Warum mir das Ausbleiben der Revolution auf den Magen schlägt

Thesen zu Subjekt und Geschichte



Manchmal heimlich Arbeiterkampflieder hören. Oder so ähnlich: Ton Steine Scherben. Die Faust zur Decke werfen. Mal richtig laut sein im stillen Kämmerlein. Und wenn jemand kommt? Dann, mit einer selbstironischen Geste den Anflug revolutionären Elans hinfort wischen: »Weiter nichts. Das war nur ein Anfall von Nostalgie. Und außerdem, die Texte ...«

Aber noch vor aller inhaltlichen Kritik ist das Moment der Peinlichkeit der sprachlichen Form geschuldet, der irgendwie unangemessen gewordenen Ernsthaftigkeit. Wenn sich die Haare in Gänsehautformation begeben mischt sich darin die nostalgische Rührung mit einer stellvertretenden Beschämung. Es ist die Stärke des beschworenen Gefühls, die Größe des Traumes und die Siegessicherheit ob seiner baldigen Verwirklichung, die anachronistisch geworden ist. Die Schwierigkeit, Gefühle zu beschreiben ohne pathetisch, also übertrieben, falsch zu wirken, verweist auf eine historische Konstellation, in der die Ohnmacht so mächtig ins Subjekt eingedrungen ist, dass sich allzu viel Träumerei nicht mehr so gut vertragen lässt.

Unter veränderten Kräfteverhältnissen ziemt sich ein solches Kampfgebrüll nicht mehr. Ohne die wöchentliche Erfahrung ausgewogener Straßenschlachten, verkommt das Besingen der Solidarität zum Pathos. Es ist als würde ein betrunkener Revolutionär am Ende von »Matrix« mitgerissen aufspringen, die Faust emporrecken und »Wacht auf! Wacht auf!« skandieren – nur um kurz darauf im Umdrehen festzustellen, dass niemand mitaufgestanden ist. Im besten Falle folgt befremdetes Schweigen. Der objektive Gang der Geschichte, die Erfahrung der Niederlage, macht, dass sich begründeterweise niemand mehr zur großen Geste hinreißen lassen will. Das ist die Wahrheit vom Ende der großen Erzählungen. Impulsive Gestikulation, erhobene Stimme, zuviel Schwung könnte einen leicht über die Balkonbrüstung stolpern, in den zuschauerfreien Vorgarten plumpsen lassen. Eine Fensterrede lässt sich nicht vor dem Spiegel halten.

Das heißt aber gerade nicht, dass wir heute wissen, dass die wehenden roten Fahnen schon damals peinlich waren, sondern dass gesellschaftliche Kräfteverhältnisse bis in unsere Beziehung zu Musik und Sprache hineinreichen, unsere Erlebnisfähigkeit strukturieren. (Schon einige Steinwürfe entfernt könnten die großen Worte wieder die angemesseneren sein. Die Revolution kann auf Coolness verzichten.)


Müssen nur wollen

Gewöhnlich heißt es, am besten ließe es sich bei Regenwetter träumen. Aber wenn die Grenzen der emotionalen Erlebnisfähigkeit von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen gezogen werden, dann trifft historisch das genaue Gegenteil zu. Dann wird die Möglichkeit zu träumen, zu wünschen und zu wollen von Konstellationen befördert, die eine Aussicht auf Verwirklichung, Erfüllung dieser Phantasien und Begierden eröffnen. Während eine historische Situation, die den Subjekten nur einen geringen Einfluss auf ihr eigenes Schicksal einräumt, wenig beflügelnd auf Wünsche wirkt. Das ist plausibel aus zwei Gründen: Zum einen erscheint es wenig vernünftig, an den tollsten Plänen zu basteln, wenn alle wissen, dass ohnehin mal wieder nichts daraus wird. Zum anderen ist die Spannung zwischen Wunsch und Realität umso größer, je schlechter es um diese Wirklichkeit bestellt ist. Der Kontrast lässt nicht nur den Wunsch in einem gleißenderen, irrealeren Licht erscheinen, auch umgekehrt gibt das Licht, das der Wunsch auf die Wirklichkeit wirft, den Blick auf all jene hässlichen Stellen frei, an die sich das Auge schon lange gewöhnt hatte. Deswegen ist die Rede von einer »Flucht in die Phantasie« wenig sinnvoll und eine solche Flucht nur selten von Erfolg gekrönt. Zumindest gegenwärtig macht das Träumen das Leben nicht leichter, sondern schwerer. Es behindert das Eingewöhnen, Abfinden, Anfreunden. Das ist die Lehre vom Hans Guck-in-die-Luft: wer zuviel träumt, fällt in den Graben (wer zuviel guckt, guckt aus der Wäsche).


