diskus 3/00

Nach dem Alleinvertretungsanspruch
Interview zu Situation und Perspektiven antifaschistischer Politik


Das nachfolgende Interview mit drei Hamburger Antifas ist der Novemberausgabe der Zeck – Infos aus der Flora aus Hamburg entnommen. (Originaltitel: »… viele Leute können nicht damit umgehen, dass Autonome nicht mehr den Alleinvertretungsanspruch zum Thema Antifaschismus haben«) Es fragen: X, Y; es antworten: A, B, C; gekürzt von: Red. diskus.

X: Nach dem Anschlag auf eine Gruppe jüdischer SprachschülerInnen in Düsseldorf in diesem Sommer gab es in den bürgerlichen Medien eine breite Diskussion über Rechtsextremismus. Von Seiten der Antifa war praktisch nichts zu hören. Woran liegt das? (...)

B:
Ich denke, man muss den Verlauf sehen. Mit der rot-grünen Regierung hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. So hat beispielsweise Außenminister Fischer in einer Rede vor Botschaftsangehörigen formuliert, dass eine wichtigere, aggressive Rolle Deutschlands nur dann außenpolitisch vertretbar sei, wenn es gelingt, innenpolitisch für Ordnung zu sorgen. Damit meinte er die ganze Sicherheits- und Ordnungs-Debatte, zu der aus seiner Position auch der Umgang mit den Neonazis gehört. Ich glaube schon, dass im Vergleich zur Kohl-Regierung da ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat, indem ein Feld besetzt wurde, was vorher im Grunde nur von Antifas bearbeitet wurde. Damit wird es natürlich schwieriger, dieses Feld alleine von Seiten linker oder autonomer Antifa zu besetzen. (...)

C: Ich denke, chronologisch war es so, dass zu Beginn dieser Sommerloch-Debatte viele fundierte Beiträge kamen. Und diese Beiträge kamen vor allem von Leuten, die sich nicht gescheut haben, sich bei antifaschistischen Initiativen, autonomen Antifas usw. ihre Informationen zu besorgen. Zu nennen wäre da z. B. Thierse, der schon seit Jahren vernünftige Sachen zu den sog. »national befreiten Zonen« gesagt hat und der eh – vielleicht weil er im Osten auch eine andere Arbeit mitgekriegt hat – auch progressive Initiativen wie die Antonio-Amadeu-Stiftung
1 unterstützt hat. Zu nennen wäre da sicher auch Anette Kahane von dieser Stiftung. Solche Leute haben schon sehr früh gesagt, dass die Nazi-Probleme kein Standort-Problem sind, sondern dem Rassismus in Deutschland geschuldet sind. Solche Positionen wurden zu Beginn der Debatte aufgenommen. Spätestens aber mit dem Anschlag in Düsseldorf hat die Debatte eine ganz andere Dynamik bekommen. Kurz danach gab es ja auch die ersten Diskussionen um ein NPD-Verbot. Ich glaube, dass das Thema Rassismus wieder aus der Diskussion genommen werden sollte. Vorher war es so, dass die Anschläge oft in Zusammenhang mit einer rassistischen Stimmung gestellt wurden und dieser Rassismus als gesellschaftliches Problem, das aus der Mitte der Gesellschaft kommt und das auch gesellschaftlich gelöst werden muss, beschrieben wurde. Darin zeigt sich auch eine oppositionelle oder zumindest kritische Haltung gegenüber dem staatlichen Rassismus.
Nach Düsseldorf ging es dann praktisch nur noch um Neonazis und Gewalt, was die Gewalt der Neonazis letztlich entpolitisierte. Diese Konzentration auf die losgelöste Gewalt kulminierte schließlich in der Forderung nach dem NPD-Verbot. Das NPD-Verbot wird, wenn es dann einmal umgesetzt werden sollte, für die Neonazi-Szene und für den Rassismus in Deutschland keine Bedeutung haben. Aber dadurch, dass suggeriert wird, die NPD sei das Problem, fallen die anderen Ursachen wie z. B. der Rassismus komplett aus der Debatte.
Eine ähnliche Entwicklung lässt sich bei den anti-semitischen Anschlägen beobachten. Vor den Anschlägen um den Wiedervereinigungstag gab es immer wieder Mahnungen, man dürfe den Antisemitismus nicht aus den Augen verlieren. Jetzt wird der Antisemitismus auf ein Sicherheitsproblem reduziert. Schlimm ist nicht mehr der Antisemitismus, schlimm ist es, dass jüdische Einrichtungen nicht richtig geschützt werden können. Es wird also wieder zu einem entpolitisierten Sicherheits- bzw. Gewaltproblem. Ich glaube, dass wir als autonome oder unabhängige Antifas in diesen Debatten irgendwann keine Relevanz mehr hatten, die wir zu Beginn der Debatte durchaus noch hatten.

