Ankunft in der Gegenwart

Drei historische Modelle einer Literatur nach der Utopie



Mit dem Niedergang der sozialistischen Staatenwelt scheint auch das Schicksal großer Menschheitsentwürfe endgültig besiegelt zu sein. Allenthalben war vom Ende der Utopie die Rede, und zwar weniger in Gestalt einer Forderung konservativer Kreise, als vielmehr in Gestalt einer Erkenntnis, eines historischen Fazits, dem sich niemand länger verschließen könne. Doch so endgültig sich diese historische Lehre auch vorgetragen hat, tatsächlich wiederholt sich in ihr ein Argumentationsmuster, das – blickt man nur 150 Jahre zurück – schon mehrfach Konjunktur hatte. Es begleitet regelmäßig das Scheitern gesellschaftlicher Gegenentwürfe und zeigt die Ablösung eines kulturellen Standards an. Nicht länger nämlich mündet das Scheitern solcher Entwürfe in einem trotzigen »Jetzt erst recht«, sondern die Enttäuschung richtet sich gegen das Ideal selbst, dem man noch bis vor kurzem anhing. Diese Umwertung markiert nicht allein und sicher nicht einmal hauptsächlich ein literarisches Ereignis. Dennoch dokumentieren die literarischen Texte einen spezifischen Beitrag, den die Literaturgesellschaft beim Zustandekommen neuer kultureller Verbindlichkeiten geleistet hat. Dabei formuliert sie selbst Standards, das Ende der Utopie zu vollziehen. Um drei solche Muster geht es im folgenden: den bürgerlichen Realismus nach der 1848er Revolution, die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik und um eine aktuelle literarische Tendenz (für die sich noch kein Etikett durchgesetzt hat). Bei aller Unterschiedlichkeit vollzieht sich in der Literatur dieser historischen Phasen eine vergleichbare Wendung zum Realismus, um deren Spezifika es im Folgenden geht. Meine Überlegungen widmen sich Prozessmustern literarisch-kulturellen Wandels, in denen die Literatur ihr Verhältnis zur Realität neu bestimmt.

All diese Neubestimmungen haben einen gemeinsamen Ausgangspunkt: Die Literatur fasst den Utopieverlust nicht tragisch auf, sondern nimmt ihn hin, begreift ihn sogar als eine Art Befreiungsschlag. Exemplarisch die Begeisterung Fontanes über den Realismus seiner Zeit: »Die Welt ist des Spekulierens müde und verlangt nach jener ›frischen grünen Weide‹, die so nah lag und doch so fern.« (1853) Drei Möglichkeiten lassen sich beobachten, jene »frischen grünen Weiden« literarisch zu erschließen. Diese Möglichkeiten stehen in einem logischen Zusammenhang:

1. Die Literatur hält an dem idealen Anspruch fest, die Wirklichkeit müsse subjektgemäß geordnet sein. Dafür aber schätzt sie die Wirklichkeit neu ein, und zwar so, dass dieser Anspruch nicht länger als Polemik gegen die Wirklichkeit, sondern als Weg zu einer neuen Übereinstimmung mit ihr erscheint.

2. Die Literatur hält den Anspruch, die Wirklichkeit müsse subjektgemäß geordnet sein, aufrecht. Dafür aber definiert sie das Subjekts neu, und zwar so, dass dieser Anspruch als realisierter erscheint, insofern das Subjekt seine Maßstäbe der überlegenen Wirklichkeit angleicht.

3. Die Literatur führt den Anspruch, die Wirklichkeit müsse subjektgemäß geordnet sein, ad absurdum, insofern dieses Verhältnis nicht existiere und deshalb nicht misslingen könne. Was dem Subjekt gemäß ist, macht es im Verhältnis mit sich selbst aus, ohne seinen Sinnentwurf ernsthaft auf die Realität zu erstrecken.

Die Literatur hat alle drei Möglichkeiten ergriffen, und zwar historisch in der hier genannten Reihenfolge.


