Über den Antisemitismus der Nationalsozialisten

 

Antrittsvorlesung von Philippe Burrin

 

 

Zum Sommersemester 2001 wurde nach Verhandlungen zwischen dem Land Hessen, der Stadt Frankfurt und dem Förderverein des Fritz Bauer Instituts an der Universität Frankfurt eine Gastprofessur zur Geschichte und Wirkung des Holocaust eingerichtet. Erster Inhaber des Lehrstuhls, der jährlich neu vergeben wird, ist der Schweizer Historiker Philippe Burrin. Neben seinen bisherigen Forschungsarbeiten zur Kollaboration der französischen Vichy-Regierung mit dem nationalsozialistischen Regime gilt ins-

besondere seine Studie über »Hitler und die Juden«, die 1993 erschien, als ein wesentlicher Beitrag zur Ausdif-

ferenzierung der geschichtswissenschaftlichen Debatte

zwischen Funktionalisten und Intentionalisten. Einen Schwerpunkt seiner Forschungs- und Lehrtätigkeiten

bildet gegenwärtig die Frage nach dem »Antisemitismus der Nationalsozialisten«, dessen Untersuchung er als ein Desiderat in der geschichtswissenschaftlichen Forschung beschreibt.

Philippe Burrin geht der Frage nach, wie es sich erklären lässt, dass das nationalsozialistische Regime von Norwegen bis nach Griechenland und vom Kaukasus bis zu den Kanalinseln Jagd auf Juden machte, mit dem Ziel, sie zu töten. Für ihn bietet der nationalsozialistische Antisemitismus eine wichtige Grundlage, um diese Frage beantworten zu können.

In seiner Antrittsvorlesung »Über den Antisemitismus der Nationalsozialisten«, die er am 11. Juni 2001 hielt, ging Philippe Burrin diesen Fragen nach. Wir veröffentlichen den Vortrag in stark gekürzter Form.

ck / tm

 

Zum Thema des nachstehenden Vortrags wird am 19. und 20. April 2002 in Frankfurt eine internationale Konferenz von Philippe Burrin ausgerichtet.

 

 

Das Thema des Antisemitismus der Nationalsozialisten hängt auf das Engste mit der Frage nach der Destruktivität des Nationalsozialismus zusammen, dessen Kulminationspunkt der Holocaust war. Bevor ich beginne, lassen Sie mich zunächst den Rahmen andeuten, in dem das Thema für mich steht.

Die Vernichtung der europäischen Juden kann durch verschiedene Faktoren erklärt werden; meines Erachtens waren vor allem zwei Punkte entscheidend. Erstens die Existenz eines Regimes, das über die Ressourcen eines modernen Staates verfügte, über einen weitreichenden Parteiapparat und einen äußerst beliebten Führer. Der zweite Faktor war die Ideologie. Auch wenn sie völlig zusammengestückelt war, bot sie doch klare Handlungsanweisungen und einen ausgezeichneten Nährboden für Gewalt.

Das Deutschland der Jahre 1933 bis 1945 war unter der Führung einer neuen politischen Elite, die von Anfang an ein Potential zum Genozid hatte und die sich nach Kriegsbeginn zu einer »Gemeinschaft des Genozid« entwickelte. Diese neue Elite nutzte eine Krisensituation aus und fand die Unterstützung eines großen Teils der alten Elite und der Bevölkerung, und zwar aus Gründen, die im wesentlichen nichts mit dem mörderischen Potential im Zentrum der Ideologie zu tun hatten. Der anfängliche Erfolg kam der neuen Elite dabei sehr zu gute, und sie konnte diese Unterstützung noch lange während der Zeit des Krieges halten. Dadurch gelang es ihr, den Widerstand, ja sogar die Ablehnung ihrer destruktiven Politik zu minimieren.

Diese Interpretation bestärkt uns in doppelter Hinsicht, die nationalsozialistische Ideologie des Anti-

semitismus ernst zu nehmen. Denn die wissenschaft-liche Beschäftigung mit diesem Thema kann uns

einerseits die Repräsentationen – die Bilder und Bedeutungswelten – der Nazi-Elite und ihrer Handlungsmotive eröffnen. Andererseits ließe sich die Frage klären, welche Faktoren die Komplizenschaft der alten Eliten und der Bevölkerung zugleich förderten. [...]

