Buchbesprechung

Erinnerung versus Staat

Zum nationalen Gedenken an die Shoah in Israel

Gegen den Antisemitismus in Deutschland und seine antizionistische Variante innerhalb der Linken setzen manche eine schlichte »Solidarität mit Israel«. Wenn man aber, was selten genug vorkommt, mit israelischen Linken zu tun hat, stößt genau diese Verknüpfung – Kampf gegen den Antisemitismus und Verteidigung Israels – bei ihnen meistens nicht auf Anerkennung, sondern auf harsche Kritik. Welche Geschichte dieses Misstrauen hat, lässt sich zwei neueren Veröffentlichung entnehmen, die auf verschiedene Weise die Nationstaatsbildung Israels kritisieren. Die grundsätzlichen Schwierigkeiten, die inner-israelische Zionismuskritik nach Deutschland zu übersetzen, lassen sich auch an Idith Zertals Studie Nation und Tod. Der Holocaust in der israelischen Öffentlichkeit verdeutlichen. »Mit Hilfe von Auschwitz«, schreibt sie einleitend, »immunisierte sich Israel selbst gegen jedwede Kritik und genehmigte sich einen quasi sakrosankten Status«. Zertals Wut auf den nationalen Mainstream, den sie verkürzend »Israel« nennt, bekommt in der deutschen Übersetzung die ungewollte Bedeutung, andere nationale Kollektive wären da besser, als habe nicht selbst die Täternation Deutschland 1999 »Auschwitz« zur Rechtfertigung des Angriffs auf Jugoslawien benutzt.

Dabei geht es in ihrem Buch eigentlich um etwas ganz anderes: Das nationale Gedenken an den Holocaust in Israel führe nämlich zu einer »paradoxen Form der Leugnung des Holocaust«. In dem Projekt, den »neuen Israeli« zu schaffen, mussten die Opfer zu Helden stilisiert werden, die im Kampf gefallen waren. So konzentriere sich das nationale Gedenken auf die Widerstandskämpfer z. B. im Warschauer Ghetto – der 1959 geschaffene Gedenktag trägt den Titel »an die Shoah und das Heldentum« – und verdränge das Leiden und die Vernichtung der kleinen, gewöhnlichen Opfer. Mehr noch: Im Rückblick erschienen die Jüdinnen und Juden, die nicht für einen jüdischen Staat gekämpft hatten, als Bedrohung. »Die Ghettokämpfer wurden also nachträglich [...] zu einer seltenen Spezies von neuen Israelis, die unter den Juden der Diaspora gefangen gehalten wurden.«

Noch deutlicher wird diese Aufspaltung in »Juden« und »neue Israelis« in der juristischen Verfolgung von Holocaustüberlebenden durch das 1953 erlassenen »Gesetz zur Bestrafung von Nazis und deren Helfershelfern«. In rund vierzig Verfahren wurden ehemalige Kapos und andere Funktionshäftlinge angeklagt, in den KZ den deutschen Nazis geholfen zu haben. Das Gesetz, das 1963 auch im Prozess gegen Adolf Eichmann angewandt wurde und somit nachträglich die Handlungen von KZ-Funktionshäftlingen mit den Verbrechen eines führenden deutschen Nazis gleichsetze, ignoriere aber die von Hannah Arendt formulierte Erkenntnis, dass die Menschen in den KZ »vollkommen unschuldig« waren. Als Ganzes versteht Zertal ihre Studie als »Geste« an Hannah Arendt, deren Bericht Eichmann in Jerusalem erst 2000 ins Hebräische übersetzt wurde und deren politische Philosophie kaum zur Kenntnis genommen wird. Nach der Lektüre gewinnt man den Eindruck, die historische Auseinandersetzung über den Holocaust sei in Israel entgegengesetzt zu der in Deutschland verlaufen: Während hierzulande das entlastende Bild des letztlich interesselosen, jedoch beflissenen Eichmann die Sicht auf die Nazitäter lange Zeit prägte und erst mit Daniel Jonah Goldhagens Untersuchung über den eliminatorischen Antisemitismus diskutiert wird, ist die antisemitische Bedrohung in der israelischen Öffentlichkeit stets präsent und erst in jüngerer Zeit wird die Shoah nicht nur als »der schrecklichste Pogrom in der jüdisches Geschichte«, sondern auch »vollkommen neues Verbrechen« verstanden. Während des Prozesses gegen Adolf Eichmann und in Vorbereitung auf den Sechs-Tage-Krieg erfolgte eine weitere Umwandlung des nationalen Diskurses: Ben Gurion setzte die Bedrohung durch die arabischen Staaten mit der Verfolgung durch die Nazis gleich, in dessen Folge auch die Ermordung Yitzchak Rabins 1995 damit gerechtfertigt wurde, Rabin wäre ein »Helfershelfer« der »arabischen Nazis«.

