diskus 2/00

»... Und Alle Bunten Steine Fügen Sich Zu Einem Mosaik Zusammen.« 1

Ende Mai diesen Jahres lud das FrauenLesbenreferat Beldan Sezen und Olumie Popoola nach Frankfurt ein. In Gedichten, Erzählungen, Gesang und Bewegung - akzentuiert durch an die Wand projizierte Bilder und Muster - verdichteten die beiden ihre Suchbewegungen als Frauen of Color zu einer Performance. Viele ihrer Texte enstanden im Kontext des Buches »Talking home - Heimat aus unserer eigenen Feder - Frauen of Color in Deutschland«, in dem verschiedene Autorinnen ihre Texte, Bilder und Gedichte veröffentlichten. Im Nachfolgenden ist der Text von Selmin Çaliskan und Modjgan Hamzhei abgedruckt, in dem die beiden Autorinnen ihre eigenen Überlegungen und Fluchtlinien als lesbische Migrantinnen beschreiben.   Red.

Der 13. September 1995 war ein entscheidender Tag in der Geschichte der internationalen Lesbenbewegungen. An diesem Tag sprach zum ersten Mal eine lesbische Aktivistin auf der offiziellen Weltfrauenkonferenz in Bejing über die Situation von Lesben in ihrem Land. Die ergreifende Rede Palesa Beverly Ditsies aus Südafrika vor der UN-Plenarsitzung rief sowohl Begeisterung als auch Tränen auf der Seite der Zuhörerinnen hervor. Aber es blieb nicht bei diesen positiven Reaktionen. Im Gegenzug wurde auch ein sehr gängiges und schlagkräftiges Mittel gegen sie gerichtet:

»Bei einer Pressekonferenz unmittelbar nach Ditsies Rede sagte eine andere Afrikanerin, daß Ditsies Lesbischsein nur damit erklärt werden könne, daß eines ihrer Elternteile weiß sein oder aus dem Westen kommen müsse.« (Anderson 1995, S. 113)

Auch wenn Palesa Beverly Ditsies kämpferische Stellungnahme und die sichtbare Präsenz von Lesben aus allen Teilen der Welt auf dieser Konferenz die Absurdität derartiger Behauptungen offensichtlich machte, lohnt es sich, das weitverbreitete Klischeebild, Lesben seien weiß und westlich, genauer zu betrachten.

Lesben? Die Gibt Es Bei Uns Nicht!
Auch wir in Deutschland lebenden lesbischen Migrantinnen sind mit diesem Vorurteil konfrontiert, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zum einen wird, meist von heterosexuellen Migrantinnen aus unseren Herkunftsländern, der Widerspruch konstruiert, lesbisch sein und türkisch bzw. iranisch sein schließe sich aus. In diesem Zusammenhang fällt häufig der Satz: »Lesben? Die gibt es bei uns nicht!« Lesbisches Leben als Ausdruck westlicher Dekadenz oder Assimilierung?

Wir sind der Ansicht, daß es höchste Zeit wird, diesen Mythos zu entlarven als das, was er ist: Ausdruck heterosexistischer Argumentationsmuster, die uns still machen sollen. Statt dessen wollen wir endlich anfangen, laut zu werden und beginnen, unsere Geschichte zu schreiben. Eine Geschichte, die in unseren Herkunftsländern schon lange vor uns begann.

Wir sind uns des Wagnisses, das damit zusammenhängt, diese Dinge auszusprechen, bewußt. Über einer offen lebenden lesbischen Migrantin schwebt immer das Damoklesschwert des Ausschlusses aus der Community.

In Zeiten eines immer unverblümteren und krasseren Rassismus gegen MigrantInnen und Schwarze Menschen und Antisemitismus gegenüber JüdInnen sind unsere Communities jedoch existenziell notwendig. Auf die Heterokontakte und -freundschaften in unseren Herkunftsgemeinschaften können wir nicht verzichten. Vieles muß noch gemeinsam bewältigt und erkämpft werden. Unsere Rechtlosigkeit und der Wunsch nach einem selbstverständlichen Hiersein, ohne irgendwelche »Sondergesetze« oder »Sonderbehandlungen« verbindet und verbündet viele von uns miteinander.