Man kann sich dem Antisemitismus führender Nazis, der »ermächtigten« Stimmen und allen voran Hitler, auf verschiedenen Wegen nähern. Die übliche Methode ließe die diversen Inkarnationen der Juden Revue passieren (der Kapitalist, der Revolutionär, der Kriminelle etc.) oder das Repertoire an Metaphern (Spinnen, Blutegel, Mikroben etc.). Irgendwie landet man immer bei der Auflistung der negativen nationalsozialistischen Bilder von Juden.

Ich möchte mit meinem Vortrag eine ganz andere Richtung einschlagen und mit den positiv besetzten Werten der Nationalsozialisten beginnen, und dann betrachten, in welchem Verhältnis die Bilder über »den Juden« zu diesen Werten standen. Nur wenn wir dieses doppelte Register führen, gehen wir mit unserem Thema angemessen um, behaupte ich. Auch wenn negative Bilder wichtig für die Verstärkung von Vorurteilen sind, müssen wir dennoch bezweifeln, dass Menschen sich von ihnen allein zu Extremen wie einem Genozid treiben lassen, es sei denn, diese negativen Bilder sind sehr stark mit positiv besetzten Werten verbunden. [...]

Indem ich dieser methodischen Entscheidung folge, möchte ich drei Repräsentations- bzw. Bild- und Bedeutungskomplexe erörtern, die von den Nationalsozialisten aufgewertet wurden und um die die meisten ihrer antisemitischen Äußerungen kreisten: Gesundheit, Macht und Kultur. Diese Themen werden analytisch getrennt, obwohl sie im nationalsozialistischen Diskurs in einander verstrickt waren. Sie können jedoch nicht isoliert verstanden werden, sondern als Zentren in einem Bündel von Vorstellungen und Begriffen, die semantisch mit einander verwandt sind. Es ist kaum erwähnenswert, dass diese Themen in allen modernen Gesellschaften nicht nur der Gegenstand von Konsens, sondern auch von konkurrierenden Interpretationen gewesen sind; sie waren abhängig von politischen Vorstellungen, seien sie liberal, demokratisch, sozialistisch oder konservativ. Aufgrund ihres Machtmonopols konnten die Nazis ihre Interpretation durchsetzen. Doch sie schufen sie nicht aus dem Nichts: ihre Interpretation hatte ihre Wurzeln in der deutschen Geschichte und Kultur.

[...]

 

 

Repräsentationen

 

[Die nun folgenden] Darstellungen dieser Bilder- und Bedeutungskomplexe haben ganz offensichtlich im Rassismus ihre gemeinsame Basis.

 

Gesundheit

Das erste Bedeutungsbündel »Gesundheit« umfasst einerseits Sauberkeits- und Reinheitsvorstellungen, andererseits Arbeit und Produktivität. Das heißt, in der einen Richtung Symbole der Disziplin und Abgeschlossenheit und in der anderen Richtung Symbole der Fähigkeit und des sozialen Wertes. Dieses Bedeutungsbündel machte besonderen Sinn im Kontext der Idee des »Volkskörpers«, eines Kollektivs, das man in den Begriffen eines Organismus verstand.

Man muss die große Bedeutung von Begriffen wie »Gesundheit« oder »Arbeit« für die Atlantischen Gesellschaften seit dem 19. Jh. nicht besonders hervorheben. Wir alle sind uns ihrer Institutionalisierung bewusst, sie reicht von der Gesundheitsversorgung bis zum Bildungssystem; und wir kennen auch die Diskurse, die sie durchdringen und umgeben, ob sie sich nun um die häusliche Hygiene, die Disziplin des Körpers oder den Kult der Arbeit drehen. Diese Tendenz kulminiert um die Jahrhundertwende in der Eugenik und im Rassismus, dessen wissenschaftlicher Unterbau eine erhebliche Rolle bei der gesellschaft-

lichen Verbreitung von Reinheits-, Selektions- und Zuchtideen spielte; und diese Vorstellungen bezogen sich gleichermaßen auf das Ausmerzen behinderter Menschen wie auf die Züchtung erbgesunden Nachwuchses.