I

Die Wirklichkeit wird entlastet vom Rigorismus des Subjekts, das auf seiner Gültigkeit beharrt: Bürgerlicher Realismus.

1858 bekennt der Literarhistoriker Julian Schmidt: »Der Glaube der vergangenen Zeit war: das Ideal sei der Wirklichkeit Feind und hebe sie auf; unser Glaube dagegen ist, daß die Idee sich in der Wirklichkeit realisiert, und diesen Glauben halten wir für das Prinzip der Zukunft.«

Dieses Bekenntnis zeigt: Die Literatur befand sich angesichts der gescheiterten 48er Revolution nicht einfach auf einem erzwungenen Rückzug. Den Verlust der Ideale als kritische Instanz betrachteten etliche Autoren durchaus als Gewinn, insofern sich nun die Wirklichkeit positiver wahrnehmen lasse, ohne dabei auf die Ideale als Berufungsinstanz verzichten zu müssen.

Dass die Wirklichkeit der Idee bereits entspreche, wurde freilich nicht nur geglaubt, sondern literarisch als wirklichkeitsgemäße Weltanschauung inszeniert. Das meinte etwas anderes als platte Beschönigung. Im Gegenteil, die Werke zeigen die Welt als prosaisch geordnete, d.h. als subjekt- und vernunftferne Welt. Dieser Befund reichte tiefer als noch bei Hegel, der darin ein phänomenologisches Problem sah. Daß sich die Zwänge der sich revolutionierenden Ökonomie gegen die Subjekte geltend machen, zeigen Romane wie »Zwischen Himmel und Erde« von Otto Ludwig, ebenso wie Theodor Storms frühe Novellen. Wilhelm Raabe beschreibt die daraus folgenden sozialen Nöte. Seine »Chronik der Sperlingsgasse« entwirft regelrecht ein Panorama von modernen Formen der Armut und bedrückenden Abhängigkeiten. Wo also machten die Autoren die Sphäre des Idealen dingfest? Friedrich Theodor Vischer antizipierte mit seiner Antwort auf diese Frage wesentliche Erscheinungsformen des Romans in den fünfziger, sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus:

»[...] die Geheimnisse des Seelenlebens sind die Stelle, wohin das Ideale sich geflüchtet hat, nachdem das Reale prosaisch geworden ist. Die Kämpfe des Geistes, des Gewissens, die tiefen Krisen der Ueberzeugung, der Weltanschauung, die das bedeutende Individuum durchläuft, vereinigt mit den Kämpfen des Gefühlslebens: dieß sind die Conflikte, dieß die Schlachten des Romans.«

Zumeist sieht man darin eine Flucht des bürgerlichen Realismus in die Innerlichkeit. Doch Vischer relativiert zwar den Anspruch auf Weltgeltung des Subjekts, er gibt ihn aber nicht völlig auf. Das Schreiben setzt für ihn beim Subjekt an mit seinen Wünschen, seinem Wollen, seinen Entwürfen und Vorstellungen. Der einzelne erscheint gerade nicht als Funktionär einer sozial, ökonomisch oder ähnlich definierten Rolle. Allerdings stößt das Subjekt auf Widerstände. Wie die bürgerlichen Realisten diese Widerstände bestimmen, ist entscheidend. Sie ergeben sich nämlich nicht aus sachlichen Zwängen, sondern sind moralischen Ursprungs – bei Vischer: Gewissen, Überzeugung, Weltanschauung. Das Subjekt gerät in Konflikt mit seinen eigenen oder allgemeinen Wertmaßstäben. Die Erzählungen der bürgerlichen Realisten zeigen die Zerstörungskraft solcher Konflikte. Einzelne gehen zugrunde, wenn ihre Subjektivität in Widerspruch zu allgemeinen Werten gerät. Nur die Figuren werden glücklich, die sich in die Verhältnisse bescheiden und in ihnen versuchen, nützlich zu wirken. Dabei bleibt das Glück als Resultat eines Verzichts kenntlich. Der jedoch ist frei erbracht. Er beruht auf Einsicht gegenüber Grenzen der Subjektivität, die sittlich-moralischer Natur sind und deshalb, anders als die Sachzwänge der modernen Welt, geistige Verbindlichkeit haben. Eben deshalb bewirkt der Verzicht nicht Leid sondern Glück. Emphatisch begreift Melanie in Fontanes »L’Adultera« den Bankrott ihres zweiten Ehemannes Rubehn als Chance: »Ein neues Leben! Und das erste ist, wir geben diese Wohnung auf und suchen uns eine bescheidenere Stelle.« Zum »Hunger nach den Idealen« kommt der »Hunger nach dem Wirklichen« wie es in Raabes »Hungerpastor« heißt. Seine »Chronik der Sperlingsgasse« schildert, wie sich die dort in Armut und beschränkten Verhältnissen lebenden Bewohner dieser Verhältnisse ungeachtet so etwas wie Souveränität bewahren, indem sie den Verhältnissen Humanität und Solidarität, auch eine gute Portion Humor abtrotzen.