X: Kommen wir nun von der Einschätzung der allgemeinen Situation zum Problem der zunehmenden Nazi-Aufmärsche: Obwohl es zu einzelnen Anlässen gelungen ist, mehrere tausend Leute aus einem breiten politischen Spektrum gegen die immer häufiger werdenden Nazi-Aufmärsche zu mobilisieren, wurde das immer wieder von der Antifa propagierte Ziel, den Aufmarsch zu verhindern bzw. ihn effektiv anzugreifen, nie erreicht. Haltet ihr es für sinnvoll, dennoch an dieser Strategie festzuhalten?

C: Ich denke, die autonome Antifa hat da in den letzten Jahren vielleicht den Zug verschlafen. In Erinnerung an die Stärke früherer Jahre, als es noch gelang, Nazi-Aufmärsche aus eigener Kraft zu verhindern, wurden die Reaktionen der Bullen nicht ausreichend berücksichtigt. Heute ist es nicht mehr möglich, solche Aufmärsche aus eigener Kraft zu verhindern. Ich denke, die Beispiele, bei denen Aufmärsche angegriffen oder blockiert oder sogar verhindert worden sind, wie in Altona im Juli, das ist eher eine Melange gewesen aus Polizeiinteressen und einer »Verbrüderung« oder »Verbündnissung« zwischen organisierten und unorganisierten Antifa, Migrantenjugendlichen und empörten BürgerInnen etc., auf die der Polizeiapparat nicht so schnell reagieren konnte. Wenn wir es schaffen, gegen solche Neonazi-Aufmärsche mal Punkte zu machen, dann liegt das daran, dass da halt Lücken waren, die dann genutzt werden konnten. (...)

A: Ich denke, dass es auch schon seit geraumer Zeit so ist, dass die Parole »Nazi-Aufmärsche verhindern« eigentlich nicht mehr im Raum steht. Mag sein, dass die immer wieder auf Flugblättern verwendet worden ist, aber in der Praxis ist es doch so, dass man hingeht, einfach, weil man die Nazis nicht unkommentiert marschieren lassen will. Wir sind maximal in der Lage zu stören und das wird ja auch zurecht immer propagiert. Was aber viel problematischer ist, ist dieses ewige Reagieren, und sich den Terminkalender praktisch von den Nazis diktieren zu lassen. Daher wurde in letzter Zeit vermehrt überlegt, wie es gelingen kann, auch selbst wieder aktiv Punkte zu setzen und trotzdem die Aufmärsche nicht ganz unkommentiert zu lassen. (...)
Ein Teil der länger arbeitenden Antifa-Gruppen versucht eher aus den Erfahrungen der letzten Jahre eine Weiterentwicklung der Antifapolitik voranzutreiben – in Bündnissen etc. Aber viele Leute können auch nicht damit umgehen, dass Autonome plötzlich nicht mehr den Alleinvertretungsanspruch zum Thema Antifaschismus haben. Aber seit einigen Jahren ist das so, dass es innerhalb einer fortschrittlichen Linken die unterschiedlichsten Strömungen und Gruppen gibt, die inzwischen auch lange kontinuierlich zum Thema Antifaschismus gearbeitet haben. (...) Was zu wenig öffentlich diskutiert wurde, ist dieser Schritt vom militanten Verhindern zum politischen Verhindern. Und es wird langsam erst verstanden, dass im Rahmen eines breiten Bündnisses z. B. bei einer Demo mehr zu erreichen ist.