Wenn ich könnte, wenn ich könnte, wollte ich

Vom Maßstab der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse aus betrachtet, ist das die Formel der historischen Determination des Begehrens: Je weniger die Menschen machen können was sie wollen, umso weniger wollen sie wollen, (sich ernsthaft etwas wünschen). Wunschlos sind nicht die Glücklichen, sondern die, die nicht daran glauben, dass Wünschen etwas bringt. Aber die Wunschlosigkeit nichtrevolutionärer Subjektivität verschärft das Problem auf das sie reagiert. Denn wie sollen die Menschen machen was sie wollen, wenn sie gar nicht wissen (wollen), was sie wollen? Es steht also einiges auf dem Spiel wenn Wünsche nicht mehr ge- sondern verwünscht werden, und deswegen macht es Sinn, die Verfolgung aufzunehmen, sich auf die Suche nach den verlorenen Wünschen zu machen.

Eine Zeit lang habe ich mich der Hoffnung hingegeben, es bedürfe lediglich der Zeit – und zwar möglichst viel davon, um die Geschichte noch einmal gründlich zu durchleiden. Wenn genügend Tränen verweint wären, würde das schon einen fruchtbaren Boden für neue und gewagte Träume abgeben. Aber der Umgang mit Studierenden und anderweitig Arbeitslosen, mit Menschen, die Zeit haben, also das Privileg es sich so richtig schlecht gehen zu lassen (so schlecht gehen zu lassen, wie es ihnen eben geht) lehrt, dass selbst noch 24 Stunden zu wenig sind um den Schock, schon wieder mitten im Kapitalismus aufgewacht zu sein, auszukurieren. Der Glaube, diesmal habe mensch jemanden kennen gelernt, der von Neurosen und Depressionen, am besten gleich ganz von einer Psyche frei sei, wird in aller Regel enttäuscht. Woody Allen-haft hocken beinahe alle zuweilen auf dem Fußboden und stochern mit langen Fingern und mit der Hilfe von Professionellen in ihrer Seele herum. Das legt den Verdacht nahe, dass es sich beim Subjekt nicht um einen individuellen Irrtum handelt, sondern um einen historischen. Die Seele ist das Gefängnis des Körpers und der Wünsche. Aber wer sagt, dass es sich um eine Einzelzelle handeln muss?


Auf der Suche nach dem verlorenen Wunsch

Wenn das Subjekt die widersprüchliche, natürlich widersprüchliche, immer unabgeschlossene, nie totale, stets ambivalente, brüchige, selbstverständlich brüchige Subjektivierung der objektiven Gesamtscheiße ist, dann ist die Frage, ob ich Bauchschmerzen bekomme und Magenkrämpfe von den historischen Bedingungen abhängig unter denen ich die Bürgersteige begehe. Mit Genua schien die italienische Sonne auch den Trott deutscher Trottoirs zu bescheinen und das denken fiel mir plötzlich leichter, weil ich mich kurz dem Gefühl hingab, es könne irgendwann einmal von Belang sein, was ich mir so für Gedanken mache. Ebenso die Erfahrung des Studierendenstreiks 1997, den bspw. ich noch in der Schule verbrachte. Es ging nie um Bücher. Aber um das Aussetzen des Gefühls, dass nur noch eine Bombe Raum zum Atmen schaffen könnte. Erst das Außerkraftsetzen der Institution, ließ überhaupt denkbar werden, in welch undenkbaren Zustand »man« uns neun, zehn, dreizehn Jahre zu leben gezwungen hatte. Herden von Schülerinnen, die den Großteil ihres uringelben Lebens damit verbringen, sich an und unter einen Tisch zu zwängen, den zu bemalen nicht gestattet war, um das Sitzen zu lernen. Kaum eine hinterlässt spürbare Spuren (die Graffiti tief genug geritzt). Aber nicht eine von ihnen (und auch nicht alle zusammen) hatte irgendeinen Einfluss auf die Architektur der Gänge, der Stunden- oder gar der Lehrpläne. Was für ein undialektisches Verhältnis. Kaum mehr als ein beständiger, surrender Monolog. Auf die Erde geplumpst, von der Leine gelassen, dem Tafelbild gefolgt. Loslaufen, ohne sich umzudrehen. Zuhören, ohne zu sprechen. Sprechen, ohne gehört zu werden. Wie lange warten. Wie lange warten auf den Moment, gehört zu werden und etwas sagen zu haben. Warten solange bis der Zustand nicht eintritt.

