diskus 1/98

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Über die Hierarchisierungs- und Ausgrenzungspolitik der Bahn AG und die Umgestaltung des Frankfurter Hauptbahnhofs

Bahn und Bahnhöfe vor zwanzig Jahren: Werbeslogans wie »Alles schläft, einer fährt« oder »Alle reden vom Wetter. Wir nicht.«; speckige Bahnhofsrestaurants und Erotik-Kinos in den Hauptbahnhöfen; große Begeisterung für die Modelleisenbahn im Glaskasten, die für 20 Pfennig ihre Runden drehte; ein einheitliches Preissystem; und war’s kein D-Zug, der von Ort zu Ort schneckte, war’s ein E-Zug; selbst in der Provinz muffige Eisenbahner hinterm Fahrkartenschalter; und die stete Sorge um den monotonen Alltag des Schrankenwärters: Wer mag schon alle fünf Minuten eine Kurbel drehen?

Die Modelleisenbahn am Frankfurter Bahnhof fährt noch; ansonsten hat sich die Bahn im letzten Jahrzehnt gravierend verändert. Nun endlich, als privatwirtschaftlich organisierte Bahn AG, sei man wieder in der Lage, »gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen«1. Daß dies die Etablierung sozialräumlicher Hierarchien bedeutet – darum soll es im folgenden gehen.

Bahn als AG
Präsentiert sich die Bahn AG heute, klingt das so: »Die Deutsche Bahn AG ist auf dem Weg, sich zu einem modernen Dienstleistungsunternehmen zu entwickeln. Unmittelbar damit verbunden ist die Positionierung der Deutschen Bahn als Marke mit hohem Identifikationspotential. (...) Die Aufgaben hierbei sind vielfältig, denn die `Bahn´muß eine Marke mit klaren Konturen werden, um sich im internationalen `Wettbewerb der Identitiäten´auch in Zukunft ausreichend profilieren zu können. (...) Am Anfang dieses Prozesses steht die Konzentration auf die Wünsche und Bedürfnisse der Kunden, die Entwicklung einer neuen Unternehmensidentität – sowohl nach außen in Form eines übergreifenden Corporate Design als auch nach innen im Bewußtsein unserer Mitarbeiter.«2 1992 wurde die staatliche Bundesbahn in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Der allgemein durchgesetzte Privatisierungswille erfaßte auch den Transportbereich und markierte das Ende einer dem Markt relativ entzogenen, durch Beamtenstruktur geprägten Dienstleistungsbehörde, wie sie für das fordistische »Modell Deutschland« typisch war. Die Bahn AG ist zu einem gewichtigen Akteur sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene geworden: Einerseits greift sie massiv in Stadtentwicklungen ein, andererseits strukturiert sie durch veränderte Verkehrspolitik den nationalen Raum neu.

Die nun privatwirtschaftlich ausgerichtete Bahn AG wurde durch politische Entscheidungen zu einem enorm kapitalkräftigen »Developer« aufgebaut: Ne-ben den der alten DB gehörenden Grundstücken wurden der AG auch bundeseigene Areale übereignet; von den Altschulden des traditionellen Staatsbetriebs allerdings wurde sie befreit – diese parken entgegen den Bestimmungen des Eisenbahnneuordnungsgesetzes bis heute bei der BEV (Bundeseisenbahnvermögen) und werden aller Voraussicht nach vom allgemeinen Steueraufkommen getilgt. Derart beschenkt betreibt die Bahn AG massiv den Verkauf und die Verwertung von Grundstücken und Immobilien als neuen zentralen Geschäftsbereich.