X: Ich denke auch, dass sich die Aufmärsche nicht auf der Straße, sondern nur politisch verhindern lassen werden. Es ist aber durchaus auch möglich, an die Nazis auf der Straße heranzukommen. Und mein Eindruck war, dass bei den letzten Aufmärschen die Nicht-Organisierten oft schlecht ausgestattet an den Polizeisperren demonstrierten, während von den organisierten Antifa-Strukturen oft wenig am Ort des Geschehens zu sehen war, weil diese mit lauter »wichtigeren« Dingen beschäftigt waren wie dem Beobachten der Nazi-Bewegungen, Abchecken der Route etc.

C: Ich fand das in Altona gut, dass sich aus dem Zusammenkommen ganz vieler verschiedener, zumeist unorganisierter Menschen eine Eigendynamik entwickelt hat. Ich denke, es ist immer noch ein entscheidender Fehler der autonomen Antifa, den Anspruch zu haben, allein dafür zuständig zu sein, die Militanz auf die Straße zu tragen. Die merken gar nicht, das sie als Bewegung dazu gar nicht mehr in der Lage sind. Es ist nach wie vor richtig, zu versuchen, die Nazis auch militant anzugehen, aber wenn man sich die Radikalisierung und Militarisierung der Neonazi-Szene etwas näher anschaut, kann ich nur davor warnen zu glauben, man könne sich einer Horde von Neonazis einfach entgegenstellen. Ich hätte da Schiss vor und weiß genau, ich bräuchte da eine unglaublich gute und starke Gruppe, um mich denen entgegen zu stellen. Ich denke daher, dass diese diffuse Mischung aus unorganisierten, empörten AnwohnerInnen, Gang-Jugendlichen etc. eine Eigendynamik im positiven Sinne entwickelt hat, die wir als Autonome ja früher auch immer gut fanden. Das kann dann u. U. auch wesentlich offensiver zu Angriffen auf die Nazis führen als so Konzepte, die theoretisch gut ausgedacht sind, die sich aber gar nicht mehr auf gemeinsame Erfahrungen stützen können. Die Entwicklung wird auch dahin gehen, dass offensives Agieren gegen die Nazis bei solchen Demonstrationen weniger durch Planung als vielmehr durch diese Eigendynamik zustande kommen wird. (...)

C: Man muss auch erkennen, dass in den letzten Jahren ein Wechsel stattgefunden hat. Die Parole »Den antifaschistischen Selbstschutz organisieren!« entstand Anfang der 90er Jahre vor allem vor dem Hintergrund der Erfahrung von Jugendlichen, hauptsächlich aus dem Osten, die sich damals massiv gegen neonazistische Überfälle zur Wehr setzen mussten. Heute ist es so, dass wir – d. h. die autonome, antifaschistische Szene – von diesem gewöhnlichen deutschen Mord-Nazismus gar nicht mehr in erster Linie betroffen sind. Die Angriffe der Nazis richten sich heute gegen ganz verschiedene Teile der Gesellschaft, die sich auch dagegen zur Wehr setzen muss. Da müssen wir Antifas lernen, uns selbst nicht mehr so wichtig zu nehmen. (...)

X: Was für Erfahrungen habt ihr in letzter Zeit mit Bündnissen gemacht. Hat sich durch die Ereignisse im Sommer da etwas verändert?

C: Ich denke schon, dass sich das Verhältnis zu Bündnissen auch schon vor dem letzten Sommer verändert hat. Früher war das so, dass wir total stolz waren, wenn wir ein Bündnis mit der VVN, der DKP und der PDS auf die Beine gestellt haben. Heute denke ich, dass der Spruch stimmt, »wenn du mit allen im Bündnis derselben Meinung bist, ist dein Bündnis zu eng«. (...)

B: Man muss Bündnisse aber auch begreifen als kontinuierliche Zusammenarbeit mit Leuten außerhalb seines eigenen kleinen Tellers. Es ist notwendig, Gespräche und Diskussionen an ganz unterschiedlichen Orten zu führen und seine Positionen im Bereich Antifaschismus / Antirassismus dadurch weiter zu entwickeln. Das würde dann auch den Bündnisbegriff, den man so klassischerweise im autonomen Antifaspektrum kennt, ein wenig erweitern. (...)