In diesem neuen Kontext wurden die traditionellen anti-jüdischen Stereotypen neu belebt. Die noch aus dem Mittelalter stammende Verknüpfung von Juden und Schmutz wurde durch die Einwanderung der so genannten »Ostjuden« wieder aktuell. Die Bilder des Parasitären, der ökonomischen Ausbeutung von Nicht-Juden, erhielten von der Religion der Arbeit neue Impulse; dabei wurde Arbeit als produktive Arbeit gerühmt und in Opposition zu Spekulation

gesetzt. Und das Klischee vom jüdischen Krankheits-überträger wurde durch den expandierenden biolo-gischen Diskurs über Keime und Mikroben weiter aufgebläht. Solche Verknüpfungen waren leicht zu akkumulieren, riefen Ekel und den Wunsch nach Reinigung hervor.

Das nationalsozialistische Regime war in vielen Hinsichten die ultimative Verkörperung des modernen Arbeits- und Gesundheitskultes. Wie niemals zuvor wurden Menschen, die von der staatlich auf-

gezwungenen Norm abwichen, stigmatisiert und verfolgt. Die Überhöhung des schönen und athletischen arischen Körpers und die normative Spezifikation rassischer Gesundheit und Reinheit ließen behinderte Deutsche oder Menschen, die man zu Angehörigen einer »anderen« Rasse stempelte, noch abstoßender erscheinen. Auf die gleiche Art und Weise wurden durch die Aufwertung von Arbeit und Produktivität auch

all jene zur Zielscheibe für Verbrechen, die – egal ob deutsch oder nicht – den Erwartungen des Regimes nicht entsprachen; die harte Unterdrückung sogenannter »Asozialer« war in die-

ser Hinsicht sehr bezeichnend.

[...]

Durch die Repräsentationen aus dem Bereich der Hygiene wurden die Juden noch stärker entmenschlicht als durch die vorangegangenen Bilder der Animalisierung. Die Verknüpfung mit Ungeziefer, Parasiten, Keimen und Mikroben stieß sie in eine Welt noch jenseits der Haustiere, die man wenigstens noch vermenschlichen und dadurch etwas Mitgefühl erwecken konnte. Die Hygienebilder waren tatsächlich noch viel gefährlicher, denn mit ihnen wurden auch so positive Figuren wie Ärzte und Gärtner heraufbeschworen. Der Antisemitismus verkleidete sich mit den Gewändern der Wissenschaft und Technik und veredelte die Gewalt mit dem Geist der Objektivität, der »Sachlichkeit«.

 

Macht

Das zweite Bedeutungsbündel bezieht sich nicht auf Medizin oder Gärtnerei, sondern auf Spannung und Kampf. Seine Quelle ist nicht im Bereich der Hygiene oder im Rassismus zu suchen, sondern in der christlichen Kultur. Einerseits umschließt dies die Idee des Reichs als einer wünschenswerten Verkörperung der Macht und andererseits die Vorstellung, dass innere Einigkeit die Voraussetzung dafür ist, nach außen hin Macht zu haben. Dieses Bedeutungsbündel hat starke Wurzeln in Deutschland und ist die Folge einer langen Geschichte von internationaler Impotenz und latenter Angst vor Teilung, eine Angst, die aus der traumatischen Erfahrung der Religionskriege stammt. Nach 1870 wurden Macht und Einheit auf die Ebene staatstragender Dogmen erhoben, die jedoch meistens scheiterten und enttäuscht wurden; dies trifft auch schon auf die Zeit vor der militärischen Niederlage von 1918 zu, die endgültig alle Ambitionen zerschlug. Im folgenden nahm dann die extreme Rechte, insbesondere aber die Nazis, diese Herausforderung in einer weit radikaleren Weise wieder auf.

Seit Beginn der Emanzipation waren die Juden in der antisemitischen Tradition mit dem Machtthema verbunden. Doch der christliche Anti-Judaismus hatte auch in diesem Fall das Feld gut vorbereitet. Denn im Europa des Mittelalters hatten die Juden nicht nur Verachtung, sondern auch Angst hervorgerufen; dies zeigt sich an der lang anhaltenden Verknüpfung der Juden mit dem Teufel und Antichristen, ganz zu Schweigen von der Bedrohung durch fremde Mächte wie der der Mongolen oder Türken. Diese Repräsentationen basierten auf der Vorstellung, dass die Juden schon immer von einem wilden Hass gegen die Christen besessen waren und sich nach Rache sehnten.

[...]

