diskus 3/98

Zur Novelle des Asylbewerberleistungsgesetzes
Die Praxis der Ausschließung – Sozialstaat ohne Existenzminimum

Der Gesetzgebung im Ausländer- und Asylrecht kommt heute eine ähnliche Bedeutung zu, wie sie die Terroristengesetzgebung in den 70er Jahren als Experimentierfeld für die radikale Transformation des Sicherheitsstaates innehatte. Beispiele liegen dabei auf der Hand: sei es die (De-facto-)Abschaffung der Grundrechte auf Asyl und der Unverletzlichkeit der Wohnung, die Ausweitung der Funktion des Bundesgrenzschutzes (BGS) zu einer paramilitärischen Bundespolizei oder die sicherheitstechnische Aufrüstung der Innenstädte. Die sozial-kulturelle Konstruktion von Ethnien wird dabei gekoppelt mit Reden über Sozialmißbrauch, »Konkurrenz von außen« und Kriminalität und ist Teil einer Alltagspraxis, die eine rassistische Realität stets aufs Neue herstellt.

Der Wohlfahrtsstaat als Klassenkompromiß war von seiner Idee her ein Vehikel der Integration von Menschen, die durch die Wirkung der kapitalistischen Vergesellschaftung ausgegrenzt wurden. Eingeschrieben in seine Materialität war von Anfang an allerdings das rassistische Politikmuster der Verfügung über Menschen anderer Herkunft als subaltern Beschäftig-te.1 Seine tiefgreifende Veränderung im Zeichen der Wettbewerbs-Deregulierung läßt ihn nun selbst zu einem Instrument der Exklusion werden. Die neoliberale politische Praxis als die »vorübergehend dominante Ideologie«2 dieser Transformation setzt auf gesellschaftliche Polarisierung: Der Ausschluß eines Teiles der Weltbevölkerung aus dem Sektor, der von Privatkapital, Lohnabhängigen, Mittelschichten und qualifizierten Dienstleis-tungen gebildet wird, geht über die Marginalisierungen im Fordismus hinaus. Die »Ausgeschlossenen« bilden eine strukturell nicht wieder integrierbare Gruppe außerhalb der Produktions- und Verteilungssysteme.3+4 Sie müssen ihren Lebensunterhalt im Schatten der formellen Ökonomie bestreiten. Flüchtlinge haben dabei einen besonders prekären Status.

Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit sind tradierte Politikmuster in der hegemonialen Krise – da Bestandteile des sozialen Konsenses in der Bundesrepublik -, die das neoliberale Projekt von Anfang an kennzeichneten, so daß Neoliberalismus keineswegs nur »Sparpolitik« meint. An der Novelle des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) vom Juli 1998 läßt sich das Ineinandergreifen von Rassismus und Sozialstaatserosion exemplarisch zeigen.

Der Weg zum »Spezialgesetz«
Das AsylbLG, das 1993 gemeinsam mit der Änderung von Artikel 16a GG eingeführt wurde, markiert dabei den vorläufigen Erfolg des zwanzigjährigen Versuchs der Absenkung des sozialrechtlich garantierten Existenzminimums. Bereits 1981 wurde § 120 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), der die Vergabe von Sozialhilfe an AusländerInnen regelt, durch das »Zweite Haushaltsstrukturgesetz« dahingehend geändert, daß sich der Anspruch asylsuchender Auslän-derInnen auf die Hilfe zum Lebensunterhalt be-schränkte. Darüber hinaus sollte diese soweit wie möglich in Form von Sachleistungen gewährt werden. Schließlich konnten laufende Geldzahlungen auch auf das zum Lebensunterhalt »Unerläßliche« eingeschränkt werden.

In einem zweiten Schritt wurden 1984 diese Regelungen auf zur Ausreise verpflichtete AusländerInnen, deren Aufenthalt aus politischen oder humanitären Gründen geduldet wurde, ausgedehnt.5 Begründet wurde dies mit der Verhinderung des »Asylrechtsmißbrauches« und der Bekämpfung des »Schlepperunwesens«.6 Das Bundesverwaltungsgericht erklärte 1986 diese pauschale Reduzierung der Leistungen an AsylbewerberInnen für rechtswidrig. Eine Minimierung sei nur aufgrund von Besonderheiten im Einzelfall zulässig.7