Aber diese nüchterne und ernüchternde Betrachtung eröffnete sich nur der gar nicht nüchternen (von der unerwarteten Selbstermächtigung besoffenen) Betrachterin. Erst das Aussetzen der bis dorthin wirkenden (Schwer)Kräfte gab den Blick frei: wie schief und seltsam alles gewesen war (und weiterhin sein würde), wie unverständlich das Selbstverständliche dieses Alltags und wie berechtigt und verständlich das Unbehagen daran. Erst in der Aneignung wurde fassbar, wie sehr wir enteignet waren. Kurz gesagt: wir waren gänzlich unschuldig. Es waren nicht wir, die unser Leben gelebt hatten. Aber noch etwas anderes wurde durch die veränderte Perspektive sichtbar. Von hier oben, von Autodächern und Schulhofgiebeln, sah die Welt freundlicher aus. Geradezu hübsch ordnete sie sich gemäß des Blicks an, der – eine temporäre Imagination – den Feldherrenhügel eingenommen hatte. Hübsch und weit sah alles aus: Horizont, soweit das Auge reichte. So wurden wir von einer penetranten Toleranz befallen. Und wurden freundlich, geduldig gegenüber den Menschen (dort unten). Wir konnten ihnen viel Zeit lassen, von der wir in solchen Momenten dachten, dass die Leute sie bräuchten. Und gebrauchen würden.

Wenn Autodächer zu Teilen des Bürgersteigs werden und Bürgersteige zu Steinbrüchen, dann ist das nicht nur romantisch-kitschig – auch eine anregende Wirkung auf die Phantasie ist garantiert: Und Häuserwände werden zu Wunschzetteln. Das Aussetzen der herrschenden Verkettungen, Ende herkömmlicher Determinationen, öffnet eine Fülle von Möglichkeiten und vervielfacht das Wünschbare, weil es das Machbare vervielfacht. Aber solche Traumphasen der Geschichte sind begrenzt (auf Genua folgte 11 / 9 auf 97 98) und zeitweise selten. Es folgt: der Alltag. Und der kann sich bekanntlich hinziehen.


Sich lächerlich machen:

»Das ist doch ungerecht!«

»Auf der Demo. Vor der Absperrung Ketten bilden. Wütende Parolen schreien. Brüllen. In die lächelnden Gesichter der Bullen brüllen. Die Bullen lächeln. So behandeln Erwachsene Kleinkinder. Schlimm genug.«

Die beinahe unlösbare Aufgabe, heißt es, bestehe darin, sich weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht dumm machen zu lassen. Wenn es nur das wäre! Aber die Macht der anderen (der Bullen, Kontrolleure, Zeitungsleserinnen) macht sie freundlich, während mich meine Ohnmacht zur Therapeutin, Moralistin, zum Arschloch werden lässt.

»Seit zwei Jahren schon, habe ich keine Zeitung mehr angerührt. Wie auch. Nach jedem dritten Text aus der Tür laufen sich auf den nächsten Gullydeckel stellen und rufen: seht, so ungerecht ist die Welt? Genauso gut lässt sich der Klodeckel öffnen den Kopf hineinhalten, Zwiegespräche führen ... Stattdessen die Zähne wieder trennen, den Kiefer schonen, den offenen Mund wieder schließen. Das Brötchen runterschlucken, das angebissen neben dem Feuilleton liegt.«

Das Ausbleiben der Revolution schlägt auf den Magen, weil noch das Würgen, beinahe noch der Würgreiz im Halse stecken bleibt. Warum noch wütend werden, wenn aus der Wut keine Handlung folgt? Warum hinschreien, wenn zurückgelächelt wird? Warum sich aufregen, wenn nur Empörung herauskommt? Warum mit leiden, wenn nur das Mitleid übrig bleibt? (Jetzt: ist jedes Gefühl moralisch geworden. Und nicht mal Moralinsäure schmeckt noch scharf.) Die stete Wiederholung der Erfahrung, dass sich kein Einfluss auf diese Welt nehmen lässt, dass sie gänzlich unberührt von uns bleibt, führt zur Ontologisierung der Leere, die uns erfüllt: Es ist das Leben, das sinnlos erscheint. Nicht mehr.

