Heft 1/99

"Nie wieder Krieg!" (1948)
"Nie wieder Srebrenica?" (1995)

Das Zustandekommen eines massenhaften Widerstandes gegen den Angriffskrieg der BRD und der NATO wird sich nicht am Punkt der immer wieder zitierten Verletzung des Völker- und Grundrechtes entscheiden. Von zentraler Bedeutung wird sein, wie wir zu dem Stellung beziehen, was im ehemaligen Jugoslawien passiert, was – je nach Kalkül oder Überzeu-gung – als »humanitäre Katastrophe«, »ethnische Säuberung« oder »Völkermord« bezeichnet wird. Die moralische Legitimation für diesen Krieg ist das Verhindern eines Staats-Verbrechens, dem man – so die KriegsbefürworterInnen – nicht mit dem Gesetzbuch unter dem Arm, sondern nur noch mit der Waffe in der Hand entgegentreten kann.

Was bewegt diese Kriegs-Regierung, den Nationalismus und großserbischen Chauvinismus der jugoslavischen Regierung zu geißeln, während sie für sich selbst ganz selbstverständlich einen »normalen« Nationalismus reklamiert?


Was hat der ganz »normale« deutsche Nationalismus mit dem Krieg gegen Jugoslawien zu tun?

Aufgrund der militärischen Niederlage des Nationalsozialismus wurde Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Die unterschiedlichen Interessen der alliierten Siegermächte führten dazu, daß Deutschland geteilt wurde: Aus den drei Besatzungszonen der kapitalistischen Siegermächte wurde die BRD, aus der sowjetischen Besatzungszone entstand die Deutsche Demokratische Republik (DDR).

Nach dem Ende des 1. Weltkrieges wurde das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen gegründet. Kosovo wurde Serbien zugeschlagen. Nach dem deutsch-italienischen Einmarsch auf dem Balkan schenkte Nazi-Deutschland Albanien den Kosovo. Nach dem Ende des »1000-jährigen Reiches« wurden die faschistischen Gebietsaufteilungen wieder rückgängig gemacht. 1946 wurde völkerrechtlich verbindlich Jugoslawien, bestehend aus sechs Republiken (Serbien, Kroatien, Slovenien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Mazedonien) anerkannt – wobei zu Serbien die autonomen Provinzen Kosovo und Vojvodina gehörten.

Das Faktum der Teilung, das Faktum zweier unabhängiger Staaten, wurde in der BRD nie anerkannt. Die BRD hielt sich, sowohl verfassungsmäßig, als auch politisch die Wiedervereinigung vor – selbstverständlich mit friedlichen Mitteln. Jeder DDR-Bürger hatte gleichzeitig die Staatszugehörigkeit zur BRD und konnte bei Flucht in den Westen darauf Anspruch erheben. Unterhalb direkter militärischer Interventionen ließ die BRD nichts aus, die DDR ideologisch, politisch und wirtschaftlich zu destabilisieren. Nach dem Zusammenbruch des Ostblockes war die Zeit gekommen, die Wiedervereinigung Deutschlands mit aller Macht zu verwirklichen.

Aus der Opposition zur herrschenden SED-Regierung (»Wir sind das Volk«), wurde eine deutsch-nationale Massenbewegung (»Wir sind ein Volk«). Diese Transformation einer sozialen und gesellschaftlichen Oppostion gegen das herrschende SED-Regime in eine deutschnationale Massenbewegung wäre ohne die operative, finanzielle, und ideolgische Unterstützung der im Bundestag vertretenen Parteien, von CSU bis hin zur SPD, so nicht möglich gewesen. Ein bis dahin nie (mehr) für möglich gehaltener Rassismus und Antisemtismus wurde in der Folge zum »normalen« Alltag dieses wiedervereinigten Deutschlands. Mit einer parteiübergreifenden 2/3-Mehrheit wurde schließlich 1993 das Asylrecht abgeschafft und in fiktive »sichere Drittländer« exportiert. Die noch hier verbliebenen Flüchtlinge wurden mittels administrativer Maßnahmen (wie z.B. die Verschärfung des Asyl-bewerberleistungsgesetzes) zu Menschen minderen Wertes markiert, in den sicheren Tod ausgewiesen (z.B. durch Ausweisungen in die Türkei) oder von Neonazis durch die Straßen gejagt und zusammengeschlagen. In vielen deutschen Städten und Gemeinden existieren braune »befreite Zonen« – von der Polizei unbehelligt, von den politisch Verantwortlichen heruntergeredet, von Teilen der Bevölkerung begrüßt. Um die Grenzziehungen nach dem 2. Weltkrieg zu annulieren, bedurfte es im Fall der DDR keiner Panzer, keiner Soldaten, keiner Sonderpolizei.