Bahn und nationaler Raum
Nun könnte man sich diesbezüglich über »miese Vetternwirtschaft« aufregen. Zu fragen ist aber, welche Planungsperspektiven hinter solchen Weichenstellungen bestehen. Es wäre sicher verkürzt, die Abkehr von der staatlichen Bahn nur als kostensenkende Modernisierung eines schwerfälligen Apparats zu sehen; trotz der immer wieder beklagten Behördenstruktur war auch die DB in der Lage, binnen 20 Jahren die Hälfte der Belegschaft wegzurationalisieren. Vielmehr verknüpft sich mit der Schaffung der Bahn AG eine verkehrspolitische Neukonzeption des nationalen Raums. In der Phase der Nachkriegszeit bis in die siebziger Jahre hinein orientierte sich Politik in Deutschland an einem Leitbild, das das nationale Territorium als Ganzes als entscheidende geographische Einheit ansah. Der gesamte nationalstaatliche Raum und prinzipiell alle Leute im Land wurden als funktionabel für die Verwertung und die internationale Konkurrenzfähigkeit Deutschlands angesehen. Ausgehend von der Ideologie stetigen ökonomischen Wachstums galten (infra-)strukturelle Ungleichheiten zwischen den Regionen als beseitigbar. Für die Bundesbahn hieß das, daß sie einem allgemeinen Versorgungsauftrag nachzukommen hatte, möglichst jede Region war an das Streckennetz anzuschließen.

Solche Konzeptionen sind tendenziell über Bord geworfen, Wirtschafts- und Verkehrspolitik konzentrieren sich auf die strategischen Fixpunkte der postfordistischen ökonomischen Geographie, also jene Zentren, die den Anforderungen eines international konkurrenzfähigen Standorts entsprechen. Das Streckennetz wird unter dem Kriterium der Rentabilität verschärft durchforstet und reduziert. Die Bahn AG steht für die Ausrichtung des Schienenverkehrs am Fern- und Schnellverkehr. Der bahnintern neugeschaffene »Geschäftsbereich Nahverkehr« ist eifrig dabei, Schienenstrecken des Regional- und Nahverkehrs an Länder und Gemeinden zu verkaufen, zu vermieten, zu verpachten oder, werfen sie nicht den erwünschten Gewinn ab, stillzulegen. Die Deutsche Bahn privilegiert die Verbindung zwischen wenigen Metropolen und »Wachstumsinseln« durch Hochgeschwindigkeitstrassen. Die Landschaften entlang oder gar abseits dieser Korridore werden nicht als sozialer, ökonomisch einzubindender Raum, sondern als möglichst rasch zu überbrückende Fläche wahrgenommen.

Die Highspeed-Korridore zwischen wenigen Zentralen des ökonomischen Raums bedienen in erster Linie die Transportbedürfnisse einer flexibilisierten Ökonomie: diese zeichnet sich durch gesteigerte Mobilität des internationalen Kapitals aus. Nicht unabhängig vom Raum, sind international operierende Konzerne und Unternehmen flexibler geworden, sich jeweils dort anzusiedeln, wo optimale (infrastrukturelle) Bedingungen gegeben scheinen. Gleichzeitig weisen immer mehr Unternehmen eine stark zergliederte Organisation auf, d.h. daß bestimmte Einheiten eines Unternehmens – Planung, Forschung, Produktion, etc. – je nach örtlichen Standortbedingungen an räumlich voneinander entfernten Stätten plaziert werden. In Frankfurt sind beispielsweise oft nur die Entscheidungsebenen großer Konzerne angesiedelt. Hochge-schwindigkeitszüge sind nötig, um Manager und andere gehobene Dienstleisterinnen in möglichst kurzer Zeit durch einen derart dezentralisierten ökonomischen Raum zu bewegen. Angesichts der zunehmenden Verflüssigung eines proportionalen Verhältnisses zwischen räumlicher und zeitlicher Distanz können auch Wohn- und Arbeitsort in gesteigertem Maße auseinandertreten; auf daß der Dienstleister täglich zwischen Heidelberg und Frankfurt pendeln kann!