Audre Lordes biographische Beschreibungen der Situation Schwarzer Lesben in den USA der 50er Jahre weist einige Parallelen mit unserer Lebenssituation als lesbische Migrantinnen in Deutschland heute auf:

»Die meisten Schwarzen lesbischen Frauen verbargen ihre lesbische Identität, weil sie richtig erkannten, wie wenig sich die Schwarze Gemeinschaft für unsere Position interessierte, und wie viele andere unmittelbare Bedrohungen es für unser Überleben als Schwarze in einer rassistischen Gesellschaft gab. Es war schwer genug, Schwarz zu sein, Schwarz und Frau zu sein, Schwarz, Frau und lesbisch zu sein. In einer weißen Umgebung Schwarz, Frau, lesbisch zu sein und sich offen dazu zu bekennen (...) galt bei vielen Schwarzen lesbischen Frauen als glatter Selbstmord.« (Lorde 1982, S. 265)

Der Verlust der Community hat weitreichende Konsequenzen, eine lesbische Migrantin, die das riskiert, verliert unter Umständen nicht »nur« Herkunftsfamilie, politische Zusammenhänge und FreundInnenkreis, sondern zugleich Solidarität und Unterstützung anderer MigrantInnen sowie die Verbindung zu ihrer Herkunftskultur, ihren Wurzeln.

Auf der türkischen Seite ist es schlichte Homophobie und Verlustangst, die uns oft im Verborgenen hält. Seit Jahren verheimliche ich meinen Eltern, wie ich lebe. Die Angst, sie zu enttäuschen nach einem sehr entbehrungsreichen Leben ist sehr stark. Noch schlimmer als die Enttäuschung wäre der sichere Verlust meiner Eltern. Unerträglicher Gedanke. Durch meine Eltern bin ich erst auf diese Seite der Erde gekommen. Sie sind meine Wurzeln in der vertrauten Fremde. Durch sie weiß ich, wer ich bin.

Iki Ucu Boklu Deg×nek2 - Assimilierungsvorwurf und Rassismus
In unseren Herkunftsgemeinschaften setzen wir also einiges aufs Spiel, wenn wir offen lesbisch sein wollen. Die Lesbenzusammenhänge, in denen wir zumindest den lesbischen Teil unserer Identität glaubten ausleben zu können, entpuppten sich auch bald als äußerst unwirtliche Orte. An diesen sehen sich Lesben einer anderen kulturellen Herkunft von Seiten der deutschen weißen christlich sozialisierten Lesben, die die Mehrheit darstellen, einem permanenten Assimilierungsdruck ausgesetzt. Wenn sie es nicht schaffen oder aber es ablehnen, sich den vorherrschenden Verhaltens- und Denkmustern anzupassen, werden sie ausgegrenzt.

Der Rassismus in diesen Lesbenzusammenhängen erinnert in seinen Konsequenzen an Christa Wolfs »Kein Ort - Nirgends«, zumindest was dieses Thema der gleichzeitigen Unsichtbarkeit als Lesbe und Migrantin in der weißen deutschen Frauenszene und in der Herkunftsgemeinschaft angeht.

In der Erstgenannten ist die lesbische Migrantin Projektionsfläche für die rassistischen Bilder, die seitens der Dominanzkultur konstruiert worden sind und die sie ebenfalls zum Paradox erklären. Das heißt sie lebt als Migrantin und Lesbe einen angeblich nicht lebbaren Widerspruch.

Die weiße deutsche feministische Szene bewertet Lesbischsein, wenn auch nicht ganz so offen, als progressiv und Ausdruck eines erreichten hohen feministischen Bewußtseinsgrades. Da Migrantinnen, insbesondere islamisch sozialisierte, was ihr Image bezüglich Emanzipation und Frauenstärke angeht, immer für rückständig, traditionell, männerfixiert und passiv gehalten werden, käme dann der bewußt entschiedene lesbische Lebensentwurf für sie erst gar nicht in Frage.

Es scheint so, als wäre Lesbischsein auch hier eine Erfindung des Westens. Als hätte es Liebe zwischen Frauen nicht schon immer, auch jenseits von Sappho gegeben!