In der nationalsozialistischen Ideologie war Macht – und alle ihre Folgen wie Größe, Ansehen und Ehre – offensichtlich ein zentraler Begriff. Das Ziel, auf das alles hinstrebte, war ein Deutschland, das in der Lage war, Europa ganz und gar zu beherrschen und den Kontinent politisch und rassisch dergestalt umzuformen, dass dieses Deutschland, wenn schon nicht die Weltherrschaft übernehmen, so doch wenigstens eine Supermacht sein konnte. Doch zuerst mussten die Nazis eine »Volksgemeinschaft« aufbauen, gemäß dem Motto »Ein Volk, ein Reich, ein Führer«, und das beginnt damit, die Entzweiungsarbeit der Juden zu unterbinden. Denn die Juden galten als die »Spalter« schlechthin. Angefangen bei Moses bis hin zu Lenin: ihre Methode war stets, die aristokratischen Eliten innerhalb des Staatskörpers mit Hilfe der Massen niederzuwerfen und außerhalb des Staates die Nationen gegen einander aufzuwiegeln. Ihr Ziel war es, das nationale Prinzip überall zu zerstören, denn dies war das größte Hindernis auf ihrem Weg zu hemmungsloser Machtausübung. In der Wahrnehmung der Nazis bedeutete dies, dass die Juden gleichzeitig – von Moskau aus – das Instrument der Revolution, sowie – von New York und London aus – das Instrument der internationalen Hochfinanz und internationaler Kriege benutzten (auch hier treffen wir wieder auf das Blut-Motiv); dies hatten sie während des ersten Weltkriegs schon einmal getan, als sie die Welt gegen das kaiserliche Deutschland einten. Mehr noch als sein Vorgängerstaat war das Deutschland der Nationalsozialisten die Verkörperung des Nationalprinzips; kein Wunder also, dass man vom internationalen Judentum nichts anderes erwarten konnte als Widerstand gegen den deutschen Aufstieg zur Weltmacht.

Diese Bilderwelten (sets of representations) sind insofern bemerkenswert, als dass sie christliche Muster wieder aufgreifen, zum Beispiel das Motiv der Apokalypse. Der Dualismus von Deutschen und Juden, den er von Chamberlain übernahm, entwickelte sich unter dem Einfluss der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg und der bolschewistischen Revolution zu einem apokalyptischen Kampf um alles oder nichts: entweder Weltherrschaft oder totale Vernichtung. Hitler hat das wirklich ernst gemeint: nach 1939 wiederholte er unermüdlich, dass es nie wieder eine Kapitulation wie die von 1918 geben würde; diesmal würde bis zum »Endsieg« gekämpft. Doch im Unterschied zur christlichen Apokalypse, in der die Gläubigen immer in Gottes Hand blieben, hielt Hitler den Ausgang des Kampfes für offen. Man konnte einen Sieg der Juden nicht ausschließen: also musste man sich auch einen sterbenden Helden vor einem brennenden Himmel vorstellen können. [...]

Kultur

Dieses letzte Bedeutungsbündel betrifft Werte, die viel tiefer verankert waren als jene, die zur Erzeugung irgendeiner politisch-institutionellen Einheit erforderlich gewesen wären. Es umfasst neben Kultur auch Kunst und Religion in einer Art und Weise, die eine Sehnsucht nach einer Wiedervereinigung und Verschmelzung der diversen Sphären des gesellschaftlichen Lebens ausdrückt: Politik, Religion, Kunst,

Wissenschaft, die im liberalen Zeitalter autonom geworden wa-

ren. Seit Beginn des 19. Jh. war diese Sehnsucht das Herzstück einer sehr deutschen Kulturauffassung, die untrennbar mit dem Begriff der Nation – jene Nation drückt ihren Geist in ihrer spezifischen Kultur aus – und der Religion verbunden war – Kultur ist dem Versuch verwandt, sich selbst zu finden und eine Brücke zu Gott zu bauen. Der wohl vertraute

Widerspruch zwischen Kultur als dem gemeinschaftlichen, besonderen einer Nation und Zivilisation als dem individualistischen und kosmopolitischen wurde hier vorweggenommen.