Deshalb ist das Angebot der Macht so verlockend. »Ich geb dir ein klein wenig von mir«, sagt sie. Nur ein bisschen, gerade genug um davon zu kosten. Aber es reicht um den Hunger nicht mehr so stark zu spüren. Schon als Hausmeister, Busfahrerin, Vorgartenbesitzer lebt es sich angenehmer als so gänzlich unbeteiligt. Die Mächtigkeit des Stars, die Attraktivität dieses Bildes, dem alle nacheifern: »Berühmt werden!«, rührt daher, dass ein Star zu werden, die einzige Möglichkeit zu sein scheint, die die bürgerliche Gesellschaft bietet, um sprechen zu dürfen ohne sich zu weit korrumpieren zu müssen. Effekte zeitigen, etwas bewirken, Einfluss nehmen, die Welt verändern. Es scheint diese Punkte zu geben: Kommandotürme, Kanzeln, Sendestudios: Hört mich an, seht meine Taten, folgt meinem Winken. Es geht alles darum, möglichst schnell dorthin zu kommen, mit einem Fahrstuhl, besser noch mit einem Katapult, mit einem Beamstrahl. Denn jedes Kind weiß, dass »sie« dich fertig machen werden auf dem Weg dorthin, dass das, was von dir dort ankommt nur dieser spärliche Rest von Subjektivität ist, den es braucht um einige Farbakzente anders zu setzen, um den einen Regler hoch, den anderen ein wenig runter und dann alles wieder zurückzuschieben.


Auftritt: Das Subjekt ...

Wirklich mächtig sind die Mächtigen also nicht. Und außerdem: wer schafft es schon, Star zu werden? Grundlegend hilft in der Situation der Ohnmacht über die Ohnmacht hinweg, sich wenigstens diese als freigewählte zu imaginieren. Subjektiv ist die Fiktion von Souveränität insofern funktional und im Interesse der Individuen, als sie den Beherrschten und Unterworfenen ideell eine Macht zuspricht, die ihnen von der Herrschaft materiell, real genommen wurde. Wenn schon nicht sie, so sind doch zumindest ihre Gedanken frei, wenn ihr Wille auch keinerlei Auswirkungen hat, so ist es doch zumindest ihr eigener, der ihnen noch gehört, wenn ihnen schon alles genommen wurde. Und wenn sie auch nichts mehr beherrschen, so sind sie doch zumindest Meister der Selbstbeherrschung. Die Konstruktion des autonomen Subjekts schützt die Beherrschten vor der Erkenntnis ihrer Machtlosigkeit. Mit dem Wegbrechen jener Konstruktion, sähen sich die Menschen mit einer Ohnmacht konfrontiert, die das gewöhnliche, als Subjekt erlebte Maß, noch bei weitem übersteigen würde. Selbst der bescheidene Freiraum den die Zwänge des Alltags, die herrschenden Gesetze ihnen zum Handeln lassen, entpuppte sich als alles andere als frei. Nicht Herr im eigenen Hause zu sein, nie Täter, Opfer selbst noch der eigenen Taten – die Unerträglichkeit dieser Option ist der subjektive Antrieb, das Motiv, das die Konstruktion des Subjekts am Leben erhält.


... als Symptom und ...