Zertals Studie ist zu schematisch in der Gegenüberstellung der »wirklichen Erinnerung« der Überlebenden und ihrer Nachkommen auf der einen Seite und dem Staat auf der anderen. Unbefriedigend ist an dieser Darstellung, dass sie die diskursive Macht auf die »Sprachregelungsstrategien« kleiner, »elitärer Gruppen« (Politiker, Medienvertreter, Historiker) zurückführt. Innerhalb dieses Verschwörungsszenarios muss ihr unbegreiflich bleiben, wie sich auch der Warschauer Widerstandskämpfer Abba Kovner oder Elie Wiesel dafür hergeben können.

Amira Hass’ Gaza. Tage und Nächte in einem besetzten Land unterscheidet sich von Zertals Untersuchung. Es ist der ausführliche Bericht der einzigen israelischen Journalistin, die in Palästina arbeitet und lebt. Wenn Hass in der Le Monde diplomatique über die Repressionen gegenüber den Palästinenserinnen und Palästinensern berichtet, wird nicht deutlich, dass auch ihre politische Arbeit auf ihrer Geschichte als Tochter der Zweiten Generation beruht. Als Kind fragte sie sich, wie ihre Eltern nach Israel hatten kommen können, obwohl sie keine Zionisten gewesen seien. »Die Antwort« fand sie, als sie in der 1980er-Jahren in den Niederlanden gelebt hat: »Während dieser Zeit spürte ich die Größe der Leere, die nach 1945 zurückgeblieben war, das jahrhundertelang Heimat von Millionen von Juden gewesen war, diese einfach ausgespien hatte, dass die meisten Leute an der antipluralistischen Psychose im nationalsozialistischen Deutschland teilgehabt und die allmähliche und endgültige Vertreibung gleichgültig akzeptiert hatten. Aber mehr noch quälte mich die Leichtigkeit, mit der Europa die folgende Leere zur Kenntnis genommen hatte«. Hass' Konsequenz für die Gegenwart besteht darin, es der israelischen Gesellschaft, in der sie aufgewachsen ist, zu der sie gehört, nicht leicht zu machen. Deshalb zog sie Anfang der 1990er-Jahre in den Gazastreifen. »Für mich verkörpert der Gazastreifen die ganze Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts. Er verkörpert den zentralen Widerspruch des Staates Israel – Demokraten für die einen, Enteignung für die anderen.« Für Hass und Zertal hat das Verdrängen der eigenen Schwäche, des eigenen Opferseins, der Erinnerung in erster Linie als Heldengeschichte die Verdrängen des Leidens anderer zur Folge: der Palästinenserinnen und Palästinenser.

