurs des Neoliberalismus und des Neokonservatismus läßt sich festellen, daß sich die spezifischen »Leistungen« beider Diskurse zu einer relativ stabilen historischen Formation eines »NeoKonservativLiberalismus« verbinden. Während im Diskurs des Neoliberalismus Elemente wie »Markt«, »Konkurrenz«, »Entstaatlichung« usw. quasi auf der rational-ökonomischen Ebene zirkulieren, überformt der Diskurs des Neokonservatismus diese ›sinn-lose‹ und ›subjekt-ferne‹ Funktionalität eines ökonomischen allgemeinen Gegeneinander mit anthropologisch-normativ ausgerichteten Vorstellungen von »Menschen, Werten und Tugenden« sinnhaft. Die Leerstelle oder besser Schwachstelle der Ökonomie, die der neokonservative Diskurs enthält, wird vom neoliberalen Diskurs »aufgefüllt«. Tradition, Werte und ein tugendhaftes Miteinander in der Gesellschaft verleihen dem ökonomischen Gegeneinander der Individuen einen »Sinn«.

Nach diesem theoretischen Zwischenstück kann gezeigt werden, daß die Herzogrede im Bereich der Bildung die oben angedeutete Kopplung beider Diskurse aufweist. Mit dem Begriff der »Wissensgesellschaft« ist in der Herzog-Rede ein verändertes Staatsverständnis markiert. Zum einen wird staatliches Handeln und politische Entscheidungsfähigkeit von der ›Wissensproduktion‹ in Wissenschaft und Gesellschaft immer abhängiger, und zum anderen muß der Staat, auch in der neoliberal zurückgestutzten Form, noch genug Interventionsmacht behalten, um die negativen Deregulierungseffekte politisch-administrativ im Griff zu behalten. So kann beispielsweise der Diskurs um die »innere Sicherheit und die (Ausländer)kriminalität« als Reaktionsform auf den Rückzug des Staates aus Ökonomie und ›Wohlfahrt‹ in die Bereiche betrachtet werden, in denen quasi als Kompensation verlorenen Einflusses die nachhaltige staatliche Regulierung ansteht: In Gestalt des repressiv-produktiven Interventionsstaates (»Freiheit durch Lauschangriff und Überwachung«) macht er sich unabdingbar und in Zeiten der Globalisierung ›national‹ unersetzlich. Im Kontrast zum Neokonservatismus der 70er Jahre geht es nicht darum, den Staat insgesamt als »guten« oder »schlechten« (Schelsky spricht vom »technischen Staat«) zu apostrophieren, sondern die Bereiche, wie den Bildungsbereich, auf die veränderte Rolle des Staates als Deregulierer/Regulierer hin zu definieren. So kann es zu scheinbar ambivalenten Forderungen wie Autonomie der (Hoch)Schule vom Staat und gleichzeitig Wertevermittlung durch den Staat kommen.

Ein weiterer Unterschied zum neokonservativen Diskurs der 70er Jahre liegt in der Notwendigkeit eines positiven Menschenbildes. Während beispielsweise Christa Meves die »negativen Veränderungen in der seelischen Befindlichkeit unserer Kinderpopulation« u.a. durch die »veränderten flexiblen Lebensformen der Menschen« verursacht sieht, wehrt sich der BP gegen das Vorurteil, »daß unsere Jugendlichen Aussteiger mit Null-Bock-Mentalität« seien. Auch LehrerInnen und ProfessorInnen kommen in puncto Motivation und Leistungsvermögen bei Herzog gut weg. Woher also begründet sich die Krise im Bildungsbereich? Es ist das, was Herzog die »Bildungstabus« nennt. Es ist, abgesehen von der oben angeführten staatlich-bürokratischen Bevormundung, der »Mythos vermeintlicher Gleichheit«, und diesen ›ideologischen Schutt‹ gilt es zunächst einmal aus dem Wege zu räumen.