Wenn das Subjekt die Bedingung seiner Existenz in der Ohnmacht des Individuums gegenüber seinem eigenen Schicksal hat, dann wird sich die Subjektivität ändern, wann immer Wechsel in den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen eintreten. Wenn die Zufälligkeit des eigenen Lebens abnimmt, wird sie sich öffnen (dem Wandel, den Wünschen, der Dissoziation, den Widersprüchen), sich lösen – denn darum geht es: Sich selbst los werden. Endlich. Jemand anderes werden. Umgekehrt wird sie sich festigen, rotieren, stampfen, wenn die Hilflosigkeit wächst, die Stringenz des Alltags zunimmt. Denn »Unrecht, Entrechtung, Ohnmacht macht wütend. Aber die Hilflosigkeit der Wut macht traurig. Es ist wie im US-amerikanischen Fernsehen beim Knastbesuch. Durch eine Glaswand hindurch die Welt betrachten, zusehen müssen. So in etwa muss sich das Leben hier anfühlen. Unbeschreibbar traurig das.« Wer von all den Tränen nicht auf immer ganz verschwommen sehen will, tut gut daran, zuweilen dies alles beiseite zu wischen – möglichst gründlich. Wir können Subjektivität – zumal linke – als Symptom dieser lebensnotwendigen Verdrängung lesen. Als Verdrängung der hilflosen Wut und der unerträglichen Traurigkeit. Wir können die Geschichte der Menschen als Symptomverlauf lesen. Als Geschichte der (schwappenden) Kämpfe und der wechselnden Symptome. Aber der objektive Gang der Geschichte schlägt sich nicht einfach (eins zu eins) in den Subjekten nieder, auch wenn er sie zuweilen niederschlägt (niedergeschlagen macht). Denn das Symptom ist kreativ. Es konserviert die Verhältnisse ebenso wie es sie transformiert, ertragbar macht. Das Subjekt wird von seiner Psyche nicht wie von einem Schicksalsschlag getroffen. Es passt seine Krankheiten den objektiven Erfordernissen ebenso wie seinen eigenen Bedürfnissen an: Um Handlungsfähigkeit zu garantieren. (Deswegen wäre es falsch, beispielsweise den Zynismus zu pathologisieren. Er kann notwendig sein. Und erfrischend. Manchmal fällt einem mehr einfach nicht ein.)


... Symptomverlauf (historisches Syndrom)

Wolfgang Pohrt hat Anfang der siebziger Jahre beschrieben, wie die auf 68 folgende Erkenntnis, dass auf die Revolution wohl noch ein wenig gewartet werden müsse, sich in der Subjektivität derer niederschlug, die sie machen wollten:

»Ausdruck jenes Mechanismus, der allmählich alle Lebensbereiche der Genossen durchdrang, und der nicht die Rebellion gegen die Erniedrigung, sondern diese selbst honoriert, ist auf Gruppentreffen der fürsorgliche Ton, die ausbeuterische Anteilnahme, wenn, weil keinem etwas Vernünftiges einfällt, schließlich dazu aufgefordert wird, reihum einmal mit den eigenen Problemen rauszurücken. Die nur als Kritik richtige Erkenntnis, ein jeder sei zuweilen ein armer Teufel, dumm und unterdrückt, führt nicht mehr zu verletztem Stolz und wütendem Aufbegehren, sondern sie wird schamlos breitgetreten und als beglückendes Erlebnis einigender Verbundenheit in gemeinsam ertragener Unterdrückung genossen. Weil solche Kameradie die Menschen nicht bestätigt, wo sie sich wehren, sondern wo sie wehrlos leiden – nichts wollen, nichts wissen, nichts können und nichts tun –, herrscht grenzenlose Bereitschaft zu menschlichem Verständnis, und schon daran zu kratzen ist tabu. Milde Rücksichtsnahme produziert eine Atmosphäre wie im Altersheim. In solchermaßen wattiertem Verkehr kann sich kein Widerstand entwickeln, wird doch auch niemand wirklich ernst genommen.«

Den maskulinistischen Sound einmal beiseite gelassen, der sich durch solches Gepolter zieht, gibt dieser Text Zeugnis von einem objektiven historischen Prozess, der den Aufbruch von 68 in das Alternativmilieu der achtziger Jahre transformiert und die großmäuligen Revolutionäre in Selbsthilfegruppetherapeutinnen verwandelt. Während sich die Strateginnen auf anhaltende Wartezeiten einrichteten und spirituellen Proviant zu packen begannen für den langen Marsch durch die Institutionen, entwickelte sich eine adaptive Symptomverschiebung, die schonend auf Stimmbänder und Nerven wirkte. (Get up, stand up, sit up – auf die Dauer macht das Muskelkater.) Die veränderte Subjektivität konservierte die Niederlage und ermöglichte es gleichzeitig, zwischen den Frustrationen der kleinen Schritte nicht zu verbittern.