Das gelungene Arrangement mit der Wirklichkeit symbolisiert die Möglichkeit des Subjekts, sich in der subjektwidrigen Wirklichkeit geltend zu machen. Die Einheit von Subjekt und Welt erhält darüber den Charakter eines objektiven Befundes, auch wenn diese Objektivität in vielen Werken nur mehr an den Rändern der modernen Welt zu haben ist.


II

Das Subjekt wird ummontiert, so dass es sich in der Anpassung an die Wirklichkeit realisiert: Neue Sachlichkeit

Die Neue Sachlichkeit ist eine zeitlich und räumlich relativ begrenzte literarische Richtung, der sich vor allem Schriftsteller der Verlierernationen des Ersten Weltkriegs anschlossen. Die Niederlage dieser Nationen weckte bei vielen Künstlern, namentlich den Expressionisten, die Hoffnung auf einen durchgreifenden gesellschaftlichen Wandel, die aber spätestens 1923 mit der Konsolidierung der Weimarer Republik als gescheitert angesehen wurden. Doch nicht allein der Misserfolg dieser Hoffnungen begründete die neusachliche Variante, das Ende der Utopie literarisch zu statuieren, ohne daran zu verzweifeln. Der expressionistische O-Mensch-Appell blamierte sich zwar an der politischen Realität, doch dem bloßen Hinweis auf eine Differenz zwischen Idee und Wirklichkeit hatten die Expressionisten gerade die Dringlichkeit, ja sogar die Unwidersprechlichkeit ihres Ideals entnommen. Mit der Abkehr vom Expressionismus bilanzierte die Literatur hingegen mehr als dessen Scheitern, nämlich die Notwendigkeit dieses Scheiterns. Die Ideale selbst und damit der Gegensatz, den sie zur modernen Welt eröffneten, erschienen nun als prinzipieller Irrtum.

Antiidealismus prägt die Literatur der Weimarer Republik. Aus dem gesamten Repertoir des »Desillusionsrealismus« treten Werke hervor, die das Feld für ein neues positives Verständnis der Moderne und für einen neuen Subjektbegriff bereiten. Dessen Grundlage hat Brecht 1931 im Rückblick auf die neusachliche Dramatik treffend beschrieben:

»Die materielle Größe der Zeit, ihre technischen Riesenleistungen, die gewaltigen Taten der großen Geldleute, selbst der Weltkrieg als ungeheure ›Materialschlacht‹, vor allem aber das Ausmaß von Chance und Risiko für den einzelnen – solche Wahrnehmungen bildeten die Pfeiler dieser jungen Dramatik [...].«

Brechts Darstellung lässt sich entnehmen, dass der neue positive Blick an der modernen Welt zunächst einmal nichts anderes als der überkommene expressionistische entdeckt: Kommerz, Konkurrenz und Gewalt – alles in unvorstellbaren Ausmaßen. Aber unter dem Gesichtspunkt ihrer Machtfülle und Durchschlagskraft verlangen sie nun den Schriftstellern Respekt ab. Der scheinbar unwidersprechliche Erfolg der materiellen Welt konnte – so der Schluss – nur für eine ihr eigene Größe sprechen. So übersetzte sich Erfolg in Legitimität.