Meine Mutter selbst war es, die mich stark genug machte, um unmögliche Situationen zu meistern. Sie hat mir beides vorgelebt: mich als Frau und als Türkin stark fühlen zu können. Meine Familie und der große türkische Kreis um uns herum hatten für mich meinen Lebensweg schon vorgezeichnet: Berufstätige, Ehefrau, Mutter. Zu ihrem Unglück richtete ich die eine Stärke auch gegen die an mich ihrerseits gestellten Forderungen als »türkisches Mädchen«. Die andere Stärke, die sie an mich weitergab, benutzte ich dazu, mich gegen die Forderung der deutschen Gesellschaft, »mich doch anzupassen«, zu wehren. Klar war, daß ich mich an keins von beiden anpassen würde - ich wurde Querdenkerin in beiden kulturellen Kreisen. Nichtsdestotrotz immer auf der Suche nach einem Zugehörigkeitsgefühl.

Die von der weißen westlichen Feministin zur Anderen, sprich unterdrückten Frau gemachte Migrantin erfüllt für diese eine wichtige Funktion. Mittels der Abgrenzung von deren vermeintlicher Opferrolle kann sie sich selbst aufwerten. Auch aus dieser Perspektive scheint unsere Existenz als lesbische Migrantinnen eine Provokation zu bedeuten, der mit verstärktem Assimilationsdruck bzw. Ausgrenzung begegnet wird!

All dies ist einem Coming Out als lesbische Migrantin alles andere als förderlich. Aber wir sind geübt in Balanceakten! Es gab schon immer Rebellinnen, die sich auf den Weg machten, meist alleine, ohne Vorbilder und Weggefährtinnen.

»Ich weiß noch, wie das war, jung und Schwarz und lesbisch und einsam zu sein. Im großen und ganzen war das Gefühl, die Wahrheit und das Licht und den Schlüssel zu haben in Ordnung, aber oft war es einfach die Hölle. Wir hatten keine Mütter, keine Schwestern, keine Helden. Wir mußten allein durchkommen wie unsere Schwestern, die Amazonen, die Reiterinnen auf den einsamsten Außenposten im König-reich von Dahomey. (...) Wir entdeckten und erforschten unsere Zuneigung zu Frauen allein, manchmal heimlich, manchmal trotzig und herausfordernd, manchmal in kleinen Nischen, die sich beinahe berührten (...) aber immer allein, gegen ein größeres Alleinsein ankämpfend. Wir hatten da-bei schwere Entzugserscheinungen, und auch wenn einige von uns, die überlebten, am Ende ziemlich phantasievoll und zäh wurden, blieben einfach zu viele von uns auf der Strecke.« (Lorde, a. a. O., S. 208)

Zwei Antworten Auf Die Migration
Zu welchen unterschiedlichen Strategien im Umgang mit dem Assimilierungsvorwurf der Community auf der einen und dem Rassismus der Dominanzkultur auf der anderen Seite wir lesbischen Migrantinnen gelangen, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Einer davon ist unsere jeweilige Klassen- bzw. Schichtzugehörigkeit.

Der Weg Nach Innen . . .
Meine Eltern sind beide einfache Leute vom Land mit so gut wie keiner schulischen Bildung. Erst 30 Jahre später holten sie zusammen ihren türkischen Grundschulabschluß in einem Abendkurs nach - wir waren stolz auf unsere Eltern!

Als meine Mutter ihren ersten Bruch in ihrem Frauenleben vollzog, war sie 17. Sie verließ das Dorf, um in Ankara als Dienstmädchen zu arbeiten. Das war auf dem Land sehr ungewöhnlich. Unverheiratet, ohne Obhut eines Mannes das Dorf zu verlassen und in die Großstadt zu gehen. Meine Großeltern waren sehr arm und sahen keine andere Möglichkeit, als eine ihrer Töchter zum Geldverdienen in die Stadt zu schicken. Meine Mutter war nahezu Analphabetin, als sie das Dorf verließ - sie brachte sich das Lesen und Schreiben selbst bei und schickte schließlich voller Wut und Stolz ihren Eltern den ersten selbstgeschriebenen Brief. Wut - weil sie anstatt zur Schule gehen zu können schon als Kind arbeiten mußte.

Der nächste Bruch hieß Almanya. Meine Eltern lernten sich kennen und verliebten sich ineinander. Mein Vater war Soldat in einer türkischen UNO-Einheit in Südkorea. Damals konnte er sich entscheiden, zwischen einer Offizierslaufbahn oder einer »Arbeiterlaufbahn« in Deutschland. Hasan und Fatma heirateten und gingen in die Fremde. Das anfänglich positive Lebensgefühl veränderte sich im Laufe der 35 Jahre Deutschland. Die Ablehnung ihrer eigenen Wer-te und die damit verbundene Herabwürdigung als Mensch ließ sie sich mehr und mehr von den Deutschen zurückziehen. Innere Migration. Sie entschieden sich für ein religiöses Leben, was ihnen zumindest ihren Selbstwert als Menschen zurückgibt und obendrein einen Platz in einer funktionierenden Gemeinschaft bietet.