Amira Hass schreibt für die israelische Tageszeitung Ha'aretz, gegen ein – wie sie schreibt – in Israel verbreitetes Bild von den Palästinenserinnen und Palästinensern. »Schon lange bevor ich tatsächlich dorthin zog, war mir klar geworden, wie verzerrt die Vorstellungen der meisten Israelis vom Gazastreifen sind – primitiv, gewalttätig und den meisten Juden gegenüber feindlich gesinnt.« Allerdings versucht sie, in beiden Gesellschaften solche Vorstellungen aufzubrechen. »Während der ganzen Zeit, die ich [im Gazastreifen] lebte, habe ich immer dafür gesorgt, dass jedermann wußte, dass ich eine israelische Jüdin bin.« Es scheint, als wäre neben der journalistischen Tätigkeit der Alltag unter »Feinden« ebenfalls Teil ihrer politischen Arbeit: Sie zwingt die Menschen im Gazastreifen, eine Jüdin, eine Israelin unter sich zu akzeptieren. Im Alltag zeige sich, dass die antisemitischen Vorstellungen, die in der palästinensischen Gesellschaft kursieren, brüchig und veränderbar sein können. Das zentrale Thema in Gaza. Tage und Nächte in einem besetzten Land ist gerade diese Uneinheitlichkeit innerhalb der palästinensischen Gesellschaft, sind die verschiedenen religiösen und politischen Konflikte in ihr: die Stellung von Männern und Frauen, die Erziehung, die Konflikte zwischen der Basis und den politischen Führern. Aus diesen Passagen des Buches kann man als jemand, der nicht dort lebt, nur dazulernen.

Im Nachwort zur deutschen Ausgabe nimmt Amira Hass Bezug auf ihren Besuch in Deutschland 2002. Nach einem Vortrag war sie gefragt worden, warum sie die von ihr selbst eindrücklich geschilderten Zustände in Palästina nicht als »Ghettoisierung« bezeichne. Darauf antwortete sie zunächst als Tochter von Holocaustüberlebenden und wies den Ausdruck »Ghetto«, der eine Gleichsetzung der israelischen Politik mit der Vernichtungspolitik der Nazis impliziere, scharf zurück. Dann antwortete sie aber auch als linke Israelin, die ihre Solidarität ausdrückt mit den Menschen in Palästina: Solche Verzerrungen des realen Unrechts würden letztlich auch den Palästinenserinnen und Palästinensern selbst schaden, denn sie würden nur dazu führen, dass ihr niemand mehr glaube. Die Wahrheit, so Hass, sei schließlich schlimm genug.

Antisemitismus in Deutschland lässt sich erkennen und bekämpfen, ohne dass man viel über Israel wissen müsste. Wenn man gegen den verschwörungstheoretischen »Antizionismus« von links (vgl. diskus 2/02) allerdings eine »Solidarität mit Israel« behauptet, müsste nach der Lektüre von Hass und Zertal genauer geklärt werden, mit wem man sich solidarisch erklärt. Bis auf wenige Ausnahmen sind israelische Linke aus der »Nahostdebatte« innerhalb der deutschen Linken entweder ausgeschlossen, oder sie werden instrumentalisiert. Es kann Linken, die ihre Verbundenheit mit durch Antisemitismus Bedrohten deutlich machen wollen, nicht darum gehen, dass israelische Linke in Deutschland schweigen. Stattdessen sollte man sie gegen die Vereinnahmung schützen, u. a. indem man zeigt, dass ihre Kritik am Zionismus nichts zu tun hat mit dem Hass auf Israel und den antisemitischen Verschwörungstheorien hierzulande.

Olaf Kistenmacher


Literatur

Anat Frumkin / Najwa Abdulhaq (Hg.): Israel: Palästina 2002. Das Ende der Zukunft?, Mitschnitt des Freien Sender Kombinats (www.fsk-hh.org) der Konferenz vom 1. Juli 2002 mit Beiträgen von Amira Hass, Omar Kamil, Moshe Zuckermann u. a.

Amira Hass (2003): Gaza. Tage und Nächte in einem besetzten Land, München: C. H. Beck, 410 S.

Idith Zertal (2003): Die Nation und Tod. Der Holocaust in der israelischen Öffentlichkeit, Göttingen: Wallstein 2003, 363 S.