Das natürliche Ergebnis dieses breiten Kulturverständnisses war die Vorstellung einer nationalen Religion. Sie hatte ihre Wurzel in der Unzufriedenheit mit den religiösen Spaltungen, die als grundsätzliche Schwäche wahrgenommen wurden. Im 19. Jh. wurde diese Vorstellung wieder und wieder formuliert. Man kann sie z. B. in Wagners Ausführungen zur nationalen Erlösung durch Kunst nachlesen, und sie stand im Mittelpunkt der sich rasch ausbreitenden Ideologie der völkischen Bewegung, deren Ziele gleichzeitig politisch und religiös waren. Was die religiöse Reform betrifft, gingen die Vorschläge der Völkischen in zwei verschiedene Richtungen: entweder ein germanisches Christentum, das heißt, ein Christentum ohne Juden, in dem die ursprüngliche Reinheit wiederhergestellt wird – eine Reinheit, mit der es von einem angeblich arischen Jesus ausgestattet wurde, bevor der Jude Paulus kam und seine ursprüngliche Lehre pervertierte; oder als zweite Variante einen Germanischen Pantheismus, der vollkommen gegen das Christentum war.

Mehr noch als seine völkischen Vorgänger sehnte sich der Nationalsozialismus nach einer ganzheitlichen Kultur, die die sterile Welt der Moderne wieder verzaubern könnte und das Gefühl der Geborgenheit in einer Stammesgemeinschaft neu erschaffen würde. Kunst war für Hitler ein sehr wichtiges Mittel für dieses Ziel. Seine Bauprojekte sollten die Größe des neuen Deutschland bezeugen und darüber hinaus das Vertrauen auf eine zukünftige Ära der kulturellen Blüte erwecken. In einer noch tieferen Schicht nährten die Nazis das Ziel, die religiöse Einheit wieder herzustellen. Sichtbar wurde dies durch die weitverbreitete Inszenierung politischer Rituale und den Gebrauch von Symbolen; noch deutlicher kam dies in den privaten Gedanken Hitlers, Himmlers und Rosenbergs zum Ausdruck, die alle eine Vorstellung hegten, die man als Ethno-Religion bezeichnen könnte. Die Kernpunkte des Christentums wurden dabei verworfen: die Unsterblichkeit der Seele, der Glaube an eine jenseitige Welt, die Erbsünde, die Lehre der Gottes- und Nächstenliebe, die universelle Gültigkeit und ganz zu Schweigen von der Organisation des Klerus.

Diese Ethno-Religion umschloss sowohl eine religiöse Verehrung der Natur als auch ein archaisches Moralsystem. Die Naturreligion beruhte auf der Zurückweisung eines persönlichen Gottes und Schöpfers. An seiner Stelle stand die Vorstellung einer geheimnisvollen und bewundernswerten Schöpfung, in der der Mensch nicht das privilegierte Geschöpf Gottes wie in der Christenheit war, sondern einfach ein Teil einer lebendigen Welt, in der die »Naturgesetze« zu oberst herrschen: der Kampf ums Überleben, die Reinheit der Rasse, das Recht des Stärkeren. In diesem rassistischen Pantheismus gab es Unsterblichkeit nur in der Fortpflanzung und dadurch auch im Überleben der Rasse.

[...]

Zum Abschluss dieses ersten Teils möchte ich die Heterogenität dieser Diskurse hervorheben, deren Hauptkomponenten eine eugenisch-rassistische Wissenschaftsgläubigkeit, Muster des christlichen Kulturerbes und Spuren einer vorchristlichen Vergangenheit waren. Auf einer tieferen Ebene ist ihre Einheit offensichtlich. Man findet sie in den Hassbildern von Juden, die wie ein Stück negativer Universalismus im Herzen einer partikularistischen Ideologie steckten und die ein ungeheures Potential an Feindseligkeit genau deswegen besaßen, weil sie Bilder- und Bedeutungskomplexe aus vollkommen unterschiedlichen Quellen mobilisieren konnten.

[...]

Ein Charakteristikum möchte ich besonders betonen. Das vollkommene Verschwinden der Juden stand im Zentrum all dieser Darstellungskomplexe. Die Juden waren so voller Hass und brachten so viel Verderben, dass eine Koexistenz vollkommen außer Frage stand. Tatsächlich war ihr nacktes Dasein für die Nationalsozialisten so unerträglich, dass sie sich das Verschwinden der Juden auch im ungünstigen Fall eines jüdischen Sieges vorstellen mussten. Dann nämlich, so phantasierten Hitler und Streicher, würden die nicht-jüdischen Völker zwar unterliegen, weil die Juden sie zu Tode arbeiten würden. Aber letztlich würden die Juden dann doch aussterben, weil sie keine »Wirtsvölker« mehr hätten. In einem seiner nekrophilen Sätze beschrieb Hitler eine verwüstete und menschenleere Erde, die endlos durch das All rollt.