In dieser Gleichung gilt das Subjekt freilich zunächst einmal nichts. Es ist ausschließlich bestimmt als Anhängsel einer sachlichen Welt, die jeden zum Erfüllungsgehilfen ihrer Notwendigkeiten macht. Sich als Subjekt gegen diese Verhältnisse zu behaupten, erscheint von vornherein aussichtslos. Die neusachliche Literatur führt das traditionell bestimmte Subjekt, das seine Wirksamkeit im Anspruch auf Humanität, Solidarität, Gerechtigkeit und ähnliche Werte entfaltet, als bis zur Lächerlichkeit entmachtetes vor. So bringt etwa Georg Kaiser in seinem Theaterstück »Nebeneinander. Volksstück 1923« einen Pfandleiher auf die Bühne, der in einer plötzlichen Anwandlung von Mitmenschlichkeit meint, einen Selbstmord verhindern zu müssen. Niemand außer seiner Tochter unterstützt ihn dabei. Doch so herzlos und gleichgültig sich die Umwelt zeigt, sie verhält sich darin – wie der Zuschauer von Beginn an weiß – der Sachlage adäquat. Die angebliche Selbstmordkandidatin denkt nämlich gar nicht daran, sich umzubringen. So um ihren Gegenstand gebracht erweist sich die vermeintlich höhere Mission des Pfandleihers als singuläre fixe Idee.

Die Desillusionierung des traditionellen Subjektbegriffs findet sich in vielen kritischen Zeitromanen der Weimarer Republik: in Döblins »Berlin Alexanderplatz«, Kästners »Fabian«, Martin Kessels Angestelltenroman »Herrn Brechers Fiasko« etwa. Für eine positive Sicht auf die modernen Verhältnisse aber musste sich der Subjektbegriff einer neusachlichen Generalüberholung unterziehen.

Das neusachliche Subjekt definiert sich ganz nach Maßgabe der materiellen Wirklichkeit. Gerade aber in seiner Abhängigkeit von der Definitionsgewalt der Verhältnisse, gewinnt – dies die paradoxe neusachliche Lesart – das Subjekt seine Souveränität gegenüber diesen Verhältnisse: Ihnen zu entsprechen, macht seine Überlegenheit aus. Nach diesem Muster sind die literarischen Figuren der Neuen Sachlichkeit konstruiert. Sie sind nüchtern und emotionslos, zeichnen sich durch den Willen zur Durchsetzung aus, zeigen Ellenbogen, Berechnung, skrupellose Härte und Gewaltbereitschaft. Dabei sind sie nicht einfach Charaktermasken, die instrumentalisiert werden, sie entfalten vielmehr ihren nützlichen Charakter zu eigenem Format. So gilt schließlich die Gleichung, dass der neusachliche Mensch in dem Erfolg, den er den Belangen von Geschäft und Gewalt verschafft, sich selbst realisiert. Dafür stehen in Georg Kaisers »Nebeneinander« die Figuren Neumann und Borsigs Schwester: eiskalte, rücksichtslose Geschäftsleute. Selbst ein erfolgreicher Börsianer muß anerkennen, daß solche Typen geradezu ein Recht auf Erfolg haben: »Das hat Ellbogen – dieser Neumann. Wie sich das unter dem Frack spannt – phänomenal. Das ist der Typ, der durchkommt.« In den neusachlichen Versionen des Stücks »Mann ist Mann« betont Brecht die Identität von Anpassung und Selbstverwirklichung, indem er die Umwandlung des treuherzigen Packers Galy Gay zur militärischen Kampfmaschine als Persönlichkeitsgewinn ausgibt. Die Schlussrede der Witwe Begbick in der Fassung von 1928 feiert den »neuen Mann« als den »besseren Mann«.