Weder die realen Opfer der deutschen Wiedervereinigung, noch die Opfer im Zuge des wiederentdeckten ganz normalen deutschen Nationalismus machen die Opfer der jugoslawischen Regierung kleiner oder erträglicher. Was sich auf dem Balkan ereignet, ist ein erschreckendes Beispiel dafür, was passiert, wenn gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen ethnifiziert werden, wenn Volkszugehörigkeit zum zentralen Element einer Politik wird, hinter der politische und gesellschaftliche Gegensätze verschwinden sollen bzw. zum verschwinden gebracht werden.1 Es sind die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Interessen, die darin zum Tragen kommen, die dem jeweiligen Nationalismus ein äußerlich blutiges oder unblutiges Ansehen verschaffen. Das allgmeine Recht auf eine ›nationale Identität‹, auf einen ›legitimen‹ Nationalismus bestreiten am allerwenigsten diejenigen, die in Jugoslawien – vordergründig – einem nationalistischen Chauvinismus den Krieg erklären.

Die nach dem Tod Titos (1980) begonnene und gezielt betriebene Ethnifizierung Jugoslawiens war weder unvermeidlich, noch zwangsläufig. Es war und ist ein mörderisches Zusammenspiel: Auf der einen Seite machtpolitische Eliten in den verschiedenen Republiken Jugoslawiens, die sich von einer Abspaltung einen klaren Gewinn versprachen. Auf der anderen Seite eine Vielzahl europäischer Staaten, die an der Zerschlagung Jugoslawiens ein massives politisches und wirtschaftliches Interesse hatten. Und diejenigen, die sich für ein anderes Jugoslawien einsetzten, das weder irgendwelche Volksmythen, noch irgendwelche Versprechungen besagter neuer Weltordnung bemühte, wurden in dem Konflikt zwischen den nationalistischen Projekten aufgerieben. Die jeweiligen nationalen Eliten, die einen eigenen Staat begründen mußten, wußten sehr wohl um ihre Schwierigkeiten. Das eine ›Volk‹ gab und gibt es in keinem Staat auf dieser Erde. Es existiert nur in Mythen und Volkslegenden. Die Realität eines jeden Staats-Volkes mußte erst blutig hergestellt werden. Nicht nur in Kroatien, Bosnien-Herzegovina oder im Kosovo.