 

 

Dynamisierungseffekte der ersten Kriegsjahre

 

Im zweiten Teil möchte ich denselben Darstellungskomplexen im Zeitraum zwischen 1939 und 1942 nachgehen, also zwischen Kriegsbeginn und der sys-tematischen Durchführung des Genozids. Mit Blick auf die Ideologie bestand die Wirkung des Krieges hauptsächlich darin, den nationalsozialistischen Antisemitismus noch mehr anzuheizen und ihn emotional bis zum Maximum aufzuladen; man schuf einen Kontext, in dem die heterogenen Elemente zusammen gebracht und mit der entsprechenden Sprengkraft artikuliert werden konnten.

Vor 1939 verschwanden die Juden aus Deutschland hauptsächlich als Emigranten, teils freiwillig, teils unter Zwang. Zwischen 1939 und 1941 wurden Pläne für ein weit entferntes »Judenreservat« diskutiert; wären diese Pläne umgesetzt worden, hätte dies in letzter Konsequenz zu einer furchtbaren Dezimierung der jüdischen Bevölkerung geführt. Doch seit dem Sommer ’41 in Folge des groß angelegten Mordes an den sowjetischen Juden stellte man sich unter dem »Verschwinden der Juden« nur noch den Massenmord aller europäischen Juden im Einflussbereich des Dritten Reichs vor.

Wenn der Krieg einen derartigen Dynamisierungseffekt auf die nationalsozialistische Ideologie hatte, dann vor allem deswegen, weil im Zentrum ihrer Identität die Krise stand. Die Wirklichkeit des Krieges war in der Vorstellung von einer »Volksgemeinschaft«, die immer auch als »Kampfgemeinschaft« gedacht war, schon vorweggenommen; dies konnte nur, wenn die entsprechenden Umstände eintraten, zu einer zunehmend exklusiveren Definition eines »wir« gegen »die anderen« führen. Darüber hinaus führte der Krieg Notsituationen herbei, deren Bewältigung zu radikalen Maßnahmen verleitete, während er gleichzeitig den Schutz der Legitimität und Geheimhaltung versprach.

Als Konsequenz dieser Selbst-Mobilmachung einer Ideologie, die vollkommen auf Krisensituationen zugeschnitten war, entwickelte sich in der ersten Phase des Krieges eine mörderische Welle. Noch hatten die Deutschen militärischen Erfolg. Angetrieben wurde diese Welle von dem drängenden Ehrgeiz, den Kontinent so schnell und umfassend wie möglich umzu-

gestalten, sei es durch die Reduktion der slawischen Völker, die Eliminierung rassischer Gefahren in Deutschland oder die Rettung sogenannten »deutschen Bluts«, das über den Kontinent zerstreut war.

[...]

[Während sich die Strategie gegen die verschiedenen anderen »Volksfeinde« verändert,] geschieht im Falle der Juden das Gegenteil. Genau zu dem Zeitpunkt, zu dem Hitler aus ganz materiellen Gründen – dem Bedarf an Arbeitskräften, den ungenügenden Unterdrückungsmaßnahmen, der Beschäftigung mit den Reaktionen der deutschen Bevölkerung – die erste mörderische Welle abebben ließ, nimmt der Mord an den Juden ein bisher unbekanntes Ausmaß an. Offensichtlich konnte man ihn ihren Fall nicht warten, bis der Sieg errungen war. Diese Angelegenheit musste bereinigt werden, denn ihre Bedeutung war symbolischer Natur und stark genug, um alle Rücksichten auf Kosten und politische Risiken umzustoßen.

Lassen Sie uns zu unseren Darstellungskomplexen zurückkehren. Das Bedeutungsbündel »Gesundheit« gewann an Gewicht in einem Kontext, in dem militärische Operationen, die Verlegung von ganzen Bevölkerungsteilen und die Verschlechterung der Lebensbedingungen die Hygienerisiken vergrößerten und in dem die Anstrengungen des Krieges immer mehr Arbeiter verlangten. Die besetzten Gebiete Osteuropas, in denen die Juden unter entsetzlichen Lebensbedingungen litten, wurden weithin als Hygienerisiko dargestellt. Seit 1941 beriefen sich sowohl Militär als auch Polizei wiederholt auf die hygienischen Bedingungen, um die Vernichtung ganzer Gemeinden vorzuschlagen oder zu rechtfertigen. Das Bild des parasitären Juden, diesmal auf arbeitsunfähige Juden angewandt, wurde immer häufiger dazu benutzt, um selektive Liquidationen einzuleiten; man verfuhr hier in der gleichen Weise wie mit den behinderten Deutschen und deutschen Häftlingen in Konzentrationslagern nach 1939.