In den Achtzigern beschreiben Oliver Tolmein und Detlef zum Winkel in ihrem Buch »Nix gerafft. Zehn Jahre deutscher Herbst und der Konservativismus der Linken« den Zustand linker Subjektivität unter den Bedingungen der zum (ökologisch, technischem) System gewordenen Gesellschaft so:

»Beinahe zwangsläufig erstirbt vor der Größe der befürchteten Katastrophen die Möglichkeit des einzelnen, einer Bürgerinitiative, einer kleinen linken Gruppe oder Partei, den Lauf der Dinge zu beeinflussen. Nichts liegt da ferner als das Naheliegende: den Leuten klar zu machen, dass eine Revolution weniger gefährlich ist als ein Atomkrieg und sogar als ein Supergau. Bekommt man diesen Gedanken überhaupt zu hören, dann in der Form: eigentlich...ja. Aber eine Revolution ist sowieso unmöglich, deshalb hat diese Überlegung keinen Sinn. Nein, wir sind ohnmächtig, hilflos, passiv und gerade das begründet unsere Unschuld.«

Statt den Herrschenden, den Verhältnissen, der Gesellschaft stehen den Menschen jetzt die Systeme gegenüber, die sich bekämpfen und deren Wechsel vom Kalten- zum Atomkrieg jederzeit befürchtet wird. Die Strukturen scheinen sich gänzlich von menschlicher Praxis abgekoppelt zu haben und so ist der Modus in denen sie dem Subjekt zugänglich werden, einer der Angst, des Ausgeliefertseins. Ein verständnisvoller, akzeptierender Umgang mit Hilflosigkeit und Schwäche ist dem Ausmaß der erlebten Ohnmacht nicht mehr adäquat. An seine Stelle tritt eine offensive Affirmation der Unschuld, die es erlaubt, die Tatenlosigkeit als eigene Tat zu erleben. An die Stelle des Paradigmas der Sozialarbeiterin tritt das der Moralistin.

Moralische Krisenbewältigung blieb als hegemoniales Modell auf die achtziger Jahre beschränkt. Mit dem 89er Trauma fällt mehr als nur die Perspektive der geschichtlichen Machbarkeit auch der normative Horizont weg, auf den die moralische Inszenierung angewiesen ist [siehe den Text von Andrea Jäger in diesem Heft]. Die Revolution erscheint nicht nur als unmöglich, sondern auch als unsinnig, sinnlos. In dem sich das Subjekt von der Geschichte gänzlich abspaltet, enthebt es sich auch der Notwendigkeit, sich irgendwie dazu zu verhalten. »Das geht mich alles gar nichts an.« Gleichzeitig spricht die neoliberale Ideologie gerade durch die Trennung von der Gesellschaft dem Individuum eine größere Macht, Freiheit zu. Eine jede wird zur Schmiedin ihres eigenen Unglücks. Die Ohnmacht wird so in eine persönliche Niederlage transformiert, sie wird zum Ausdruck eines individuellen Scheiterns. Die Hilflosigkeit ist weder der abstrakten Gesellschaft noch einer konkreten Autorität geschuldet, die Schuldigen sind leichter ermittelbar. Die Täterin hat Namen und Gesicht: Sie schaut dich aus dem Spiegel an. Wenn sich die Trauer der Hilflosigkeit mit der neoliberalen Figur einer autoaggressiven Geste so erfolgreich abwehren lässt, dann ist es nicht unverständlich, warum einige Linke der älteren Generationen ihre ganze Wut gegen das Projekt richten, dem sie so viel Lebenszeit geopfert haben, auf das sie alles gesetzt haben und das ihnen dennoch nie den Sieg, aber viele Niederlagen bescherte: die Linke. Wie viel investierte Liebe und Hoffnung, was für schreckliche Enttäuschungen und infolge dessen was für eine heftige Wut! Praxis ist nicht nur nicht möglich, sie darf auch nicht mehr möglich sein. Nie wieder soll es zu so einer Enttäuschung kommen (und wir können sie verhindern!). Da kann es kein Verzeihen geben.

Wenn Subjektivität das kreative Symptom historisch wechselnder Kräfteverhältnisse ist, dann transformiert sie die Bedingungen ihrer Entstehung ebenso wie sie sie konserviert. Deswegen bedarf es eines genealogischen, historischen Blicks, um die Subjekte in die Schieflage zu versetzen, die sie ins Rollen bringen könnte. Es heißt, dass die Frage der Praxis von der Praxis beantwortet werden müsse. Gegenwärtig aber befinden wir uns im Wartezimmer und der Geruch von Desinfektionsmittel strömt über die Sitze des angemieteten Raums. Aber wenn das Subjekt die Wünsche kaserniert indem es die Niederlagen konserviert, dann macht es durchaus Sinn, nach einer Praxis (des Dosenöffners) zu suchen, die die Konservenbüchsen des Subjekts knacken könnte.