. . . Und Die Tarnkappe
Im Gegensatz zu MigrantInnen aus ländlichen Regionen und ArbeitsmigrantInnen »bewirkt der Assimilationsdruck und Stigmatisierung durch die Aufnahmegesellschaft bei den schmalen städtischen Mittelschichtmigranten eine Überangepaßtheit, da die westliche Kultur als die erstrebenswerte überlegenere Idealnorm für diese verwestlichten Schichten im Herkunftsland galt« (Kürsat-Ahlers, 1992, S. 110).

Elcin Kürsat-Ahlers bezieht sich hier zwar auf MigrantInnen aus der Türkei, unserer Erfahrung nach lassen sich diese je nach Schicht unterschiedlichen Verläufe der Bewältigung von Migrationserfahrungen jedoch auch bei MigrantInnen aus anderen Herkunftsländern wiederfinden.

Als Urenkelin, Enkelin und Tochter von bürgerlichen IranerInnen wurde mir im Kontakt mit meinen Urgroßeltern, Großeltern und Eltern die Kontinuität ei-ner Orientierung an den Westen über die Generationen hinweg deutlich. Die Assimilierungsbestrebungen in meiner Familie, die ich erfahren und analysiert habe, begannen nicht erst mit der Migration nach Deutschland, sondern viel früher.

»Die bürgerlichen Schichten der weniger entwickelten Länder prägt ein kollektives Minderwertigkeitsgefühl gegenüber dem Westen. (...) Die Maßstäbe und Symbole der Erniedrigung werden verinnerlicht, zumal die städtischen Zuwanderer schon in dem Herkunftsland von ihrer Unterlegenheit gegenüber dem Westen überzeugt waren.« (ebd., a. a. O., S. 110)

Entsprechend des von meiner Herkunftsfamilie vorgelebten Entwurfs wählte ich als junge lesbische Migrantin erst mal die »Chamäleonmethode«, um den scheinbaren Widerspruch zwischen den Identitätsbereichen »Lesbe« und »Migrantin« zu lösen: Ich machte mein lesbisches Coming Out, verhielt mich aber als Migrantin angepasst und unauffällig. Dies wurde mir zusätzlich durch meine Umgebung nahegelegt. Erst im Laufe der Zeit gelang mir die Synthese, infolgedessen ich mich heute als »lesbische Migrantin zweiter Generation« definiere.

Welche in vielen Welten gleichzeitig lebt und liebt ist oft einem Entscheidungszwang ausgesetzt, der eine manchmal an der Richtigkeit der eigenen Wahrnehmungen zweifeln läßt. Die Entscheidung, Lesbe oder Migrantin oder aber türkisch oder deutsch, ist unmöglich, wenn nicht gar absurd.

Aber seitdem ich durch politische Vernetzungen andere lesbische und schwule MigrantInnen kennenlernte, konnte ich mich ganzer fühlen. Alle bunten Steine fügen sich zu einem Mosaik zusammen. Auch die Frage, was eine mehr ist, wäre unsinnig. Ein angezündetes Haus, ein Schwuler, der verprügelt wird oder ein mißhandeltes Kind - alles trifft unmittelbar den Lebensnerv. Es gibt aber eine hierarchische Ordnung der erlebten Ausgrenzung in Deutschland: Ausländerin, Türkin, Moslemin, Lesbe, alleinerziehende Mutter, Frau.

Die Erfahrung meines lesbischen »Rauskommens« bereitete mich auf die weiteren Schritte in meinem Prozeß der Identitätsfindung vor. Auf die Erfahrungen, die ich als junge Lesbe im Umgang mit dem Heterosexismus meiner Umwelt und der Bearbeitung von verinnerlichter Lesbenfeindlichkeit machte, konnte ich später zurückgreifen, als es für mich als bewußt werdende Migrantin zweiter Generation aus dem Iran um Rassismus und verinnerlichten Rassismus ging. Dabei nahm meine Entwicklung den auch von Atkinson, Morten und Sue beschriebenen Verlauf:

»... von Selbsthaß und negativen Überzeugungen zur Infragestellung und Zurückweisung der Werte der vorherrschenden Kultur und dann zum Eintauchen in die eigene Kultur (...), bis schließlich ein integriertes Konzept ihrer kulturellen Identität erreicht wird.« (zit. nach Falco, 1993, S. 187)

Der Zusammenhang zwischen den beiden Coming Outs wurde auch von jüdischen Lesben im Rahmen einer von Evelyn Torton Beck herausgegebenen Anthologie thematisiert:

»Viele jüdische Lesben erleben die Erfahrung des lesbischen Coming Outs als einen bedeutenden Schritt in Richtung unseres jüdischen Coming Outs. Viele jüdische Lesben, so auch ich, begannen unsere Identität als Jüdinnen zu erforschen, nachdem und weil wir unsere lesbische Identität erforscht hatten.« (Lynne Wander, 1991, S. 102)

Für einige von uns Migrantinnen, Jüdinnen oder Schwarzen Deutschen verläuft dieser Entwicklungsweg in umgekehrter Reihenfolge. Dieser Umstand ändert nichts an den beschriebenen Parallelen der Prozesse. Charakteristisch ist hierbei, daß wir erst einmal unsere »... duale Identität und das inhärente Dilemma (...) erkennen und (...) verbalisieren und anschließend diese Aspekte persönlich auszuloten und (...) integrieren« (Kristine L. Falco, 1993, S. 189).

Offen als lesbische Migrantin zu leben, stellt für mich, wie für viele andere von uns, in diesem Kontext gesehen gerade eine Überwindung der beschriebenen persönlichkeits- und schichtabhängigen Assimilierungs-tendenzen dar. Weitere Aspekte sind beispielsweise meine als Migrantin zweiter Generation vollzogene Weigerung, eine Entscheidung zwischen »iranisch« oder »deutsch« sein zu treffen.

Un - Heimliche Lesben
Beiden Modellen, dem Getrenntsein und dem Zusammensein von Männern und Frauen begegnete ich in beiden Kulturkreisen, dem türkisch-moslemisch-sunnitischen und dem deutsch-christlichen. Männer und Frauen hielten sich, wie es auf unseren Dörfern üblich ist, bei größeren Gesellschaften oft in unterschiedlichen Räumen auf. Als Demütigung oder Ungerechtigkeit habe ich das nicht erlebt, damals schien es mir, als hätten sie sich einfach nicht so viel zu sagen. Als Mädchen und Heranwachsende genoß ich es sehr, meistens unter jungen Frauen zu sein. (Natürlich hatte jede von uns Schwestern trotz des Verbots ihre heimlichen Jungenliebschaften.) Das Zusammensein mit anderen jungen Frauen war aufregend, lebendig rebellisch - so daß die männerfreien Räume der deutschen Frauenszene für mich weder eine Neuheit noch eine Befreiung, sondern eher eine Fortsetzung in meinem Leben bedeuteten. Dieses positive Gefühl funktioniert natürlich nur, wenn die Geschlechtertrennung nicht alle Lebensbereiche umfaßt und kein von der Gesellschaft oder vom Staat auferlegter Zwang ist.

Ein gerade unter Migrantinnen, die aus geschlechtergetrennten Gesellschaften kommen, stark tabuisiertes Thema ist die Selbstverständlichkeit lesbischer Beziehungen in den entsprechenden Herkunftsländern. Geradezu eisern wird daran festgehalten, die Existenz von Lesben zu leugnen, obwohl im vertrauten Freun-dinnenkreis Erotik und Sexualität unter Frauen durchaus freimütig thematisiert werden. Auf den ersten Blick erscheint dies widersprüchlich. Bouthaina Shaabans leider noch nicht ins Deutsche übersetzte Interviewsammlung mit arabischen Frauen belegt die Brisanz dieser Thematik. In einigen der Interviews äußern die Frauen sich zu der Häufigkeit lesbischer Beziehungen, erwähnen jedoch zugleich die Tatsache, daß darüber nicht gesprochen werden kann.