Der letzte Teil von Hermann Brochs »Schlafwandler-Trilogie«, »Huguenau und die Sachlichkeit« markiert die Grenze des neusachlichen Subjekts. In der Figur des Huguenau gelangen dessen paradoxe Elemente – vollständige Anpassung an die Zeit und ihre Notwendigkeiten und Selbstverwirklichung – nahtlos zur Deckung. Der in die Erzählung hineinmontierte Essay »Zerfall der Werte« aber reflektiert diese Entsprechung als höchste Form der Irrationalität, die sich selbst sprengen müsse.


III

Wirklichkeit und Subjekt werden vom Legitimationsanspruch entlastet: Literatur nach der Wende

Mit dem Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten 1990 wurde erneut das Ende aller Utopien ausgerufen. Wieder zeigten sich Schriftsteller davon betroffen. Einige schwörten ihren alten Ideen ab. Der Satz »Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt« erlebte eine bezeichnende Modifikation: »Wer sich nicht ändert, lebt verkehrt«.

Das proklamierte Ende der Utopie bildet für viele, vor allem jüngere Autoren den Ausgangspunkt ihres Schreibens. Dabei kristallisiert sich in ihren Erzählungen und Romanen, die im Wende- und Nachwendedeutschland und häufig an dessen Schnittstelle Berlin spielen, eine dritte Variante heraus, den Utopieverlust literarisch zu bewältigen, ohne ihn zu beklagen. Der bürgerliche Realismus und die neue Sachlichkeit haben sich von den Idealen getrennt, ohne die Wirklichkeit letztlich aus ihrer Legitimationspflicht zu entlassen. Eine Art Real-Idealismus entstand, einerseits durch die Moralisierung der Wirklichkeit (bürgerlicher Realismus), andererseits durch die Amoralisierung des Subjekts (Neue Sachlichkeit). Die Werke der neunziger Jahre sind statt dessen ohne Trauer um den verlorenen Boden und zugleich voller Distanz zum vereinigten Deutschland und seiner Metropole. Stilistisch äußert sich diese Distanz in einer Tendenz zur Satire und Groteske.

Großen Erfolg erzielte der gebürtige Ostberliner Thomas Brussig 1995 mit seinem Roman »Helden wie wir«. Diese Satire auf die deutsche Untertanenmentalität führt die Behauptung ad absurdum, das Volk habe die Mauer zu Fall gebracht. Der Erzähler mit dem unaussprechlichen Namen Klaus Uhltzscht, Jahrgang 1968, Bürger der DDR, outet sich als wahrer Urheber des Mauerfalls. Klaus U., Sohn einer Hygieneinspektorin, arbeitet wie sein Vater für die Staatssicherheit. Von klein auf bemüht, den Anforderungen seiner Umwelt in Sachen Gesundheit, Ordnung und Anstand zu genügen, wird er so verklemmt, dass er sich unaufhaltsam zum Perversen entwickelt. Hier liegt die Auflösung des Geheimnisses vom Mauerfall. Während die Massen einigen wenigen Grenzsoldaten gegenüberstehen und es nicht wagen, diese beiseite zu schieben, profiliert sich Klaus als Exhibitionist. Sein außergewöhnlich großes Geschlechtsteil – Resultat einer grotesken Bluttransfusion, die Erich Honnecker das Leben rettete – verblüfft die Grenzer derart, daß sie den Durchgang in den Westen freigeben. Ein perverser Stasi-Mitarbeiter hat den Mauerfall verursacht – das ist die »historische Wahrheit«, die Klaus Uhltzscht aufdeckt.