Auf die Frage nach der Praxis mal eine Antwort

Die volle Erlebnisfähigkeit, jetzt sofort: das wäre eine gutgemeinte Forderung mit schmerzhaften Konsequenzen. Es macht wenig Sinn, gerade im Winter nackt rumlaufen zu wollen. Niemand könnte sich alle Schuftigkeiten dieser Welt auch nur einmal, nur ein einziges Mal vor Augen führen ohne potzblitzlich zu erblinden. Dafür reicht wesentlich weniger. Mit unbeschnittenem Erleben, Erleiden ist niemandem geholfen. Oder wie es meine Therapeutin formulierte, als ich sie mit Adornos Vorwurf, die Therapie betreibe lediglich Integration, konfrontierte: Das tut doch dem Roland Koch nicht weh, dass es Ihnen schlecht geht.


Zur Täterin werden

Jeden Mittag beim Kaffee trinken ein bisschen Schuldgefühle, wegen der Ausbeutung der Kaffeebauerinnen. Das ist besser als sich einzugestehen, dass wir für all die Übel des Kapitalismus (Ausbeutung usw.) gar nichts können; wir können nichts dafür, aber auch nichts dagegen. Es ist angenehmer sich schuldig zu fühlen für Verbrechen, die wir nicht begangen haben, als einzugestehen, dass wir zu keinem Verbrechen in der Lage wären, zu diesem nicht und auch zu keinem anderen (das es wert wäre, sich schuldig zu fühlen dafür). Nein, wir sind die Guten. Wir könnten keiner Fliege etwas zu Leide tun (geschweige denn der Regierung). Aber wie zum Teufel, sollen wir dann die Revolution machen?

Ja, wenn es nach uns ginge. Ja, wenn »es« zu uns käme. Aber die Dinge kommen nicht zu uns. Sie fallen uns nicht in die Hände schon gar nicht in solche mit sauberen Fingern. [Und mal ehrlich: Was ist schon diese Streberspinne gegen den Kobold, der dicke T2 gegen den schnellen TX, der prüde Superman gegen den hübschen Lex Luther? Es gibt nichts langweiligeres, als zu den Guten zu gehören.] Und wenn es auch keine Täterin hinter der Tat gibt, so gibt es doch eine danach.


Was tun? Trauern!

In einem Punkt haben es Linke schwerer als normale Menschen. Wenn sie die Welt verändern wollen, weil sie schlecht ist, können sie nur schwerlich sagen, eigentlich sei es hier ja ganz gut. Damit fällt eine entscheidende Vermeidungsstrategie weg: Sich die ganze Zeit mit fieberhaftem Ehrgeiz ins Spiel stürzen um am Ende (natürlich nur wenn es kein siegreiches Ende war) zu behaupten, dieses Konkurrenzgehabe sei machistisch, das Spiel sowieso langweilig und es habe bei einem selbst nie ein Interesse zu gewinnen bestanden. »Merkst du eigentlich, dass du hier eingesperrt bist?« »Warum, ich will doch sowieso nicht raus.« Wer beschlossen hat, dass diese Gesellschaft eine der Herrschaft sei, die gefälligst bekämpft und abgeschafft gehöre, kann sich nicht im Nachhinein hinstellen und behaupten, er habe die anderen mit Absicht gewinnen lassen. Eine Möglichkeit, Niederlagen besser auszuhalten, ist, mit ihnen hauszuhalten. (Wer nicht wagt, verliert nicht.) Es ist nicht die einzige. Um einer Niederlage nicht gänzlich zu erliegen ist es weder nötig, sie (postoperaistisch) in einen Sieg umzudeuten, noch ist es dienlich, die Niederlage (adornitisch) zur allgemeinen Lage zu erklären. Stattdessen? Die Antwort darf nicht vereinzelt ausfallen, sondern kollektiv, netzförmig, massenhaft: worauf es jetzt ankäme, wäre Trauerarbeit zu leisten.

bini adamczak


Gelesen:


Wolfgang Pohrt (1995): Theorie des Gebrauchswerts. Berlin, S.27

Oliver Tolmein und Detlef zum Winkel (1987): »nix gerafft«. 10 Jahre Deutscher Herbst und der Konservativismus der Linken, Hamburg, S.141