[...]

In den Jahren 1941 bis 42 waren Hitlers Tischreden über die Juden mit medizinischen Metaphern durchtränkt. Anders als seine Männer vor Ort redete er selten über eine jüdische Gefahr im Sinn eines Hygienerisikos – wie z. B. der Ausbreitung einer Seuche – oder im Sinn eines Schmarotzertums, das Strafe verdiente. Sein Diskurs hatte einen abstrakteren Ton, er drehte sich um Bazillen und Mikroben und wurde von häufigen Bezugnahmen auf einen Antisemitismus getragen, den er »wissenschaftlich« nannte. [...]

Am 25. Januar 1942 bemerkte Hitler unter direkter Bezugnahme auf den Genozid zu Himmler: »Man muss es schnell machen, es ist nicht besser wenn ich einen Zahn alle drei Monate um ein paar Zentimeter herausziehen lasse – wenn er heraußen ist, ist der Schmerz vorbei.« Dieser Euphemismus ist kaum noch zu überbieten. Er verglich die europäischen Juden mit einem Zahn; nichts deutete mehr auf ihr Leiden hin. Im Gegenteil wurde der Schmerz nicht ihnen zugefügt, sondern einem nicht näher definierten Wesen, Deutschland oder Europa, das schnell wieder gesunden würde.

In Bezug auf das Thema der Macht führte die zunehmende militärische Herausforderung, mit der sich Deutschland konfrontiert sah, zu immer aggressiveren Darstellungen von jüdischer Gewalt. In der zweiten Hälfte des Jahres 1941 führte die fortschreitende Annäherung der Sowjetunion an die anglo-amerikanischen Mächte dazu, dass sich in Hitlers Phantasie die Vorstellung einer allgegenwärtigen jüdischen Bedrohung unverrückbar festsetzte. In seinen öffentlichen Reden der vorangegangenen zwei Jahre hatte er noch verschiedene Gegner: die Juden wurden mit den Briten, Demokraten und Kapitalisten in eine Reihe gestellt. Jetzt jedoch verdichtete er alle seine Feinde in einer einzigen Figur. Die Juden wurden angeklagt, Deutschland in einem dramatischen Kampf ums Überleben in die Enge zu treiben, einem Kampf um »Sein oder Nichtsein der deutschen Nation«. [...]

Schließlich spielte auch das Bedeutungsbündel »Kultur« eine herausragende Rolle in dieser Phase. Der Krieg zwang Hitler dazu, seine Bauprojekte zurückzuschrauben, und die Bombardierung zerstörte viele bedeutende Bauwerke im ganzen Land. Darüber hinaus musste er den Burgfrieden mit den Kirchen respektieren, insbesondere nachdem Bischof Galen öffentlich sein »Euthanasie«-Programm im Sommer ‘41 kritisiert hatte; das frustrierte seinen Wunsch, mit den Kirchen so skrupellos umzugehen, wie es ihm passte. Wenigstens konnte er sich während der Tischgespräche seinen anti-christlichen Tiraden hingeben. Diese wurden zwischen 1941 und ‘42 immer häufiger, und er verurteilte in ihnen den schändlichen Einfluss des Christentums auf die germanische Welt. Mit der gleichen Beharrlichkeit griff er auch die Vergiftung des Christentums durch die Juden an und brandmarkte die katastrophale Zivilisation, die sie geschaffen hatten. Endlich mit den Kirchen abrechnen: das wäre der Ausgangspunkt für die komplette Umwertung aller Werte nach dem Krieg.