C: Anfang der 90er Jahre war Antifaschismus für uns eben auch ein offensiver Kampfbegriff. Da diente Antifa zur Identitätsstiftung und unter dem Begriff Antifaschismus wurde alles mögliche subsumiert. Kampf dem Imperialismus, Kampf dem Kapitalismus etc. Das Problem ist, dass viele Leute ideologisch-politisch auf diesem Level stehen geblieben sind. Ich denke, die letzten Jahre haben gezeigt, dass Antifaschismus als offensiver Kampfbegriff nichts taugt, weil Antifa immer von einer Negation ausgeht. Man wehrt sich gegen etwas. Mit dieser Erkenntnis kann auch anders mit Bündnisarbeit umgegangen werden. In einem Bündnis geht es dann eher darum, gemeinsam mit anderen Leuten eine Analyse der Situation zu entwickeln: Wie funktioniert rassistische Formierung, wie funktionieren hier Vorstellungen von Sozialhygiene, wie funktioniert so ein SPD-Neoliberalismus? In solchen Auseinandersetzungen wurde dann ganz oft die Erfahrung gemacht, dass es ganz viele Leute gibt, die eine ähnliche Analyse wie wir haben. In solchen Bündnissen ändert sich auch die Wahrnehmung, die andere von der Antifa haben. Wir sind dann nicht mehr nur die Experten für Nazi-Strukturen, sondern Leute hören uns auch zu, was wir zu Fragen wie der völkischen Formierung zu sagen haben. Dadurch ist dann auch eine andere Basis für eine langfristige Zusammenarbeit gelegt.

X: Diese Veränderung der antifaschistischen Analyse von »Hinter dem Faschismus steht das Kapital« hin zur Verteidigung der Zivilgesellschaft ist ja schon ein großer Schritt. Steht ihr mit einer solchen Position alleine in der Antifaszene, oder wird das von der Mehrheit so gesehen? Um es an einem konkreten Beispiel festzumachen: Bei der gemeinsamen Kundgebung mit dem DGB am 1. 9. gab es innerhalb des autonomen Vorbereitungsplenums recht unterschiedliche Positionen: Die einen wollten die Veranstaltung angreifen und die anderen wollten einen Redner stellen. Gibt es einen inhaltlichen Streit innerhalb der Antifa über so eine Positionierung?

B: (...) Es wird kontrovers darüber diskutiert. Das Beispiel der Kundgebung am 1. 9. zeigt, dass man sich letztendlich doch konsensuell auf so ein Level geeinigt hat und gesagt hat, es wäre fatal, wenn wir nichts dazu sagen und wenn wir nicht unsere Meinung dort kundtun würden. Ich denke, dass die Erkenntnis – wir sollten da nicht außen vor bleiben – von den meisten doch letztendlich getragen wurde. Ich fand es viel interessanter, dass die einzelnen Gewerkschaften teilweise auch untereinander in Streit geraten sind. Die einen sagten »Nehmt den von der Bühne!« und die anderen sagten »Hör doch mal zu, dass stimmt doch was der sagt«. Es war richtig, sich zu äußern und unsere Positionen ins Gespräch zu bringen.