Die Maskenbildner des Krieges2

Seitdem die NATO Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien führt, wird immer wieder die Legende verbreitet, die USA und Europa hätten lange genug, zu lange zugeschaut, dem mörderischen Treiben chauvinistischer Großmachtpolitik nichts entgegengesetzt. Tatsächlich haben die USA und verschiedene europäische Staaten seit über 15 Jahren in aller Stille die ökonomischen Voraussetzungen für die anschließende staatliche Zerstückelung Jugoslawiens (mit-)geschaffen. So forderte die US-Geheimdirektive von 1984 (NSDD 133) klar und eindeutig, das Entfachen von »stillen Revolutionen«3. Was darunter zu verstehen ist, gilt heute – in Jugoslawien wohlbemerkt – als militärischer Interventionsgrund. Bis zum Tod Titos war Jugoslawien ein Schanier zwischen dem kommunistischen Ostblock und dem kapitalistischen Westen. Eine Mischung aus Privat- und Kollektivwirtschaft, kapitalistischen Zugeständnissen und sozialistischen Errungenschaften. Dieses Wirtschaftssystem befand sich jedoch bereits in den 70er Jahren in der Krise und in wirtschaftlicher Abhängigkeit vom Westen. Nach Titos Tod öffnete die jugoslawische Regierung europäischen Kreditgebern und Investoren endgültig Tür und Tor. Die Folgen dieser Politik, die Folgen dieser strukturellen Anpassungsprogramme an den kapitalistischen Weltmarkt waren und sind verheerend: Das Wirtschaftswachstum fiel von durchschnittlich +6,1 % jährlich, bis es 1990 bei -0,6 % angelangte.4 Hunderte Fabriken wurden in den Konkurs geschickt, zehntausende ArbeiterInnen entlassen. Die Strukturreformen hatten erklärtermaßen die Abschaffung der vergesellschafteten Betriebe zum Ziel. An die Kredite waren gleichfalls die Bedingungen geknüpft, das Sozialsystem abzubauen. Die neuen und alten, zum größten Teil kommunistischen Machteliten in Jugoslawien verdienten daran. Die gezielte Verschlechterung der Lebensbedingungen schürte die Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Schuldige waren – bislang in die Stabilisierung der jugoslawischen Föderation eingebundenen, oder unterdrückten – nationalistischen Stereotypen folgend rasch gefunden.1 Die Erdrutschsiege rechter und nationalistischer Parteien sind Ausdruck davon. Die »stillen Revolutionen« nahmen konkrete Gestalt an. Dieselben Staaten, die die Kredite vergaben und die daran geknüpften Bedingungen diktierten, waren auch daran beteiligt, die blutige Ernte dieser Wirtschaftspolitk einzutreiben. Europäische Staaten, die sich in der Zerschlagung separatistischer Bestrebungen und Bewegungen (England/IRA, Spanien/ETA, Frankreich/korsische Nationalbewegungen, Türkei/PKK) im eigenen Land völlig einig sind – und dabei demokratische bzw. rechtsstaatliche Prinzipien ohne Probleme außer Kraft setzten und setzen, trugen mit dazu bei, den nationalistischen Parteien den Weg zur Macht zu ebenen.

Die Zerschlagung Jugoslawiens wäre ohne den bedeutenden Beitrag Deutschlands nicht zustande gekommen. Deutschland hat am 23.12.1991 als erster westeuropäischer Staat Kroatien als unabhängigen Staat anerkannt und massiv daran mitgewirkt, daß andere europäische Staaten diesem Schritt folgten. »In nur einem Tag wurden aus der kroatischen Krajina 200000 Serben vertrieben, übrigens mit politischer, militärischer und propagandistischer Hilfe der USA.«5

Der Forderung »NATO raus aus Jugoslawien« halten rot-grüne KriegsbefürworterInnen »Nie wieder Srebrenica« entgegen. Sie übersehen dabei zweierlei. Zum einen die damalige Rolle des Westens, der NATO: »Als sich der französische Kommandeur der UN-Truppen für Exjugoslawien (UNPROFOR), General Bernard Janvier, mehrmals weigerte, NATO-Luftstreitkräfte zur Verteidigung der UNO-Schutzzone Srebrenica gegen serbische Angriffe anzufordern, handelte er auf direkte Anweisung von Präsident Jacques Chirac.« schreibt der Sprecher der BAG Frieden bei Bündnis 90/Die Grünen, Uli Cremer 1998 und fährt fort: »Vermutlich hätte ein Anruf in Belgrad genügt, um die Massenmorde von Srebrenica zu verhindern.«6 Das Massaker in Srebrenica geschah unter den wachsamen Augen des Westens, der an einer »Frontbegradigung« so Cremer, interessiert war, um die Aufspaltung Jugoslawiens voranzutreiben. Und an die Massaker, die am gleichen Ort zuvor an serbischen Menschen verübt worden waren, erinnert nur noch die SPD-Bundestagsabgeordnete Christine Lambrecht, anläßlich des Ostermarsches in Frankfurt am 5.4.99 – Außenminister Joschka Fischer, damals ebenfalls Mitglied einer deutschen Delegation in Srebrenica, weiß davon heute nichts mehr.


Die humanitäre Katastrophe – oder Wenn Brandstifter einen Brand löschen

Als AntimperialistIn erübrigt es sich, Deutschland zur Einhaltung von Verfassungsrechten bewegen. Die Forderung an diesen Staat, seine eigenen Gesetze und internationale Rechtsgarantien einzuhalten, nährt nur die Illusion an einen Staat, der diese einzuhalten gewillt ist. Die Geschichte Nachkriegsdeutschlands ist voll von Grundrechts- und Menschenrechtsverletzungen bis hin zur faktischen Aufhebung. Der Kriegseintritt Deutschlands hat am allerwenigsten damit zu tun, eine »humanitäre Katasthrophe« zu verhindern. Um diese und andere humanitäre Katastrophen zu verhindern, braucht es am allerwenigsten eine NATO, sondern eine andere Weltwirtschaftsordnung, in der millionenfacher Hungertod und Verelendung nicht länger Basis unermeßlichen Reichtums in den Händen weniger ist.

Wir wissen nicht, wann man von einem »Völkermord« reden kann oder soll. Der Versuch, auch innerhalb der Linken, Fakten für einen Völkermord zu sammeln oder Gründe dagegenzuhalten, die für einen ganz »normalen« Krieg sprechen, wird dem tatsächlichen Leid vom Krieg betroffener Menschen nicht gerecht. Sicher ist, daß kein Krieg, von Vietnam bis Kurdistan, an dem sich NATO-Mitgliedstaaten beteiligten, die Zivilbevölkerung verschont hat.

Doch auch wenn es in vielen Ländern dieser Erde nicht viel anders aussieht als im Kosovo, selbst wenn wir davon keine tagtäglichen Bilder bekommen, bleibt die Frage, wie dieser Krieg, dem ZivilistInnen zum Opfer fallen, gestoppt werden kann.

Die Opposition gegen Nationalismus und Rassismus hier in Deutschland ist mehr als gering und bedeutungslos. Es gibt keine machtvolle Opposition in den verschiedenen Balkan-Staaten, die dem nationalistischen Wahn, unter welcher Fahne auch immer, politische und gesellschaftliche Vorstellungen entgegenhalten könnte.

Die Bewegung gegen den Krieg der USA in Vietnam hatte ein klares Ziel: USA raus aus Vietnam. Damit war der Krieg dort auch tatsächlich beendet. Mit der Parole: »NATO raus aus Jugoslawien« würde hingegen der Krieg dort, im inneren, aller Wahrscheinlichkeit weitergehen. Über diesen Unterschied hinwegzugehen, wäre töricht. Genau so wichtig ist der Umstand, daß wir in diesem Krieg zwar gegen die NATO sein können, aber kein – für uns erkannbares – Gegenüber haben, mit dem wir uns solidarisieren können. Es existiert – scheinbar – keine gesellschaftliche oder politische Alternative, weder zur NATO, noch zum Krieg zwischen der UCK und der jugoslawischen Armee.


Ist der NATO-Angriff auf Restjugoslawien tatsächlich das ›kleinere Übel‹? – Eigentliche Kriegs-Ziele

Die Frage: Was können ›wir‹ tun, um eine Politik der ethnischen Säuberung zu verhindern, ist heuchlerisch, wenn sie von jenen kommt, die hier jeden antinationalistischen Widerstand, jede antinationale Politik verfolgen. Warum wird jetzt gefragt und nicht anläßlich brennender Flüchlingswohnheime? Die von den KriegsbefürworterInnen aufgestellte Alternative – zuschauen oder eingreifen – stellt die realen Verhältnisse nicht nur auf den Kopf, sie ist schamlos. Wenn deutsche Staatspolitik (bestenfalls) zugeschaut hat, dann hier, als rassistische Pogrome und Angriffe Alltag wurden. Ganz im Gegensatz, wie gezeigt, zur deutschen Balkan-Politik. Ganz real ist mit diesem NATO-Angriff das eingetreten, was die NATO zu verhindern vorgab. Der Flüchtlingsstrom schwillt ins unermeßliche an. Grund zu fliehen haben nun viele: Nicht nur Kosovo-AlbanerInnen, sondern auch Men-schen aus Restjugoslawien und all jene, die im Kosovo die UCK zu fürchten haben. Die Nachbarstaaten sind gänzlich überfordert und die NATO-Mitgliedsstaaten haben vor nichts mehr Angst, als diese Menschen aufzunehmen. Man stelle sich nur vor, Mazedonien, Albanien und Montenegro würden nur an-nähernd so reagieren, wie Deutschland! Unter den aufmerksa-men Augen der internationalen Presse verhungern Flüchtlinge, sterben an Unterernährung, obwohl die Vertreibung von Kosovo- AlbanerInnen, laut NATO-Hauptquartier, »von langer Hand« vorbereitet wurde, also allen NATO-Kriegsbeteiligten bekannt gewesen sein müßte.

Zu Beginn der NATO-Angriffe war das offizielle politische Ziel, die jugoslawische Regierung an den Verhandlungstisch ›zurückzubomben‹. Die jugoslawische Regierung hatte den politischen Teil dieses Abkommens, den dort verankerten Autonomiestatus für den Kosovo, anerkannt. Was sie ablehnte, war die Stationierung von NATO-Truppen. Inzwischen ist bekannt geworden, daß der Appendix des Vertragsentwurfes von vornherein die Absicht formulierte, Milosevic nicht unterschreiben zu lassen. Die NATO-Verhandlungstaktik in Rambouillet lief von Anfang an darauf hinaus, die Verhandlungen scheitern zu lassen, um eine Legitimation für den Angriffskrieg gegen Jugoslawien in die Hand zu bekommen.

Bereits fünf Tage nach den Angriffen der NATO wurden folgerichtig all die Stimmen lautgestellt, die das Rambouillet-Abkommen für überholt und einen unabhängigen Staat Kosovo als einzige Lösung ansehen. Damit nähert sich die seit über zehn Jahren betriebene Zerschlagung und Aufteilung Jugoslawiens der letzten Phase. Es geht nun nicht mehr um einen Autonomiestatus Kosovos, sondern um einen eigenen Staat. Das Wort vom »NATO-Protektorat« macht die Runde. Und das, was – laut Nachrichtensprecherin der Tagesschau – die NATO am meisten »befürchtete«, trat am 6.4.99 ein: die jugoslawische Regierung verkündete einen einseitgen Waffenstillstand, mit dem Angebot, alle militärischen Einheiten aus dem Kosovo zurückzuziehen, verbunden mit der Zusicherung, daß die Flüchtlinge in den Kosovo zurückkehren können. Worum es der NATO wirklich geht, machten NATO-Sprecher und Bundeskanzler Schröder noch am selben Tag deutlich: Um die vollständige Zerschlagung der jugoslawischen Armee und der anschließenden Stationierung von NATO-Streitkräften – koste, was es wolle. In diesem Krieg geht es um eine Pax-NATO, darum, den Hinterhof der Weltmacht Europa in den Griff zu bekommen. Es geht um das Durchsetzen politischer, militärischer und ökonomischer Einflußgebiete über die Staaten der gerade erfolgten kleinen NATO-Osterweiterung hinaus. Für diese Schlußfolgerung muß man kein Anhänger jugoslawischer Politik sein: »Die Juso-Vorsitzende kam nach der Lektüre des Textes zu dem Schluß, den Serben sei ›quasi ein NATO-Besatzungsstatut für ganz Jugoslawien diktiert‹ worden.«7 Man muß nicht spekulieren, was damit gemeint ist. Ein Blick nach Bosnien-Herzegovina genügt. Die bosnische Regierung schätzt, daß der Wiederaufbau 47 Milliarden US-Dollar kosten wird. Die wirtschaftlichen und politischen Interessen der kreditgebenden (NATO-)Länder sind bereits in die Verfassung eingeschrieben: »Der Hochkommissar hat volle Exekutivrechte in allen zivilen Angelegenheiten. Er kann sogar Regierungsentscheidungen sowohl der bosnischen Föderation als auch der bosnisch-serbischen Republik Srpska außer Kraft setzen.«8 Genug Demokratie für ein Land, das nicht von einem demokratischen WählerInnenvotum gelenkt wird, sondern einzig und alleine von den Diktaten, die die europäischen Kredit-Geber mit jedem Kredit verknüpfen und ein Vorgeschmack auf das »Protektorat Kovovo«.

Mit dem Bombenkrieg der NATO werden immer mehr Menschen zu Flüchtlingen, nicht nur im Kosovo. Die Ausweitung der »militärischen Ziele« der NATO, die Bombenangriffe auf Belgrad, zielen auch auf eine Bevölkerung, die sich nicht gegen das serbische Regime erhoben hat, sondern zu Hunderttausenden gegen die NATO-Angriffe auf die Straße geht. Späte-stens seit dem Golf-Krieg kann man wissen, was unter »militärischen Zielen« und deren »Ausweitung« gemeint ist. Bekannt geworden sind bisher: Tabakfabriken, Ölraffinerien, Treibstofflager, Umspannwerke, Sendeanlagen, Automobilwerke, (Eisenbahn-)Brük-ken, Kliniken, Trinkwasseranlagen, Telefonzentralen, bishin zu »fehlgeleiteten« Marschflugkörpern mitten in Wohngebiete. Professor Noam Chromsky kommt nach dem Golf-Krieg 1991 zu folgendem Ergebnis: »Es war ein Angriff auf die Wasser- und Energieversorgungssysteme und andere Infrastruktureinrichtungen, der genau den Effekt biologischer Kriegsführung hatte [...] Der Zweck der biologischen Kriegsführung [...] bestand darin, die Bevölkerung für die Zeit nach dem Krieg als Geißel zu nehmen.«9 Nach dem US-allierten Krieg gegen den Irak starben mehr Menschen, als während des gesamten Krieges. Über die späteren Folgen des Krieges für die jugoslawische Bevölkerung wird es hier vermutlich wenig Bilder geben.

Zu einem ›gerechten‹ Krieg gehört, wie wir spätestens seit Saddam Hussein wissen, immer ein Diktator. Auch der gewählte Präsident von Jugoslawien, Slobodan Milosevic, kann nur ein Diktator sein. Und da bekanntlich ein Diktator alleine regiert, erfahren wir so gut wie nichts über die jugoslawische Opposition. Nichts wäre schädlicher, als von dieser zu erfahren, daß es tatsächlich auch andere Vorstellungen zu dem NATO-Luftkrieg gibt. In den ersten drei NATO-Kriegstagen kam noch der jugoslawische Oppositionsführer Zoran Djinjic zu Wort. Als er sich gegen die NATO-Bombardements wandte, schaltete man ihn ab. Das freie Belgrader Radio B 92, Forum für viele oppositionelle Bewegungen, nahm kurz vor seiner Schließung durch serbische Behörden Stellung: »Mit jeder Bombe, die einschlägt, vergrößert sich die humanitäre Katastrophe, die die NATO eigentlich verhindern sollte. Das Kind wird mit dem Bad weggebombt.« Auch das Belgrader Zentrum für Men-schenrechte wurde gerne zitiert, solange es für die Kriegsvorbereitungen der NATO nützlich war. Heute stört es bestenfalls: »Die Bomben nur einer Nacht haben all das zunichte gemacht, wofür sich mutige Menschen in serbischen Nichtregierungs-Organisationen und demokratischen Gruppen in zehn harten Jahren eingesetzt haben [...]«10. Auch Ibrahim Rugova, als politischer Führer der Kosovo-Albaner vom Westen auserkoren, verlor für einige Tage im Zuge der »Informationsüberlegenheit« sein Leben. Die Exilregierung der LDK übernimmt seine Aufgaben prompt und erklärt, »sie habe die Führung der Partei übernommen.«11 Mittlerweilen progagiert die UCK ihr politisches Ziel ›Groß-Albanien‹ ungeschminkt. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann dieser nationalistische Chauvinismus ausreichend bewaffnet und instruiert ist, um als »Bodentruppen« für eine weitere »humanitäre Katastrophe« zu sorgen.


Der erste Angriffskrieg Deutschlands seit der militärischen Niederlage Nazi-Deutschlands

Egal wie dieser Krieg ausgeht, in Deutschland feiern die VertreterInnen des gängigen und völlig ›normalen‹ Nationalismus schon heute ihren Sieg: »Könnte es sein, daß sich Deutschland seit wenigen Tagen definitiv im Zustand der Normalität befindet? [...] Bundesluftwaffe [...] an vorderster Front [...] seit Frühjahr 1945 stehen wir wieder mittendrin [...] der längst fällige Durchbruch zur kompletten Normalität [...] Auf dem Sektor der Ökonomie hat die Bundesrepublik die Normalisierungsprozesse bereits seit Jahrzehnten abgeschlossen. Jetzt ist auch die ganze Palette der Außenpolitik erfaßt.« Diese Worte stammen nicht aus Belgrad. Diese Kommentierung ist nicht der BILD-Zeitung entnommen. Es ist der Kommentar einer liberalen Zeitung, der FR vom 25.3.99, ein Tag nach den ersten Bombardements auf Bundesrepublik Jugoslawien.

Ideologisch wurde bereits vor 1989 daran gearbeitet, das Nachkriegsdeutschland von der »ewigen Schuld« zu befreien. Man erklärte sich für ›normal‹ und ›grundlegend zivilisiert‹. Mit der Wiedervereinigung wurden die letzten, erkennbaren Folgen des verlorenen Weltkrieges beseitigt. »Deutschland hat mit seiner Geschichte abgeschlossen, es kann sich künftig offen zu seiner Weltmachtrolle bekennen und soll diese ausweiten.« (Ex-Bundeskanzler Kohl, 30.1.91). Während mit der Relativierung nationalsozialistischer Verbrechen, wie z.B. der Gleichsetzung Nazi-Deutschlands mit der SED-Regierung, die bis dato anerkannte »besondere« Verantwortung Deutschlands auf das europäisch übliche Maß zusammengeschliffen wurde, näherte sich die deutsche Bundeswehr ihrem ersten ›direkten‹ Kampfeinsatz: mal mit deutschen Kriegsschiffen im Mittelmeer und Minensuchbooten vor der Küste Kuweits während des US-allierten Angriffes auf den Irak (1991), mal mit Bundeswehr-Sanitätern und Verbandsmaterial in Kambodscha (1992/93), ein anderes Mal als Soldaten eines Nachschublagers in Somalia (1993/94). Die Produktpalette reichte von den »Engeln von Phnom Penh« (Verteidigungsminister Rühe), bishin zur friedenssichernden Militärtruppe in Bosnien (1996). Der lange Weg zur »außenpolitischen »Normalität«12 hatte nicht die territoriale Verteidigung im Auge. Damit war und ist die BRD auf NATO-Höhe. »(Auch) die Allianz wurde ausschließlich als Bündnis zur Verteidigung des Territoriums der Mitgliedsstaaten gegründet (Art. 5). Hat sich diese Verteidigungsaufgabe überholt, weil der Feind abhandengekommen ist, so ist es legitim, sich nach neuen Aufgaben und einer neuen Legitimation umzuschauen – was man spätestens seit 1989 intensiv tut.«13 Auf der 50. Jahrestagung der NATO diesen Jahres soll die Neudefinition der NATO beschlossen werden: weg von der territorialen Verteidigung, hin zur Verteidigung von globalen Interessen. Damit ist das völkerrechtliche Dogma nationaler Souveränität im Umgang mit »innerenen Angelegenheiten« anderer Staaten endgültig Schnee von gestern. Militärische Interventionspraxis ist alles andere als neu. Doch es macht einen Unterschied, ob sie sich dabei über eigene Gesetze hinwegsetzen muß oder diese ihrer Praxis anpassen kann – ohne auf massiven Widerstand zu stoßen.


Langfristige Perspektiven und ein historischer Augenblick

Die vielen kleinen politischen und militärischen Schritte zur Beteiligung der deutschen Bundeswehr an Angriffskriegen sind abgeschlossen. Gegen die 50. NATO-Tagung zu demonstrieren, ist bereits zu spät. Der blutigen Wirklichkeit jener »Weltinnenpolitik« etwas entgegen zu setzen, kann nur ein langfristiges Ziel sein. Die Heuchelei derer, die hier den ›regulären‹ Nationalismus pflegen und deren barbarischer Konsequenz in Ex-Jugoslawien scheinbar den Krieg erklären, wird uns noch lange begleiten. Um dagegen einen wirkungsvollen Widerstand zu entwickeln, existieren hier weder die Vorausetzungen, noch ein gemeinsames Selbstverständnis. Es wird einen langen Atem brauchen – und weit mehr als die tagtäglichen Bilder vom NATO-Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien.

Worauf es jetzt ankommt, ist die politische und moralische Legitimation für diesen NATO-Angriffskrieg zu stören, vielleicht sogar zu kippen. Wir können uns an kein (Wahl-)Versprechen erinnern, das die rot-grüne Regierung nicht (bereits) gebrochen hat. Mit einer einzigen Ausnahme: das über alle Parteigrenzen hinweg weisende Versprechen, »außenpolitische Kontinuität« zu wahren. Mit dem dritten Balkankrieg Deutschlands lösten die Koalitionspartner nicht nur ihr Versprechen ein, sie gaben dem bis dahin nebulös gebliebenen Wahlkampfslogan der SPD ein klares und unmißverständliches Ziel: »Wir sind bereit.« Dieser dritte Balkankrieg Deutschlands steht nicht nur in außenpolitischer Kontinuität, er ist zugleich ein Novum in der deutschen Geschichte: Mußte sich die SPD noch 1914 damit begnügen, Kriegskredite als parlamentarische Opposition mitzubewilligen, hatte die SPD 1939 keine Gelegenheit mehr, ihre nationale, vaterländische Gesinnung unter Beweis zu stellen, so kann sie nun zum ersten Mal selbst Krieg führen. Die SPD brauchte dafür über 100 Jahre, die Grünen/Bündnis 90 schafften es in knapp 20 Jahren. Auch wenn der Verrat an den eigenen Prinzipien (Gewaltfreiheit, NATO-Austritt, Rotation, sofortiger Ausstieg aus der Atomenergie) in einem rasenden Tempo vonstatten ging – es gibt noch einen beachtenswerten Teil grüner Parteimitglieder, die diesen Angriffskrieg ablehnen. Wenn es eine Chance gibt, die deutsche Beteiligung an diesem Krieg zu kippen, dann an diesem Punkt. Ein Ende der rot-grünen Kriegskoalition wäre ein wichtiger Schritt.

Am 13.5.1999 findet ein Sonderparteitag der Grünen statt. Wenn es gelänge, dort eine Konfrontation zu forcieren, die zum Ziel hat, der grünen Regierungsfraktion das Vertrauen zu entziehen, wäre der Bruch der rot-grünen Regierungskoalition möglich. Ganz real-politisch gesprochen: das ist zu schaffen. Wir wollen die Grünen – völlig illusionslos – weder vom Antiimperialismus, noch vom Antikapitalismus überzeugen. Um die grüne Regierungsfraktion an der Fortsetzung dieses Angriffskrieges zu hindern, reicht der Verweis auf das grüne Wahlkampfprogramm 1998:« Militärische Friedenserzwingung und Kampfeinsätze lehnen wir ab.« Was für die grüne KriegstreiberInnenfraktion Geschwätz von gestern ist, muß auf diesem Sonderparteitag zum Ende rot-grüner Kriegspolitik beitragen.

autonome l.u.p.u.s. gruppe
am 29. NATO-Kriegstag 1999

Kontaktadresse:
Grün, Antikriegsplenum
c/o Exzeß, Leipziger Straße 91, 60487 Frankfurt
Telefon (Montag und Donnerstag um 20.00 h) und Fax: 069/77 46 70

|1| vgl. hierzu Ex-Anit-NATO Gruppe Freiburg: »Der Osten bleibt rot. Vom Staatskapitalismus in die Barbarei. Texte zum Zusammenbruch des ›Sozialismus‹ und zum Krieg in Jugoslawien«, Freiburg 1993
|2| vgl. dazu einen längeren Text zum US-allierten Krieg gegen den Irak (1991) in autonome L.U.P.U.S.-Gruppe: »Geschichte, Rassismus und das Boot«, Berlin 1992, S. 57–84
|3| Michael Chossudovsky: »Wie Jugoslawien zerstört wurde«, o.O., o.J., S. 2
|4| Die Weltbank, zitiert nach M. Chossudovski: Bericht über die Entwicklung der Weltwirtschaft, 1991
|5| Snezana Bogavac, Korrespondentin der unabhängigen jugoslawischen Nachrichtenagentur Beta, in FR v. 1.4.99
|6| Uli Cremer: »Neue NATO – neue Kriege?«, Hamburg 1998, S. 42f.
|7| FR v. 10.4.99
|8| Michael Chossudovsky, a.a.O.
|9| FR v. 30.1.1992
|10| FR v. 6.4.99
|11| FR , Ostern 1999
|12| FR v. 25.3.99
|13| Norman Paech, Völker-und Verfassungsrechtler, in FR vom 26.3.99