Bereits zu diesem Zeitpunkt waren alle Topoi des »Leistungsmißbrauch«-Diskurses versammelt, lediglich ihre politische Durchsetzung war noch nicht vollends gelungen. Dies änderte sich jedoch mit dem am 1. 11. 1993 in Kraft getretenen AsylbLG, das diese sozialhilferechtlichen Ansprüche aus dem BSHG ausgliederte und als ein eigenständiges Leistungsgesetz für Flüchtlinge8 etablierte. Dabei wurde die radikale Absenkung der Sozialhilfesätze nach diesem Gesetz für die Dauer von einem Jahr festgelegt (§3 AsylbLG Abs.1), um danach wieder durch §120 BSHG geregelt zu werden. Die »Leistung« besteht aus der Deckung des notwendigen Bedarfs an Ernährung, Unterkunft, Gesundheitspflege etc. durch Sachleistungen zuzüglich eines »Taschengeldes« von 80 DM (bzw. 40 DM für Minderjährige unter 14 Jahren). Abschiebehäftlinge erhalten sogar nur noch 70% dieser Zuteilung. Bei einer Unterbringung außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen können die Sachleistungen in Geld ausgezahlt werden. Der Wert wird mit Beträgen zwischen 220 und 360 DM angegeben. 1997 wurde das Gesetz erstmals geändert und seine Anwendbarkeit auf drei Jahre ausgeweitet.

Bereits die Schaffung des AsylbLG und erst recht die erste Änderung wurden in der juristischen Literatur »ganz überwiegend als verfassungsrechtlich außerordentlich bedenklich«9 eingestuft. Es wurde eingewandt, das AsylbLG sei mit dem GG, nämlich der Menschenwürde (Art. 1 Abs.1 GG), dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs.1 S.1 GG) i.V.m. dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) – alle drei keine sogenannten »Deutschengrundrechte« – unvereinbar, da die Hilfeleistungen »generalisierend und über einen unvertretbar langen Zeitraum unterhalb des sozialhilferechtlichen Existenzminimums liegen«.

Die Praxis des »unabweisbar Gebotenen«
Dessen ungeachtet beschloß der Bundestag am 25. Juni dieses Jahres eine zweite Novelle des AsylbLG, die vom Bundesrat am 10. Juli abgesegnet wurde. Diese Gesetzesänderung kam nach einigem Wirbel zwischen den Koalitionsparteien und der SPD als Kom-promiß zustande. Denn ursprünglich war die Initiative zur erneuten Verschlechterung der Leistungsansprüche von einem Bundesratsvorstoß der Länder Berlin, Baden-Württemberg und Bayern ausgegangen, die von Niedersachsen unterstützt wurde. So forderte die Troika der Hardcore-Innenminister, Glogowski (»Kanther des Nordens«), der Exgeneral Jörg Schönbohm und Günther Beckstein anfänglich die völlige Leistungsverweigerung sowohl für diejenigen AusländerInnen, die nur nach Deutschland kämen, »um hier Leistungen zu kassieren« (FAZ vom 16. 6. 1998), als auch für Ausreisepflichtige, die ihre Ausreise dadurch verhinderten, daß sie ihre Ausweispapiere vernichteten, sowie für Bürgerkriegsflüchtlinge (hauptsächlich aus Bosnien). Vorrangig ging es bei dieser geplanten Änderung um Letztere. Die so-zialrechtliche Absicherung der Betroffenen wird unter dem Gesichtspunkt reiner Finanzpolitik und sogenannter »Sparzwänge« lediglich als unnützer Kostenfaktor verhandelt.

Eine breite Protestbewegung von Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Flüchtlingsorganisationen und dem Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlingsfragen (UNHCR) verhinderte jedoch die Umsetzung dieses Vorhabens: Bürgerkriegsflüchtlinge (und andere ausreisepflichtige AusländerInnen, die Deutschland aus humanitären Gründen (noch) nicht verlassen müssen) wurden als »Zielgruppe« aus der Novelle gestrichen.