Diese absurde Sinnstiftung der Wende ist eine Groteske auf alle Versuche, dem Wendegeschehen eine höhere Gerechtigkeit beizumessen – Versuche, die der Erzähler überall in Rezensionen entdeckt und ironisch zitiert. Die öffentlichen Sinnstiftungen erweisen sich als haltlos, ohne die gängige Umkehrung, die Idealisierung der DDR, ins Recht zu setzen. Die Destruktion der Sinnalternativen legt vielmehr einen Sinn frei, der schlicht absurd ist, ein – so Klaus U. – »Missing link der jüngsten deutschen Geschichte« (322), das mit dieser Geschichte in keinem nachvollziehbaren Zusammenhang mehr steht. Brussigs Roman löst das historische Ereignis aus dem Diskurs der Legitimation heraus und trennt es davon gänzlich ab. Die Geschichten des Sinns führen gegen das wirkliche Geschehen ein Eigenleben. Der Versuch, sie auf das Wirkliche zu beziehen, zeigt nur die Unangemessenheit des Bezugs – ohne daß eine angemessene Bedeutungsebene sichtbar würde. Diese Trennung von Sinndeutung und historischer Wirklichkeit bleibt in Brussigs Roman allerdings noch ambivalent. Ihr fährt das satirische Moment in die Parade, das die Möglichkeit selbstbewusster Teilhabe an der Geschichte ex negativo offenhält. Andere Autoren gehen weiter.

Etwa Ingo Schulze mit seinen »Simple Storys«, erschienen 1998. Er stellt die Trennung von Sinndeutung und Wirklichkeit als Existenzform des Subjekts dar. Dieser »Roman aus der ostdeutschen Provinz« sammelt Episoden und Fragmente aus dem Nachwende-Leben der Bewohner von Altenburg, darunter: Arbeitslose Akademiker, Kellnerinnen und Künstler, Politiker und Mediziner, Unternehmer und Freunde, Wessis und Ausländer. Stilistisch zerschlägt er alle Einheitsvorstellungen dieser Biographien. Historische Gegebenheiten, soziale Gefüge, ökonomische Beziehungen, persönliche Bekanntschaften und Zufälle verzahnen sich zu einem Zusammenhang, der auf keinerlei höhere Bedeutungsebene verweist, und der den Bewohnern als kontingente Macht entgegentritt.

Aus der Perspektive ihrer Lebensverhältnisse erscheinen die Figuren als Spielball letztlich undurchschaubarer Kräfte. Aus der Perspektive ihres Selbstbewußtseins aber sind sie die Subjekte des Geschehens. So unterschiedlich ihre Selbstreflexionen sind, alle kommentieren das eigene Leben als Vollzug eigener Maßstäbe und Notwendigkeiten. Diese Form ideeller Souveränität führen die »Simple Storys« in all ihrer Haltlosigkeit, bis hin zur Absurdität vor. Da gibt es z.B. Dr. Barbara Holitzschek, die sich partout einbildet, sie habe einen Dachs überfahren, den sie nun dem Museum zum Ausstopfen stiften möchte: »Dann wars nicht ganz umsonst«. Doch später ahnt der Leser, bei dem Dachs handelte es sich wohl eher um eine Radfahrerin, und zwar tragikomischerweise um Andrea Meurer. Sie, die sich wegen Arbeitslosigkeit keinen Führerschein mehr leisten konnte und erst seit kurzem Rad fuhr, hatte sich ihre materielle Klemme nach besten Kräften in die Chance übersetzt, Radfahren sei gar nicht schwierig und sie wundere sich, »warum sie das nicht schon früher gemacht habe«. Die Interpretationen sind nichts als teuer erkaufter billiger Trost, den das praktische Leben dauernd blamiert. Dennoch führen derart handfeste Widerlegungen keineswegs zur Destruktion der Sinnkonstrukte. Sie mögen als Erklärungsmodelle der Wirklichkeit lächerlich sein. Als Modelle der Selbstbespiegelung aber erfüllen sie ihre Funktion: Sie erzeugen das Subjekt, das sich in der Sinndeutung dann seiner Wirksamkeit versichert.