C: Ich denke eher, dass innerhalb der autonomen Szene oder der Antifaszene darüber kaum diskutiert wird. Ich glaube, es wird sich eher mit einem Dogmatismus dagegen gewehrt seine eigene Rolle neu zu definieren. Ich finde aber den Vorwurf, die Antifa öffne sich gegen die Mitte der Gesellschaft, falsch. Wenn in der Jungle World steht, Antifa wird mehr und mehr staatstragend, halte ich das für total hahnebüchen. Wir als autonome Antifa haben in den letzten Jahren immer wieder auf das Verhältnis zwischen staatlichem Rassismus, Neonazis und der rassistischen Formierung innerhalb der Gesellschaft hingewiesen. Allerdings ist unsere Analyse der 80er und Anfang der 90er Jahre, die Neonazis seien die Marionetten des Kapitals, des Staats und so weiter im nachhinein ziemlich falsch gewesen. Für die heutige Zeit stimmt sie auf keinen Fall mehr. Eine permanente Neuformierung von Kapitalismus oder Neoliberalismen wird dort überhaupt nicht mehr adäquat beobachtet. Ich vertrete in der Zwischenzeit die Position, dass die Neonazis nicht der verlängerte Arm von irgendwelchen Politikern sind, sondern dass sie der verlängerte Arm der ganz gewöhnlichen gesellschaftlichen Formierung sind. Die machen das, was Eltern und Lehrer immer nur sabbeln, aber nie in die Tat umsetzen. (...)
Man sollte den Begriff Antifaschismus viel offener diskutieren und darf den Blickwinkel nicht zu sehr auf die militanten Neonazis richten. In Hamburg sieht man bei jeder Neonazi-Demo dieselben 150 Nazis, und ich glaube, dieses Problem der militanten Neonazis findet auf einer Spektakel-Ebene statt. Ich denke auch, dass die Neonazis selber diese Demonstrationen auch unter dem Blickwinkel des Spektakels sehen. Sie wollen sich präsentieren, aber das ist ja auch eine relativ eingegrenzte Gruppe. Man müsste viel mehr auf die Ursachen und auf die Hintergründe der Neonaziformierung eingehen. Ich glaube, dass an diesem Punkt Rassismus viel klarer benannt werden muss. Das darf nicht auf so ’ner ganz eingegrenzten Ebene passieren, wie es oft bei autonomen Antifas bisher passiert; dass Rassismus in so Nebensätzen: »Da sind wir auch noch gegen« genannt werden muss. Ich denke, dass ganz viele Funktionsmuster dieses Staats über eine rassistische Formierung funktionieren. Und dass ist auch der Punkt, wenn man an Gegenstrategien überlegt, dass man an Alternativen überlegt. Wir können uns an den Neonazis abarbeiten, das ist auch gut und richtig, ich hasse die auch, und ich will auch, dass die nicht mehr auf der Straßen rumlaufen. Aber selbst wenn die Neonazis als Erscheinungsbild – vielleicht auch aufgrund der staatlichen Repression – aus der Öffentlichkeit verschwunden sind, bleibt dieser rassistische Bodensatz, der jetzt in seiner ganzen Aggressivität zum Explodieren kommt, weiterhin vorhanden. Wir als Mittelklasse-Mehlgesichter haben als Antifa immer Schwierigkeiten gehabt mit Migrantengruppen direkt zusammen zu arbeiten. Das hat vielfältige Ursachen und ich denke, dass man zum einen da vielleicht viel mehr sich öffnen muss zu anderen Gruppen, die schon länger Antira-Arbeit machen. (...)

X: Um noch mal an den Punkt der rassistischen Formierung anzusetzen. Ich frage mich ja, ob dieser Begriff zwei Tendenzen zusammenführt, die ganz unterschiedliche Begründungszusammenhänge haben. Ganz eindeutig ist in den 90ern der ökonomische Staatsrassismus der dominante Diskurs, in dem Menschen nur nach ihrer Verwertbarkeit innerhalb des Systems betrachtet werden. Ich glaube aber nicht, dass sich auf der gleichen Ebene der Rassismus der Nazis erklären lässt. Ich würde sogar vermuten, dass er genau das Gegenteil ist. Im Grunde ist der Rassismus der Nazis eine total anti-ökonomische Reaktion. Diese Verwertbarkeitslogik, dieser Ökonomismus wird von denen, die auf der Straße Ausländer angreifen durchaus auch als Bedrohung empfunden. Und genau an die Stelle dieses ökonomischen Prinzips versuchen sie andere Gruppenkonstruktionen zu setzen, in denen sie sich selber im klassischen Rassismusschema als »Herrenrasse« als die Besseren stilisieren. Diese beiden gegenläufigen Entwicklungen wirft der verwendete Begriff der rassistischen Formierung zusammen, und daher kann man daraus meiner Meinung nach keine politische Strategie ableiten.

C: Naja, was aber beiden gemeinsam ist, ist der Wille zur Ungleichbehandlung von Menschen nach rassistischen Kriterien. Der staatliche Rassismus beruft sich auf die Ökonomie, der Neonazi macht’s ganz plump: »Du schwarz, ich weiß, ich besser, du doof.« Die Neuen Rechten argumentieren mit der »Gleichheit der Rassen«, aber »ihr da und wir hier«. Das sind unterschiedliche Erscheinungsformen, aber das Entscheidende ist der Rückgriff auf unterschiedliche Wertigkeiten. Und dagegen sollten wir an dem Ideal festhalten, das besagt »Alle Menschen müssen und sollen das gleiche Recht haben, so zu leben wie sie wollen, und da zu leben, wo sie wollen.« Das ist als Gegenmodell durchaus oppositionell zu dem staatlichen Rassismus sowie zu einem völkischen neonazistischen Rassismus. Ich gehe mit dir d’accord, dass es da fundamentale Unterschiede gibt, wie sich der Rassismus ausprägt. Nur: mörderisch sind beide Erscheinungsformen. Ich glaube, dass dieser neonazistische Rassismus eher ein Ventil für den Mob ist, während es beim staatlichen Rassismus um »Sozial-hygiene« geht.

B: Ich denke, das eine ergänzt sich halt mit dem anderen. Zynischerweise sage ich oft: die beste Waffe gegen die Nazis zur Zeit ist das Kapital. Aber das ist interessant für ’ne Analyse, um das Problem zu begreifen.

X: Naja, doch: es ist schon auch interessant für eine Strategie, wie gegen Rassismus vorzugehen wäre.

B: Es ist interessant für die Motivation von Neonazi-Gewalt.

Y: Ja, aber die Frage ist ja die: Kannst Du mit ein und derselben Handlungsstrategie zwei unterschiedlich ausgeprägte rassistische Strömungen bekämpfen, oder muss man das getrennt angehen? (...)

C: Naja, so einfach ist das natürlich nicht. Wir sind da in unserem Kampfbegriff nicht so eindimensional. Genauso wie jede linke Politik ziemlich weit gefächert sein muss, muss auch eine Diskussion und Entwicklung von so einer Gegenstrategie weit gefächert sein. Wir müssen das passende Mittel gegen die explosive, brutale Ausdrucksform des Neonaziterrors finden, und wir müssen eine Alternative und Strategie gegen den staatlichen Rassismus finden. Solange es staat-liche rassistische Politik gibt, die von der Bevölkerung begierig aufgenommen wird, solange wird es auch den stumpfen Mob geben, der nicht »zivilisiert« Flüchtlinge abschiebt, sondern ganz brutal hingeht und sagt: »Du bist ein Ausländer, ich hau dich jetzt tot.« Solange der sich sicher fühlt, dass seine rassistische Motivation mehr oder weniger kompatibel ist mit dem, was in der Gesellschaft passiert, solange wird das seine Handlung bestimmen.

A: Grundsätzlich halte ich es für wichtig, sich die Bandbreite faschistischer Ideologie ins Bewusstsein zu rufen. Es gibt ja durchaus Strukturen oder Organisationen bei den Nazis, die sich auch ganz klar als antikapitalistisch bezeichnen und auch von ihrer Programmatik her so zu sehen sind. Und da sieht man auch, dass die Nazis nicht immer im Sinne der kapitalistischen Ökonomie und des Staats handeln. (...)

C: Wir haben jetzt viel über Erklärungsansätze, Theorien usw. geredet. Ich denke, das Entscheidende ist aber auch eine Praxis daraus zu entwickeln. (...) Und ich glaube, so eine Arbeit und theoretische Auseinandersetzung müssen parallel stattfinden. Das Problem ist halt zur Zeit, dass ganz viel praktischer Antifaschismus in der Öffentlichkeit wieder auf seine Ausdrucksform reduziert wird: die linken und die rechten Gewalttäter. Und wir müssen natürlich darauf hin arbeiten, dass wir irgendwann auch mal wieder soweit sind, sagen zu können: unsere Motivation militant gegen Neonazis vorzugehen, ist ’ne Motivation, die von Teilen der Bevölkerung auch getragen wird, weil sie sehen, dass es da durchaus Unterschiede gibt, in der Motivation militant vorzugehen. (...)

Y & X: Ja, dann danken wir Euch für dieses Gespräch. Bis bald dann mal.

Anmerkungen:
< 1 >Antonio Amadeo war das erste Opfer rechtsextremer Gewalt in Ostdeutschland. Der Angolaner war Ende ’90 so schwer von Skin-heads durch Tritte und Schläge verletzt worden, dass er zwei Wochen später daran starb. (back)


 
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