»Aber die Tatsache, daß in arabischen Ländern mehr Lesben als in Europa leben, bleibt bestehen. Es sind keine offenen Beziehungen und die Frauen können nicht darüber reden.« (zit. nach Helie-Lucas, 1989, S.239)

Die Autorin betont in diesem Zusammenhang jedoch folgendes:

»Es ist ausgesprochen wichtig, die hier beschriebene Homosexualität in dem sozialen Kontext der arabischen Gesellschaft zu sehen. Homosexualität ist hier sehr viel anders, als in den Ländern, wo sie offener gelebt werden kann. In den arabischen Ländern wird Homosexualität völlig versteckt, da sie in der Öffentlichkeit als abstoßend bewertet und völlig abgelehnt wird.« (ebd., a. a. O., S. 239)

Tatsache ist, daß gerade in Gesellschaften, in denen es traditionellerweise separate Männer- und Frauensphären gibt, immer schon Frauenbeziehungen gelebt wurden. Dies bedeutet jedoch nicht unbedingt, daß diese als lesbische Beziehungen zu sehen sind. Heterozentrismus bewirkt vielmehr, daß sie entweder als vorübergehende Phase im Leben von Mädchen oder jungen Frauen oder »Notlösung« in Ermangelung anzustrebender befriedigender Beziehungen zwischen Frauen und Männern betrachtet werden. Und es entspricht einer gewissen Logik heteropatriarchaler Gesellschaftsstrukturen, wenn in der Abwertung von Lesben der Radikalität eines Frauenlebens unabhängig von Männern ein Riegel vorzuschieben versucht wird. Aber auch wenn Lesbischsein als Lebensentwurf, als bewußte Präferenz von Frauen in allen Lebensbereichen, gelebt wird, werden andere Selbstdefinitionen dem Begriff »Lesbe« vorgezogen. Hier in Deutschland wäre es unter lesbischen Migrantinnen beispielsweise eine Diskussion wert, ob das türkische Wort »Sevici«, die Liebende, eigentlich eine Stigmatisierung, als Ausdruck von Widerstand und Selbstbewußtsein nicht positiv neu besetzt werden könnte. Im türkisch-schwulen Kontext findet diese Auseinandersetzung schon statt. »Ibne«, umgangssprachlich in höchstem Maße beleidigend, wird von einigen inzwischen im Sinne eines »gay proud« verwendet. Hierin drückt sich die Suche nach Identitätsbezeichnungen aus, die nicht am Ideal der weißen, westlichen Lesbe orientiert sind.

Vieles, was wir vorfinden, müssen wir daraufhin prüfen, ob wir es verwerfen müssen oder als Bestandteil eines neuen Selbstverständnisses verflechten können. Unsere Suche beginnt, endet jedoch nicht hier. Der Anfang ist gemacht - sichtbar als Migrantinnen innerhalb der Frauen-Lesbenzusammenhänge und sichtbar als Lesben innerhalb der Migrantinnenszene.
Gute Aussichten!

Selmin Çaliskan, Modjgan Hamzhei

Anmerkungen:
< 1 > Gekürzte Version aus: Talking home: Heimat aus unserer eigenen Feder Frauen of Color in Deutschland. Olumide Popoola & Beldan Sezan (Hrsg.) Amsterdam 1999
Erstveröffentlichung in: Beiträge zur Feministischen Theorie & Praxis, »Entfremdung Migration und Dominanzgesellschaft«, #42 Köln 1996
< 2 > Das türkische Idiom »IÝki ucu boklu deg×nek« bedeutet wörtlich »ein Gehstock, den man an keinem Ende in die Hand nehmen kann, da beide mit Kot behaftet sind« und drückt ein Dilemma aus.

txt:
Anderson, Shelley: Wir sind Frauen, die andere Frauen lieben, in: Ihrsinn 12/95, Lesben International, S. 111 - 116
de la Pena, Terri: Chicana Blues, Berlin 1994
Falco, Kristine L.: Lesbische Frauen-Lebenswelt, Beziehungen, Psychotherapie, Mainz 1993
Helie-Lucas, Marie-Aimee: Bouthaina Shaaban, Both right and left handed - Arab women talk about their lives, in: Beiträge 25/26, Nirgendwo und überall - Lesben, Köln 1989, S. 237 - 241
Kürsat-Ahlers, Elcin: Zur Psychogenese der Migration. Phasen und Probleme, in: Informationsdienst zur Ausländerarbeit, 3/4 1992, Begegnung mit dem Fremden, S. 107 - 113
Lorde, Audre: Zami. Eine Mythobiographie, Berlin 1982
Wander, Lynne: Nice Yewish Girls. A Lesbian Anthology, in: Ihrsinn 3/91, Das verlorene Wir?, S. 101 - 106