Mittlerweile weit davon entfernt, sich an der Gewährleistung einer flächendeckenden Versorgung zu orientieren, bildet die Schienenpolitik der Bahn AG durch die einseitige Ausrichtung auf das Hochgeschwindigkeitsnetz eine stärker hierarchisierte, nach Marktfähigkeit geordnete Raumstruktur aus.3

Frankfurt und Bahnhof 21
Angesichts dessen rivalisieren Städte und Regionen verschärft um die Anbindung an die internationalen Verkehrswege. In Frankfurt hat der Hauptbahnhof herausragende infrastrukturelle Bedeutung: einerseits durch den enorm hohen Anteil von PendlerInnen in der städtischen Ökonomie, andererseits durch die stark überegional, bzw. international ausgerichtete Wirtschaftsstruktur (z.B. als Messestadt). Im Zuge des konsequenten Ausbau Frankfurts zur internationalen Dienstleistungsmetropole hat sich die Bedeutung eines flotten »Umschlagplatzes von Menschen, Informationen und Wissen« zusätzlich erhöht.

In Frankfurt wird derzeit, wie in einigen anderen Großstädten auch, um die Durchsetzung des gigantischen Projekts Bahnhof 21 gestritten. Dabei ist vorgesehen, die Stadt in Ost-West-Richtung zu untertunneln und den bisherigen Kopfbahnhof in einen Durchgangsbahnhof zu verwandeln. Der Bahnhofsinnenbereich soll architektonisch völlig neu konstruiert werden. Unter einer gewaltigen Glasdachkonstruktion halten die Züge in 22 Meter Tiefe. Die Attraktivität von Frankfurt 21 liegt für die Bahn AG zentral darin, daß weiträumig Gleisflächen im Innenstadtbereich ihre Funktion verlieren. Ein riesiges Areal ließe sich in profitabel zu vermarktende Grundstücke umwandeln.4 Müßig sich darüber zu wundern, daß mit der Errichtung eines ganz neuen Stadtviertels auf dem Gelände von Frankfurt 21 der weitere Ausbau des Dienstleistungsbereichs anvisiert ist; Leerstand hin oder her sind neue Bürotürme geplant, hinzu kommen exklusive Konsummöglichkeiten und – man ist ja global – ein Central Park.5 Aber zurück aus der Zukunft.

Unabhängig davon, ob Frankfurt 21 realisiert werden wird, wird der Hauptbahnhof seit einigen Jahren in einen »Bahnhof der Zukunft« umgestaltet. Was die Bahn AG hierunter versteht, machte die 1992 durchgeführte Aktion »BAVIS« (»Bahnhof als Visitenkarte«) unmißverständlich klar. Unter den Schlagworten »hell – sicher – sauber« vertrieb eine Allianz aus Bundesgrenzschutz, Polizei, städtischem Ordnungsamt und privat angeheuerten Sicherheitsdiensten alle als unerwünscht deklarierten Personen aus dem Bahnhofsgelände. Neu installierte Eisengitter an den Treppen hinunter zur B-Ebene markieren die Weigerung, Obdachlosen einen Unterschlupf zu belassen. Eine »Sicherheitskanzel« in der B-Ebene, enorme Präsenz von Sicherheitsdienstlern und die kontinuierliche Verschärfungen des Hausrechts sind Elemente des bis heute andauernden Programms, marginalisierten Gruppen den Bahnhof als Treffpunkt, Aufenthalts- und Geschäftsort streitig zu machen.

Nun machen die Leute, die als »Belästigende« ausgegrenzt werden, nichts anderes als Dosenbier trinken, nach Kleingeld fragen, auf einen Freier warten oder etwas zum Verkauf anbieten. Im sattsam bekannten »Innere-Sicherheit-Diskurs« sind aus solchen Handlungen längst »Störungen«, »abweichendes Verhalten« oder »Gefahren« und aus Individuen »gefährliche Gruppen« gemacht worden. Zeigten Armutsphänomene einst eine »soziale Krise« an, die integrative Maßnahmen legitimierte, so sind sie inzwischen in Ärgernisse für die Mehrheitsgesellschaft umgedeutet worden, so daß man sich der »Verursacher«, notfalls gewaltsam, entledigt. Die Bahn schließt an solche ideologische Zuschreibungen an und inszeniert, immer unter Berufung auf ein »subjektiv gestörtes Sicherheitsempfinden« des Normalbürgers, publicity-wirksam einen Kampf gegen solchermaßen Stigmatisierte.