Wenn mit C. Offe davon ausgegangen werden kann, daß das Bildungssystem nicht nur der ökonomischen Reproduktion dient, d.h. lediglich funktional ableitbar ist, sondern in mancher Hinsicht unabhängig »arbeitet«, dann kann die historische Leistung, die das Bildungssystem für andere Teilbereiche der Gesellschaft erbringt, unter anderem dadurch beschrieben werden, daß außer dem Wissen, das vermittelt wurde, in ihm und durch es bestimmte Subjektivierungsformen hervorgebracht und spezifische Disziplinartechnologien ausgebildet wurden. Nicht umsonst bezieht sich beispielsweise Foucault in seinem Buch zur Genealogie der Disziplinartechnologie (Überwachen und Strafen) auf Bildungsinstitutionen im weitesten Sinne, wenn von »Subjektbildung« ausgegangen wird (Gefängnis, Schule, Militär), wobei Disziplinartechnologie ein Netz von Kontroll- und Machttechniken bezeichnet, die strukturell und in ihren Effekten in spezifischen Bereichen (Bildung, Militär, Recht) Homologien aufweisen.

Nimmt man/frau diese spezifische Perspektive bei der historisch-systematischen Funktionsbestimmung des Bildungssystems ein, so ist es nicht erstaunlich, daß Herzog von »unterschiedlichen Begabungen«, »weniger Begabten«, »praktischer Begabung«, »praktischen Neigungen«, »begabten Studenten ... und weniger ambitionierten«, »keine Bildung ohne Anstrengung«, »Kreativität«, »Werten«, »Kompetenzen« »Tugenden«, »Verläßlichkeit, Pünktlichkeit und Disziplin« redet. Damit sind produktive wie repressive Formen der Subjektivierung gleichermaßen angesprochen, gleichgültig, ob es sich um körpernahe Tech- niken wie »Disziplin/Anstrengung«, Selbsttechniken wie »Kreativität« (als Selbst-Bild, Selbst-Verständnis und positives (Selbst)Zuschreibungsmerkmal) oder normalisierende Diskurse über das Innen der Subjekte wie »praktische Neigungen« oder »weniger Begabte« handelt. Nicht die Zurichtung der Individuen in repressiver Form steht im Vordergrund, sondern die produktive Integration der Körper-Psyche-Subjekte in eine »Wissensgesellschaft«, eine globale Konkurrenzgesellschaft (»die anderen Kulturen«, »die Eliten in Asien und Südamerika«), in die nationale Produktionsgemeinschaft (»unsere Zukunft«, »wir«, »in unserem Land«) steht auf der historischen Tagesordnung. Immaterielle Ressourcen, wie Bildung und Wissen, tragen nach diesem Verständnis nachhaltig zum eigenen Erfolg bei. Insofern der BP etwa von der Wissensgesellschaft als neuem Gesellschaftstypus ausgeht, trägt er durch sein öffentliches Reden, seine Schwerpunktsetzungen und Appelle zu deren ›Konstruktion und Konstitution‹ bei.

Der Begriff, der außer den unterschiedlichen »Begabungen« am deutlichsten Ein- und Ausschluß markiert, ist der der »Differenzierung«. Dieser ist nach der Seite des Subjekts (Begabung) als auch der des Systems (Bildungssystem) anschlußfähig. In der Rede erscheint er unter dem Bildungsideal der »Vielgestaltigkeit«. Dieser Passus stellt den Kernpunkt der Argumentation dar, um nach der Begründung der ›natürlichen Ungleichheit‹ (Begabung), um mit Rousseau zu sprechen, nun die Ungleichheit im Bildungssystem darzulegen. »Gute Schüler« sollte man/frau wieder gut und »schlechte Schüler« eben schlecht nennen dürfen, genauso wie die »begabten Studenten« begabt und die (nein, nicht die ›unbegabten‹ - hier wechselt Herzog die Spur, denn so weit scheint der »Mut« des BP dann doch nicht zu reichen) »weniger ambitionierten« dann vermutlich ›weniger ambitioniert‹ genannt werden dürfen. Spezifisch bezieht er sich bei der »größtmöglichen Differenzierung« auf die Universitäten.

Die Artikulationsformen der einzelnen Elemente aus neoliberalen und konservativen Diskursen sind vielfältig; ob und inwieweit es zu einer Transformation oder Verschiebung der diskursiven Formationen kommt, bleibt weiter zu untersuchen. Ähnlich wichtig ist es, die Anschlüsse an andere Bereiche (Alltag) und Diskurse (Neue Rechte) zu analysieren, um zu einer Einschätzung der Kräfteverhältnisse zu kommen und entsprechende Politikformen und Möglichkeiten der Intervention zu entwickeln.

Einem bekannten Wort Horkheimers nachempfunden könnte man/frau für den Bildungsbereich bemerken: Wer über soziale Ungleichheit nicht reden will, soll zum Standort schweigen.

Thomas Höhne

x 1 x Der Begriff »diskursives Ereignis« stammt von M. Foucault. In der »Archäologie des Wissens« (Ffm. 1981, S. 43ff.) wird darunter die Analyse der Ermöglichungsbedingungen, d.h. der Diskursregeln verstanden, unter denen eine Aussage getroffen wird. Wesentlich für ihr Auftauchen ist das Wirken von Mechanismen, die Foucault in der »Ordnung des Diskurses« (Ffm. 1974, S. 25 ff.) als »diskursive Polizei« beschreibt, und die sich aus den Regeln und Normen des Ausschlusses und der Aussageverknappung zusammensetzt. Diese sind abhängig von dem, was zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt als »das Wahre« formuliert wird, somit normierend und normalisierend zugleich wirkt, indem »das Falsche« ausgeschlossen wird. Es gibt nicht im epistemologischen Sinne »das Wahre« an sich, sondern dies ist vielmehr ein Hinweis auf die Wirkmächtigkeit eines Diskurses, die Stabilität und Dominanz eines Konsens’ und die Stärke einer Akteursposition, die an die (mediale) Öffentlichkeit gebunden ist.
x 2 x M. Rutz (Hg.): Aufbruch in die Bildungspolitik, Roman Herzogs Rede und 25 Antworten, München 1998. Die 25 Antworten stammen von 5 Antworterinnen und 19 Antwortern (plus einer Schulklasse), darunter 12 Professoren und 1 Professorin. Dieses Verhältnis spiegelt ziemlich realistisch den Anteil von Frauen an der bundesdeutschen ProfessorInnenschaft wider, nämlich ca. 8%.
x 3 x M. W. Apple: Wie Ideologie wirkt. In: Bildung, Gesellschaft, soziale Ungleichheit, hg. v. H. Sünker u.a., Ffm. 1994, S. 34 - 63, hier S. 39.
x 4 x Exemplarisch für den Differenzdiskurs der Neuen Rechten, die in ihrem Ethnopluralismuskonzept von einer Vervielfachung der »ethnischen Identitäten« ausgehen, hat dies Taguieff in seinem Buch »La force de Prejuge« untersucht. Während die Neue Linke nach der Erfahrung der kulturellen Entfremdung, in der Phase der Dekolonisation, die kulturelle Identität der »Völker der Dritten Welt«hervorkehrte, nutzte die Neue Rechte, sich auf Vordenker wie Alain de Benoist beziehend, diese Forderung nach »urprünglicher und differenter Identität« und drehte sie (in der Art eines »den Spieß umdrehen«) im Kontext der Diskussion um den Multikulturalismus kulturalistisch um. Es waren nun auch die reichen »Völker des Nordens«, die das historische »Recht auf eine eigene kulturelle Identität« haben sollten und im Rahmen zunehmender weltweiter Migration sich nun legitimerweise gegen »Überfremdung« wehren durften. Den Vorgang des begrifflichen »Spießumdrehens« nennt Taguieff »Retorsion«. Vgl. auch Taguieff: Die Metamorphosen des Rassismus und die Krise des Antirassismus. In: Uli Bielefeld (Hg.), Das Eigene und das Fremde, Hamburg 1992, S. 221–268.