Ob die Verhältnisse subjektgemäß sind, entscheidet sich nicht an der Wirklichkeit, sondern ist eine Frage der individuellen Interpretation. Deren Gültigkeit hängt einzig von ihrem Zustandekommen ab, nicht von einem empirischen Beweis. Konsequent vollendet Birgit Vanderbeke diese Lesart in ihrem Roman »Ich sehe was, was du nicht siehst«, der lange auf den Bestsellerlisten stand. Sie erzählt von einer Frau, die ihren Wohnort, Berlin nach der Wende, aufgibt, um mit ihrem Sohn in Südfrankreich ein neues Leben aufzubauen. Deutschland – so begründet sie den Weggang – hält für sie nichts Neues, Unerwartetes mehr bereit. Überall gleichlautende Straßennamen, Gaby benamste Grundschullehrerinnen, bequeme Briefträger, furchteinflößende U-Bahnen des Nachts... In Südfrankreich begegnet ihr eigentlich nichts anderes: Festgefahrene Verhaltensweisen und Rituale wie etwa Schnäppchenkauf zu Beginn des Schuljahrs oder Stierkampf. Für sie aber besteht ein Unterschied: Die Einordnung in die Berliner Verhältnisse erschien ihr erzwungen und alternativlos, die Einordnung in die ungewohnten französischen Lebensbedingungen wählt sie aus freien Stücken. Die Erzählerin demonstriert, dass einzig die Möglichkeit, sich freiwillig einzufügen, darüber entscheidet, ob sich das Subjekt in den Verhältnissen beheimatet. Deshalb lässt sie sich weder durch Verweise auf französische AKWs erschüttern, noch durch die wenig idyllischen Verhältnisse ihres südfranzösischen Domizils. Ihre Zustimmung zu den neuen Lebensumständen verlangt weder, auf »Tatsachen« zu beruhen, noch von anderen verstanden und geteilt zu werden. Das Arrangement ist individuell. Das entspricht der einzig denkbaren Rolle des Subjekts: »Jemand sagte, bist du verrückt, von hier wegzugehen, mitten aus der Kultur, und es war besser, darauf nichts zu antworten, weil wenn jemand denkt, er sei in der Mitte von etwas, sozusagen im Zentrum, wird er wild, wenn man sagt, das Zentrum ist relativ.« Insofern es kein Sinnzentrum geben kann, wird das Subjekt sich selbst zum Zentrum seines individuellen Sinns.

Die Verselbständigung der Sinndeutungen zur eigentlich maßgeblichen Wirklichkeit ist nicht an den Stoff des Wendegeschehens gebunden, sondern verweist auf ein allgemeineres Phänomen der gegenwärtigen Literatur. Dieses Muster ist prägend für die Popliteratur und für etliche Projekte der Internetliteratur. Polemisch urteilte Iris Radisch in der »Zeit« über diese literarische Tendenz: »Endlich, könnte man meinen, bekommt diese Republik die Literatur, die sie verdient hat. Endlich sind die Romane, Tagebücher und Erzählungen nicht länger Entwürfe, Utopien, Zerrbilder, Reflexion des Lebens, sondern Packungsbeilagen zum Bestehenden.«

Das Anwendungsgebiet des darin beschriebenen Mittels: das kritische Wissen um die Subjektferne der Wirklichkeit; seine Wirkungsweise: das Subjekt, indem es sich in Techniken interpretatorisch erzeugter Souveränität bewegt, schützt sich und die Wirklichkeit vor den Konsequenzen dieses kritischen Wissens.

Andrea Jäger



Der Text ist die überarbeitete Fassung eines Vortrages, der im Februar 2002 an der Universität Mainz gehalten wurde.