Die Verschärfung für die übrig gebliebenen Gruppen folgt damit zwar nicht der anfänglichen Absicht der Initiatoren, stellt dafür aber um so deutlicher das Ergebnis des rassistischen Konsenses dar, in welchem sich zwei autoritär-populistische Diskurse vermischen: der des »Sozialmißbrauchs« mit dem des »Asylmißbrauchs«: Diejenigen, die ihren Paß vernichten, um nicht abgeschoben zu werden – oder die ihn schlicht auf der Flucht verloren haben – und diejenigen, die in Fragebögen der Sozialämter ohne Rechtsberatung leichtsinnigerweise erwähnen, sie kämen auch aus wirtschaftlichen Motiven nach Deutschland (§ 1a AsylbLG), fallen schlichtweg durch die Netze des Lobbyismus. Sie werden nicht als Opfer behandelt (wie den Menschen aus Bosnien), sondern als Sozialhilfe- und AsylbetrügerInnen kriminalisiert, die den deutschen Staat mit »Tricks« ausbeuten wollen – schließlich würden 95% aller Asylanträge abgewiesen. Deshalb sei es auch folgerichtig, diesen Betrugversuch nicht auch noch finanziell abzusichern (Schönbohm). Diese Vorstellung zeigt sich selbst bei Gegnern der Änderung. So begründete der UNHCR, der vehement gegen den Bundesratsvorstoß interveniert hatte, seine Ablehnung damit, daß die Gefahr bestehe, daß »auch echte Verfolgte in Mitleidenschaft« gezogen werden könnten (FAZ vom 19. 6. 1998). Durch die Verknüpfung von Migration und Kriminalität wird die Erzeugung einer Klasse von »Rechtlosen« legitimiert, da Kriminalität alltagskulturell mehrheitlich als eindeutig negativ angesehen wird10: »Es dient dem inneren Frieden und mag die brüchige Akzeptanz des Asylrechts verbessern, wenn eine breite politische Mehrheit dafür ist, dessen offensichtlichen Mißbrauch mit Sanktionen zu belegen« (FAZ vom 24. 6. 1998).

Dieser Ausschließungsmechanismus bezieht sich auf alle Kategorien des bürgerlich-kaptialistischen Rechtssubjekts: auf seine Freiheits- und Gleichheits-, wie auch auf die sozialen Grundrechte. Die beiden betroffenen Personengruppen erhalten in Zukunft Leistungen nach diesem Gesetz nur noch, soweit dies »im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten« ist. Was darunter zu verstehen ist, ist nicht geklärt. Unbestimmte Rechtsbegriffe und praktische Anwendungsprobleme kennzeichnen diese »Restnovelle«. Weder ist geklärt, wie das Sozialamt beweisen soll, daß jemand »nur« aus sogenannten wirtschaftlichen Gründen einreist, noch welche Form die staatlichen Leistungen fortan annehmen werden, das heißt: was letztlich »unabweisbar geboten« ist.

Grundsätzlich gilt im Sozialrecht die Regel, daß das »soziokulturelle Existenzminimum«11 nicht unterschritten werden darf. Auch hier gab es schon Ausnahmen, z.B. für die Ablehnung von Zwangsarbeit. In diesem Fall konnte die Sozialhilfe – für deutsche wie für ausländische Berechtigte – auf das »zum Lebensunterhalt Unerläßliche« reduziert werden. Ganz sicher ist, daß das »unabweisbar Gebotene« diese Grenze weiter unterschreiten wird, was durch die Ausgliederung des AsylbLG aus dem BSHG auch rein gesetzessystematisch erst möglich wurde. Ganz unverhüllt wird also einer der elementaren Eckpfeiler des Sozialstaatsprinzips verabschiedet und das bezeichnenderweise anhand eines MigrantInnenspezialgesetzes.

Bei der Umsetzung der Norm ist davon auszugehen, daß die Bezüge in Zukunft auf die Austeilung von Sachleistungen in Gemeinschaftsunterkünften beschränkt wird, was Zwangsausweisungen aus Wohnungen zur Folge haben kann. Allerdings wäre auch eine Interpretation des Gesetzes denkbar, die die völlige Einstellung der Leistungen ermöglichte.12 Ebenfalls fragwürdig ist, ob die medizinische Versorgung von den Einschränkungen unberührt bleibt. Beide Punkte werden vom Gesetz nicht erfordert, wurden aber in der Begründung während der Bundestagsdebatte über die Novelle ausdrücklich als politischer Wille bekundet, so daß eine »historische Gesetzesauslegung« (die den Willen des Gesetzgebers bei der Gesetzgebung berücksichtigen muß) kein »Aushungern« ermöglicht; rein theoretisch, denn der historische Wille des Gesetzgebers zählte in der deutschen Rechtsprechungsgeschichte bisher im Zweifel nicht.