Gleichzeitig werkelt sie an der Konstruktion der Feindbilder kräftig mit. Wirft frau einen Blick in den Ausstellungskatalog »Renaissance der Bahnhöfe«, findet sie einen geballten Delegitimierungsdiskurs, der die Schuldigen für den »Abstieg« der Bahnhöfe – von »ehemals pulsierenden Herzen der Städte« zu »wahren Pestbeulen« – unmißverständlich identifiziert: »Soziale Außenseiter«, die »Drogenszene« und das »Rotlichtmilieu« hätten ein »Arme-Leute-Image« produziert. Eingeordnet wird dies als »Kulturverfall«; soziale Deklassierung – ein »Qualitätsverlust«.

Die Entwicklungen an den Bahnhöfen lassen sich als Entwurf eines neuen Typus städtischen und öffentlichen Lebens deuten, für den hoher Moral- bzw. Konformitätsstandard, Raumkontrolle, Profitorientierung und sozialer Ausschluß konstitutiv sind. Die Profitabilität des »Unternehmens Bahn« soll dabei durch die sich gegenseitig unterstützenden Repräsentationsmodelle Bahnhof und Bahnfahren gesichert werden. Hinter dem anfänglich zitierten Identifikationsgerede steht die Vorstellung, daß, wer Zug fährt, auch in den neuen »Kathedralen des Wohlbefindens« Bahnhof konsumiert, und wer sich am neuen Bahnhof begeistert, zukünftig häufiger das Auto stehen läßt. Während einerseits für die Attraktivität des Reisens mit dem Zug geworben wird, wird andererseits an der Konstruktion eines »Erlebnisraums« Bahnhof, der »zum verweilen einlädt«, gebastelt; schluß mit dem funktionalen Bahnhof, an dem man halt mit dem Zug ankommt und allenfalls Sonntags mal Brötchen kauft. Der aufgepeppte Bahnhof soll zum repräsentationsträchtigen städtischen Ort werden und insofern geradezu als »Stadtentwicklungskatalysator« wirken: Bahnhofsglamour als Signal des bereitwilligen Aufbruchs der Städte in die Ära der Konkurrenz zwischen Städten und Regionen.

Nur soll nicht jede(r) in den Bahnhöfen verweilen. Die neue Bahnhofspolitik basiert auf der rigorosen Trennung in Kunde und Nicht-Kunde. Durch die verstärkte Zurichtung auf Warenkonsum und (gehobene) Dienstleistungsfunktion wird der Bahnhof konzeptionell von einem einst öffentlichen Raum in einen reinen Kundenraum umgewertet. Legitimerweise hält sich hier nur noch auf, wer zahlungskräftig genug ist, Zug zu fahren oder die vorgesehenen Waren oder Dienstleistungen zu kaufen. Zynischerweise wird die Bahnpolitik als »Reclaim the Station-Programm« der Mittel- und Oberschicht verhandelt. Wo nur noch »niedriges Sozialmillieu« war, soll wieder »Öffentlichkeit« werden – explizit: »attraktive Öffentlichkeit«.

Dieses Konzept kollidiert allerdings mit dem Umstand, daß Transport nach wie vor als »öffentliche Dienstleistung« festgeschrieben ist, Bahnhöfe – trotz aller Unternehmensprivatisierung – also keine Privat-räume sind.6 Ausgrenzung findet am Bahnhof demnach unter anderen Bedingungen als beispielsweise in Kaufhäusern statt. Unter der ideologischen Leitformel »3-S-System« (Service, Sauberkeit, Sicherheit) werden die Offensiven in Sachen »Kundenpolitik« gebündelt:

Sauberkeit
Es läßt sich heutzutage kaum vermeiden, mit den neuen Ordnungs-und Sauberkeitsvorstellungen der Bahn AG konfrontiert zu werden – seien es Werbespots über die Moral von »Was Sie zu Hause nicht tun, ...«, seien es die Botschaften auf Plakaten, die die auf den Boden geworfene Kippe zur Unsittlichkeit erheben. Die Bahn AG hat sich zu einem gesellschaftlichen Moralapostel allerersten Ranges aufgeschwungen. In einer schmutzigen Welt werden die Bahnhöfe als neue Archipele der Wohlanständigkeit präsentiert; ja die Bahn, die tut was. Noch entscheidender ist der Subtext, der auf der erfolgreich festgezurrten symbolischen Verkettung von Schmutz mit Verwahrlosung und Kriminalität basiert: wenn der Fußboden schon frei von Zigaretten ist, dann ist mit Obdachlosen, Junkies oder Ganoven sicher nicht zu rechnen, so die anvisierte Assoziation.

Sicherheit
Zur Durchsetzung der normativen Vorstellungen wird der Bahnhof mit einem immer dichteren Kontroll- und Überwachungsnetz ausgerüstet. Wesentlicher Teil des 3S-Systems ist die Installierung von stationären Videoüberwachungszentralen. Bis Ende ‘99 sollen solche 3S-Zentralen in 40 Bahnhöfen eingerichtet sein. In Frankfurt werden von dort aus mit High-Tech-Kameras nicht nur sämtliche Winkel des Hauptbahnhofs, sondern auch andere städtische Bahnhöhe und S-Bahnsteige kontrolliert. Direkte Standleitungen verbinden die Monitorzentrale der neu geschaffene BahnSchutz GmbH (BSG) mit den Büros des Bundesgrenzschutz und des LKA/BKA, um die Zusammenarbeit der verschiedenen Ordnungsinstanzen, neben allem Kompetenzgerangel und juristischen Grauzonen, zu optimieren. Seit’ an Seit’ mit der Bahn nutzt auch der staatliche Kontroll- und Zugriffapparat den Bahnhof verstärkt, um seiner rassistischen Routine nachzugehen.7 Ein umfassender Kontrollapparat mit jederzeit mobilisierbaren Eingreiftrupps, zur Hatz auf die üblichen Verdächtigen, ist realisiert.

Soweit die »klassische« Aufgabe von Überwachung: sichtbar machen, Zugriff ermöglichen, abschrecken. Im Bahnhofskonzept wird die sehende Kamera in ihrer Funktion jedoch ergänzt durch die Kamera, die repräsentiert.

In Kaufhäusern – sozusagen als klassische Variante – stellt die Überwachung prinzipiell alle KundInnen unter den Generalverdacht, ihre Konsumwünsche nicht über den Umweg Geld befriedigen zu wollen; die Botschaft der Kamera lautet: Wagen Sie es nicht, Sie werden überwacht! Im Gegensatz dazu wirken die Kameras im Bahnhof an der Trennung in »erwünschte und unerwünschte« Personen mit. Ersteren wird mitgeteilt: Schätzen Sie sich glücklich, Sie werden überwacht! Überwachung als Drohung für die einen, als Versprechen für die anderen. Offensiv präsentiert die Bahn den Kontrollapparat als akzeptierten und gewünschten Kundenservice. Werbeplakate teilen mit, daß »24 Stunden alles im Blick« ist. Auf der Videoleinwand im Hauptbahnhof werden mit Kriegs- und Polizeimetaphern gespickte Werbefilme gezeigt, in denen von der Monitorzentrale aus Putztrupps ins Gefecht geschickt und Eingreiftrupps in den Kampf gegen Graffiti-Sprayer und Dealer gejagt werden. Eine Allianz zwischen Überwachern und bereitwilligen Überwachten scheint hier ebenso wie an anderen gesellschaftlichen Orten weitgehend hergestellt. Überwachung verkauft sich mittlerweile prima als Serviceleistung: Sicherheitspolitik wird zur Marketingstrategie.

Die Zahl der Platzverweise und Ortsverbote, die am Bahnhof ausgesprochen und teilweise handgreiflich durchgesetzt werden, ist vor einigen Jahren explodiert und seitdem konstant hoch.8 Trotz aller Schikanen ist die Reichweite solcher Maßnahmen begrenzt. Stricher erzählen, daß sie durchaus ihren Umgang mit den Vertreibungsaktionen gefunden haben: Fliegt man durch die Südseite raus, kommt man durch die Nordseite wieder rein. Viel gravierender wirkt sich für sie die Videoüberwachung aus, angesichts derer Freier ihre Geschäfte lieber anderswo aushandeln. Raumkontrolle und -gestaltung werden von der Bahn AG als effektive Mittel des sozialen Ausschlusses eingesetzt. In Frankfurt wird versucht, den gesamten Bahnhofsinnenraum so durchzustylen, daß als unerwünscht definierte Nutzungsweisen erschwert bzw. verunmöglicht werden. Der Zugang zu den öffentlichen Toiletten wurde mit Drehkreuzen versehen, die nur passieren darf, wer 50 Pfennig zahlt. Geplant ist, die Schließfachanlage so umzubauen, daß es keine uneinsehbaren Gänge und Ecken mehr gibt. Pommes-Büdchen und das traditionelle Bahnhofsrestaurant sind verschwunden, gesteigerte Mietpreise treiben die Preise bei den Einzelhändlern in die Höhe, gehobener Bistro-Chic ist Minimum. Ausschluß funktioniert hier schon übers nötige Kleingeld.

Die Ausgrenzungsbemühungen der Bahn lassen sich (noch) nicht bruchlos realisieren. Auch heute noch wird man mal nach ‘ner Mark gefragt und die ganz typischen BahnCard-Kunden sind diejenigen, die sich bei Fußballspielen um zehn Uhr abends vor der Videoleinwand einfinden, dann auch nicht. Das muß für die Bahn nicht mal ein Widerspruch sein, solange die gewünschten KundInnen sich wohlumsorgt fühlen.

Service
Hoch im Kurs steht das Prinzip »Kundennähe«. Neben baulichen und technischen Maßnahmen – schicke Kartenschalter, »ServicePoints«, »Klangteppich« etc. – und neuen Anbietern wie Autovermietungen wird dazu vor allen Dingen ein ganzes Heer an Bediensteten aufgefahren. 2/3 der Angestellten arbeiten mittlerweile im Bereich Reinigung – Sicherheit – individuelle Kundenbetreuung. Die BSGlerInnen sollen in ihrer Allgegenwart als »beschützender Kundendienst« fungieren. Gescheut wird sich auch nicht vor dem Gepäckträger in Uniform, womit im modernen Dienstleistungsgewand an Glanz und Gloria bürgerlicher Zeiten angeknüpft werden soll; ja, schuftende Bedienstete werden gern gesehen. Der neu eröffnete »Markt im Bahnhof« bedient ganz im Stil von »Erlebnisgastronomie« die multikulturellen Feinschmeckerphantasien der Mittelschicht. Und immer wieder Service, Service, Service; in der »Connection Bar« wird der Cocktail durch kostenlose Computerspielplätze ergänzt.

Räumliche Hierarchisierung
Die »kulturellen Aufwertungen« zielen vorrangig auf die Kaufkraft der Mittelschichten. Die Bahn schafft aber auch innerhalb der Gruppe der KundInnen hierarchische Abstufungen und weist klassifizierte Räume zu. Neben dem Versuch, in unmittelbarer Bahnhofsnähe aufgewertete Stadtquartiere zu schaffen – wofür die Stadtpolitik bezüglich des Bahnhofsviertels ein Beispiel ist, die Pläne zu Frankfurt 21 ein anderes –, werden im Bahnhof für die neuen Dienstleisterinnen und Geschäftler Laptop-Arbeitsplätze, Konferenzräume und exklusive Konsummöglichkeiten bereitgestellt. Diese Örtlichkeiten befinden sich fernab des Massenverkehrs. Ähnlich dem Flughafen-Konzept, wo VIP-Räume und Economy-Class-Angebote den physischen Kontakt unterschiedlicher KundInnen-Klassen minimieren, werden auch auch in den Bahnhöfen soziale Klassen räumlich separiert versorgt. Offenkundig wird dies an der DB-Lounge: relativ unzugänglich gelegen darf diese ohnehin nur betreten, wer sich als Bahnkunde ausweisen kann; für die nächste Stufe, die FirstClassLounge, benötigt man, sollte man nicht bereit sein 10.– DM Eintritt zu zahlen, schon ein 1.-Klasse-Ticket; hier läßt sich, endlich exklusiv, in abgeschiedener Lage in Ruheräumen ausspannen und herrlich übers Geschäft plaudern.

Feldforschung hat ergeben: eine Tasse Espresso kostet in der B-Ebene 2.70 DM, im Erdgeschoß 3.25 DM und in der DB-Lounge im 1.Stock 3.80 DM. Zunehmend gliedert sich der Bahnhofsraum in sozial-räumlich hierarchisierte Zonen: in der B-Ebene, zu Zeiten ihrer Eröffnung als der Typus öffentlicher Orte gefeiert, konsumieren eher sozial deklassierte Schichten. Abgesehen von den Videokameras wurde hier – im Gegensatz zum übrigen Bahnhof – kaum mehr investiert; auf der Gleisebene zeigen sich die Mittelschichten begeistert vom Gefühl, allumfassend umsorgt und gesichert zu werden; im ersten Stock konferieren A-Klasse-KundInnen in exklusiven Räumen.

Renaissance der Bahnhöfe – das bedeutet auch die Renaissance räumlich (re-)produzierter Klassenverhältnisse.

Christian Sälzer


x 1 x Ex-Bahn AG-Vorsitzender Dürr; alle nicht näher gekennzeichneten Zitate sind dem Katalog »Renaissance der Bahnhöfe«, Berlin 1997, entnommen.
x 2 x aus »Die Marke Bahnhof«, DB, Ffm., S. 3
x 3 x Hierarchisierung auch auf anderer Ebene: Durch ausdifferenzierte Zug- und Preisangebote ist die Geschwindigkeit des Reisens in Proportion zur Dicke des Geldbeutels gesetzt. Wer es sich leisten kann, huscht flugs mit dem ICE durchs ganze Land, während weniger Zahlungskräftige mit Billigangeboten (z.B. Wochenend-Ticket) von Ort zu Ort trödeln können.
x 4 x Siehe auch den Artikel »Spaß muß sein«;
x 5 x Für nähere kritische Information zu Frankfurt 21 siehe Bernhard Albert: Bahnhof 21, http://www.frankfurt.org/inis/WobiG.html
x 6 x Für die Hausverbotspolitik bedeutet das beispielsweise, daß auch die »Verwiesenen« prinzipiell das Recht haben, den Bahnhofsraum zu passieren, um zu einem Zug zu gelangen.
x 7 x Presseinformation der »Ständigen Konferenz« der Innenminister der Länder vom 2. 2. 1998: »Die illegale Zuwanderung und der illegale Aufenthalt von Ausländern müssen schon wegen des damit vielfach verbundenen Imports von Kriminalität, aber auch wegen der begrenzten Aufnahmekapazität Deutschlands und zur Erhaltung des sozialen Friedens mit allem Nachdruck unterbunden werden. (...) Der Bundesinnenminister strebt im Rahmen einer Gesetzesnovellierung an, die Befugnisse des Bundesgrenzschutzes zur Vornahme solcher Kontrollen (»verdachts- und ereignisunabhängige Identitätskontrollen«) über den Grenzbereich hinaus auf Flughäfen, Bahnhöfe, Bahnanlagen und (...) auf Züge auszudehnen...«
x 8 x Allein im Berliner Bahnhof Zoo lag im letzten Winter die Zahl bei knapp 200 Verweisen pro Tag.