Als im Krieg immer mehr aufs Spiel gesetzt werden musste, fühlte Hitler offenbar den Drang, eine Nachkriegsordnung zu entwerfen, mit der die Kosten und Opfer gerechtfertigt werden konnten, die sich inzwischen aufgetürmt hatten. Die Idee des Tausendjährigen Reiches, des Paradies auf Erden, liegt hier nahe, obwohl sie nur schwerlich mit Hitlers Geschichtsvision zu vereinbaren ist, die einen ewigen Kampf der Rassen vorsah. Überdies war die Erlösung nicht allein durch den Mord an den europäischen Juden zu haben. Es mussten auch alle intellektuellen Produkte des Judaismus beseitigt werden: auch »der Jude in uns«.

[...]

Im ganzen heizte der Krieg die bereits existierenden Vorstellungen durch eine gesteigerte Unmittelbarkeit, Dringlichkeit und Wahrscheinlichkeit weiter an und machte die Vernichtung der Juden, in welcher Form auch immer, so wünschenswert wie nie zuvor. Doch der Krieg führte auch dazu, dass ihr Tod unerlässlich erschien, als vorhergehende Lösungen wie Emigration und Deportation zu einem weit entfernten »Reservat« unmöglich wurden und ein Kontext entstand, in dem die verschiedenen Elemente des na-

tionalsozialistischen Antisemitismus zu einer glaubhaften Gesamtaussage zusammengefügt werden konnten. Diese Aussage lässt sich folgendermaßen formulieren: Erstens: Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten wurden die Juden immer weiter erniedrigt; in Zustand und Erscheinung glichen sie Ungeziefer, insbesondere in Osteuropa; daher musste man sie auch wie Ungeziefer vernichten, das sie ja ohnehin waren. Zweitens: Ihr Tod war angemessen, um deutsches Blut zu sühnen und für die schwierige Situation zu büßen, in der das Reich gefangen war; denn die Juden außerhalb des nationalsozialistischen Europa, in London, Moskau und Washington, machten auf der ganzen Welt in einer Art und Weise gegen die Nationalsozialisten Front, dass ein deutscher Sieg, wenn auch nicht ausgeschlossen, so doch extrem kostspielig würde. Drittens: in dem Maße, in dem die Kriegssituation glaubhaft einer bereits zuvor feststellten Situation des »Alles oder Nichts« eingepasst werden konnte, war auch die Vernichtung der Juden als erster Schritt unbedingt erforderlich, ein entscheidender Schritt in Richtung einer vollkommen veränderten Zivilisation, eines währenden Heils, das die Beseitigung des gesamten jüdisch-christlichen Erbes erfordern würde.

 

Lassen Sie mich zum Abschluss daran erinnern, das die Geschichte dieses Genozids noch viele andere Dimensionen zu berücksichtigen hat und die Opfer wie auch die Täter mit einschließen muss. Doch ein genauerer Zugriff auf die Ideologie könnte diese Geschichte sinnvoll ergänzen.

Ich habe zu zeigen versucht, dass der nationalsozialistische Antisemitismus am besten als Konstellation heterogener Bilderwelten analysiert werden kann; intellektuell gesehen ist das eine sehr locker zusammenhängende Konstellation, die dennoch mit einer großen Anziehungskraft ausgestattet ist. In einem gewissen Sinn kann Hass sehr wohl kreativ sein; und der synkretistische Antisemitismus der Nazis war dahingehend kreativ, als dass er in einer einzigartigen Weise kalte Entmenschlichung, Rachsucht und eine utopische Vision miteinander verschmolz. Keinen Moment zweifle ich daran, dass der nationalsozialistische Antisemitismus nicht trotz, sondern gerade aufgrund seines synkretistischen Wesens in der Lage war, den Mord an den europäischen Juden mit einer Bedeutung auszustatten, die den Entscheidungsprozess an der Spitze maßgeblich beeinflusste und – durch viele Filter – zur Enthemmung der Täter beitrug, jenen Hunderttausenden von Deutschen, die direkt an den Morden beteiligt waren.

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Das nationalsozialistische Regime behauptete, Gesundheit, Macht und Kultur zu spenden, und dieser Anspruch scheint im Großen und Ganzen akzeptiert worden zu sein – ebenso wie das Bild, das auf die Juden als die Negation aller dieser Werte projiziert wurde.

[...]

Vielleicht ist dies auch der Aspekt, der uns am meisten beunruhigen kann: dass die Gefahr viel weniger im Hassgebrüll oder im plötzlichen Ausbruch von Gewalt liegt, sondern im Hass, der im Gewand des Diskurses einer vertrauten Kultur daherkommt.

 

Philippe Burrin