Aber selbst die zweitschlechteste Interpretation als Sammellagerversorgung ist sozialrechtlich indiskutabel. Die heute schon übliche Gesetzesanwendungspraxis macht dies deutlich. So beschreibt ein Bericht über das Heim des Sozialamtes Neukölln13 die Unterbringung von Obdachlosen und Flüchtlingen, die Leistungen nach dem AsylbLG erhalten, wie folgt: Familien wohnen in einem Zimmer, die Essensausgabe findet zu festgelegten Zeiten statt, wer aufgrund von Sozialamtsterminen nicht anwesend sein kann, geht leer aus. Das Essen enthält praktisch kein Obst oder frisches Gemüse, so daß viele Flüchtlingen krank geworden sind. Reinigungskräfte gibt es keine. WC-Papier, Reinigungsmittel und Hygienebedarf oder Waschmittel werden nicht gestellt. Waschmaschine und Küchenherde stehen nicht kostenlos zur Verfügung.

Trotz einer vehementen Verschlechterung der Lebensbedingungen der betroffenen Flüchtlinge, die Obdachlosigkeit, Einweisung in Zwangsunterkünfte, Schwarzarbeit, Kriminalisierung und Prostitution – oder Zwangsausreise bedeuten können, führt die Novelle andererseits nicht zu der gewünschten finanziellen Einsparung für die jeweiligen Sozialhilfe leistenden Kommunen, so daß sich viele PolitikerInnen von der Kompromißlösung »maßlos enttäuscht« zeigten. Obwohl also das eigentliche Ziel der Neuformulierung des AsylblG vorerst gescheitert ist, bleibt als ›historische Fundsache‹ der Konsens, daß Flüchtlinge potentiell Sozialhilfebetrüger sind. Seine politische Aussage trägt zu jener Ansammlung rassistischer, sozialstaatsfeindlicher und kriminalisierender Argumentationen und Praxen bei, die als gesellschaftliches Klima die Lebensbedingungen von SozialhilfeempfängerInnen und vor allem von AusländerInnen nahezu unerträglich machen.

Sonja Buckel


x 1 x Alex Demirovic: Die Transformation des Wohlfahrtsstaates und der Diskurs des Nationalismus. In: Hans-Peter Krebs, Michael Bruch. Unternehmen Globus, Münster 1996, S. 98.
x 2 x Hans-Peter Krebs: Neoliberalismus. Weder apokalyptisches Untier noch Papiertiger. In: hibiskus Nr. 0, Frankfurt 1997, S.31.
x 3 x P. Ingrao, Rossana Rossanda: Die neuen Widersprüche. In: Prokla 100, 1995, S. 415.
x 4 x Vergleiche hierzu die Perspektive von Christof Parnreiter in diesem Heft, die von der These völliger ökonomischer Desintegration abweicht.
x 5 x Gem. Art. 26 Nr. 12 des Gesetzes über Maßnahmen zur Entlastung der öffentlichen Haushalte und zur Stabilisierung der Finanzentwicklung in der Rentenversicherung (Haushaltsbegleitgesetz).
x 6 x Gemeinschaftskommentar zum AsylbLG. Neuwied; Kriftel, April 1998.III. § 2, Rdnr. 57.
x 7 x BVerwGE 71, 139 (147).
x 8 x D.h. AusländerInnen, die über eine Flughafen einreisen wollen und denen die Einreise nicht oder noch nicht gestattet ist, AusländerInnen, die um Asyl nachsuchen und denen zur Durchführung des Asylverfahrens der Aufenthalt gestattet wird sowie solche, die nach dem Ausländergesetz zur Ausreise verpflichtet sind, deren Ausreise aber Hindernisse im Weg stehen, Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge und schließlich deren Ehegatten und minderjährigen Kinder (§1 Abs. 1 AsylbLG).
x 9 x Sibylle Röseler, Bernd Schulte: Gutachten zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des AsylbLG. Hrsg. v. Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e.V., Bonn, April 1998.
x 10 x Thomas. Kunz: Sicherheit im Zeichen der Burg. Der Sicherheitsdiskurs in der Wohlstandsfestung BRD. In: ARRANCA! Nr. 14, 1998, S. 29.
x 11 x Gemeinschaftskomm. a.a.O. Rdnr. 40.
x 12 x H. Heinhold (PRO ASYL): Stellungnahme zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des AsylbLG, Bundestagsdrucksache (13/10155).
x 13 x Bericht der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration e.V., Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin.