Heft 1/99

Kämpfen oder Klappe halten
Mihriban, 30, Gemüseverkäuferin

Nach einem kleinen Zwischenfall im Laden, wobei ein deutscher Kunde sie beschuldigte, Ware von minderer Qualität zu verkaufen, kamen wir ins Gespräch.

Ich bin in dieser Stadt geboren, hier aufgewachsen, habe hier geheiratet, arbeite hier und ziehe meine Kinder hier groß. Eigentlich sollte ich mich hier zu Hause fühlen. Tu ich aber nicht richtig. Ich wollte auch nie in der Türkei leben. Ich weine nicht herum, daß ich keine Heimat habe wie so viele andere. Ich finde das lächerlich. Ich mag es nicht, wenn die Leute herumheulen, weil sie etwas nicht haben. Entweder muß man es sich beschaffen, oder man findet sich damit ab, daß man es nicht hat, und hält die Klappe.

Ich kann dieses Verhalten nachvollziehen. Schließlich habe ich auch mal so ähnlich gedacht. Das sage ich nicht nur so, damit ich als die Schlaue dastehe, die zu einer Einsicht gelangt ist.

Ich habe mich oft gefragt, warum ich mich hier nicht richtig zu Hause fühle. Ich schaute mir die Türken in der Türkei an. Es geht ihnen gut. Sie wissen, wo sie hingehören, und sie verbindet eine Zugehörigkeit. Sie können sagen: »Wir gehören hierher«. Wenn sie das sagen, guckt keiner blöd und widerspricht ihnen. Warum auch? Sie sehen alle irgendwie türkisch aus, falls es so etwas gibt. Da sagt einer, er lebt schon lange in der Türkei, er spricht türkisch, hat einen türkischen Paß und behauptet, er sei Türke, dann wird das auch stimmen. Zumindest fragt auch keiner so genau nach. In Deutschland ist es ähnlich mit den Deutschen: Da sieht einer einigermaßen deutsch aus, spricht ganz gut deutsch, verhält sich auch einigermaßen deutsch und hat einen deutschen Paß, dann gibt es auch hier keine Probleme. Es wird interessant, wenn jemand zwar hier geboren und aufgewachsen ist und Deutsch spricht, aber gar nicht aussieht wie ein Deutscher und sich gar nicht so verhält wie einer, aber trotzdem behauptet, er wäre Deutscher: Dann kann er seinen deutschen Paß noch so hochhalten. Ihm glaubt keiner so richtig, und alle gucken ein bißchen blöd, egal, ob sie das gut finden oder nicht.

Wenn Sie in einem Haus dafür sorgen, daß der Kühlschrank voll ist, immer schön Lebensmittel anschaffen, aber wenn es dann darum geht, den Kühlschrank zu öffnen und sich etwas zu essen herauszuholen, blöd angeglotzt werden, können Sie sich da zu Hause fühlen? So fühle ich mich hier. Aber ich jammere nicht.

Vor Jahren habe ich mir gewünscht, meine Eltern wären nie hergekommen. Dann wäre ich jetzt in der Türkei und wäre bei »meinen Leuten«. Jetzt sind es natürlich nicht »meine Leute«, aber sie wären es, wenn ich immer dort gewesen wäre. Diese Möglichkeit hätte sich nur in der Türkei ergeben, denn nur, wenn jemand immer in dem Land bleibt, dessen Kultur er übernimmt, dessen Sprache er spricht und dessen Menschen er ähnlich sieht, hat er eine Heimat. Aber wer hat heutzutage eine Heimat? Das ist ein altmodisches Wort.

Jeden hat es von einem Ort zum anderen verschlagen. Sogar die Deutschen wandern aus. Da sagt keiner »Wirtschaftsflüchtling«. Sie wandern aus weit luxuriöseren Gründen aus als andere. Was weiß ich, weil das Wetter hier so schlecht ist oder weil die Menschen hier so unfreundlich sind. Wenn jemand aus solchen niederen Gründen auswandert, ist er »Edelmigrant«. Wenn jemand um seine Existenz kämpft, dann ist er »Wirtschaftsflüchtling« oder hungriger Schmarotzer.

Heute brauche ich keine Heimat. Ich habe mich davon befreit. Was machen die Leute, die eine Heimat haben? Geht es ihnen besser? Ich sehe, daß das im Leben eines Menschen nur die Bedeutung hat, die man ihm gibt. Ich gebe einfach nichts mehr darum, Schluß aus! Ich verschwende meine Kraft nicht damit, um etwas zu trauern, was ich nie hätte haben können.

Ich habe wahrscheinlich Glück gehabt. Ich habe vier weitere Geschwister, ich bin die jüngste und die einzige, die hier geboren ist. Ich wurde, glaube ich, etwas verwöhnt. Meine Eltern ließen mir mehr durchgehen als meinen anderen Geschwistern. Ich hatte auch immer meinen eigenen Kopf. Das war manchmal gut, aber manchmal auch schlecht.

Ich habe die Realschule beendet und eine Lehre als Einzelhandelskauffrau gemacht. Nichts Besonderes, aber hier wird darauf geachtet, ob jemand eine Lehre hat oder nicht. Hauptsache, man kann irgend etwas nachweisen. Wenn man mitmachen möchte, muß man die Spielregeln kennen. Sonst schmollt man in der Ecke.

Ich sehe das als Aufrüstung. Alles an Wissen kann nützlich sein. Nicht umsonst heißt es »Wissen ist Macht«. Ich gucke immer deutsche und türkische Nachrichten oder Dokumentationen. Ich möchte wissen, wie es in der Welt aussieht. Ich möchte mitreden können, wenn es darauf ankommt. Meine Familie macht manchmal Witze mit mir. Sie nennt mich »Frau Professorin«. Aber ich glaube, daß die es gut finden, wie ich mich damit beschäftige. Ich will nicht von anderen etwas dafür bekommen. Das mache ich nur für mich und meine Kinder.

In dieser Gegend wohnen fast nur Türken. Der Gemüseladen gehört meinen Eltern. Meine älteren Geschwister hatten alle schon eine Arbeit, als mein Vater zu alt zum Arbeiten wurde. Da habe ich den Laden mit meinem Mann übernommen. Die Geschäfte laufen gut. Gemüse braucht jeder. Wir verkaufen nichts anderes, und hier ist alles frisch. Deswegen kaufen auch viele Deutsche bei uns ein. Die älteren fühlen sich wie in alten Zeiten, als es keine Supermärkte gab. Sie kommen und bleiben länger als nötig. Sie erzählen Geschichten und fragen nach Rezepten. Wahrscheinlich leben sie allein und langweilen sich. Allah kimseyi bu hale düsürmesin. Gott soll niemanden in diese Lage bringen. Manchmal habe ich nicht soviel Zeit. Dann sage ich meinen Kindern, sie sollen sich um die Leute kümmern. Ältere Menschen sind wichtig in jedermanns Leben. So wie sie sich einst um uns kümmerten, so müssen wir uns um sie kümmern, und so soll es uns später auch ergehen.

Es gibt auch jüngere Deutsche, die herkommen und im Laden verweilen. Ich habe am Anfang nicht verstanden, warum sie uns beobachteten. Ich dachte anfangs, sie kämen, um uns zu kontrollieren, ob wir alles richtig machen. Ich hatte dann besonders darauf geachtet, daß alles sauber und aufgeräumt war. Aber sie waren nicht zum Kontrollieren da. Sie wollten sehen, wie wir leben, wie wir sind.

Es ist schon komisch mit den Deutschen. Sie kommen und beobachten stundenlang, aber wenn man sie anredet, dann laufen sie ganz schnell raus. Ich habe das nie verstanden, bis ich mich gefragt habe, warum sie ausgerechnet hierherkommen und uns beobachten, manchmal zu zweit, manchmal auch allein: Wir sind für sie eine Abwechslung. Es ist wie Fernsehen für sie. Jetzt überleg dir mal, dein Fernseher redet mit dir. Spaß beiseite, ich glaube wirklich, daß wir für diese Leute eine Art Unterhaltung sind. Für uns ist es normal, wie wir sind. Aber für sie ist es so interessant, wie wir Tee kochen oder aus welchen Gläsern wir Tee trinken, wie wir miteinander reden, wie wir uns verhalten. Alles ist neu. Vielleicht wie Urlaub. Nur ein paar Meter von ihrem Haus entfernt gibt es eine andere Welt. Ich glaube nicht, daß sie dazugehören wollen. Dafür ist es vielleicht zu anders.

Es gibt auch welche, die trinken einen Tee mit uns. Sie reden mit den Kindern und stellen ihnen Fragen. Sie wollen etwas Neues entdecken.

Meine Kinder sind hier geboren und hier aufgewachsen. Sie gehen in eine deutsche Schule, sie sprechen besser Deutsch als Türkisch. Aber trotzdem suchen diese Leute nach einem Unterschied. Das wollen sie dann weitererzählen, von wegen »ich hab mit einem türkischen Kind gesprochen, und das war so anders; ich habe dies und das entdeckt«.

Von jedem von uns wird eine Abenteuergeschichte erwartet. Wie jeder in dieser Gesellschaft haben auch wir bestimmte Funktionen und Eigenschaften, und zwar als ein Ganzes. Zu unseren Eigenschaften gehört eben auch, daß wir interessante Geschichten über unser Leben erzählen können. Letztens wurde ich gefragt, ob wir hierher geflohen seien. Da war jemand ganz scharf auf eine Fluchtgeschichte, wie sie im Bilderbuch steht. Ist ja in jetzt, wo alle von der Flucht aus der Türkei reden. »Nein« habe ich gesagt, »wir sind weder geflohen, noch haben wir in der Türkei gehungert. Wir sind schlicht und einfach eingewandert.« Das ist die Wahrheit, und alle müssen diese Wahrheit akzeptieren. Es gibt hier viele Ausländer, die Geschichten erzählen können, daß einem ganz anders dabei wird. Aber es gibt mindestens genauso viele, die hier leben, ganz normal. Sie haben nichts Außerordentliches zu berichten, und ihr Lebenslauf liest sich wie der eines Deutschen, nur der Name ist nicht deutsch und vielleicht das Gesicht. Das soll aber nicht heißen, daß wir wie die Deutschen sind.

Man kann es nehmen, wie man will: Wir werden nie ein Teil der deutschen oder der türkischen Gesellschaft sein. Für uns ist nichts vorbereitet. Wir müssen um alles kämpfen, was wir haben wollen: um Aufenthalt, um Sprache, um Bildung, um Staatsbürgerschaft, um Respekt, um alles. Und wollen wir eine Heimat, dann müssen wir sogar darum kämpfen. Es bringt nichts, die Leute zu beneiden, die alles in die Wiege gelegt bekommen haben. Man hat ja nicht mehr Geld, weil man die Reichen beneidet. Kämpfen oder Klappe halten. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.

Feridun Zaimoglu

Entnommen aus »Koppstoff«. Wir danken dem Rotbuch Verlag für die freundliche Abdruckgenehmigung.