diskus 3/98

editorial

Er ist bereit. Andere wollen mit einem Handschlag erschrecken. Oder eben: Ü. Und gebt auch ihr eure Stimme für Arbeit und soziale Gerechtigkeit?

Wird in nationalstaatlich organisierten parlamentarischen Demokratien gewählt, geht es immer auch um die Reproduktion eines nationalen Kollektivs. Stets sind »wir« aufgerufen, im Wahlakt über die Zukunft »unseres Landes« zu befinden. Wählen vergemeinschaftet. Mehr oder weniger offen wird im Wahlkampf-Tamtam ausgehandelt, bzw. erneut festgeklopft für wen, für wen nicht und gegen wen Politik gemacht werden soll – wo das Innen und das Außen liegt. Häufig ist das Außen gar nicht so weit weg, sondern wohnt gleich um die Ecke – in der Bundesrepublik sind dies die ca. 7 Mio. AusländerInnen.

Dies ist keine neue Erkenntnis; bereits in den 80er Jahren waren »Ausländer« ein beliebtes Negativ, um Wahlstimmen zu fangen. In den 90ern haben sich jedoch die Erzählweisen von »den Ausländern« verändert bzw. verschärft: Über MigrantInnen wird gegenwärtig viel und meist in Zusammenhang mit Kriminalität und Illegalität geredet. Trotz entgegenlautender Bekenntnisse ist das Thema »Ausländer« zu einem zentralen Profilierungsfeld der Parteien auserkoren worden. Die Debatte um den »Fall Mehmet« ist nur ein Beispiel dafür.

Dies verweist darauf, daß sich die Anrufungen eines deutschen Wir verschoben haben. Vor gar nicht allzulanger Zeit wurde den »Bürgern« materielle Sicherheit und Wohlstand versprochen. Das scheint im Zuge der Reorganisation des »Standorts«, die die materielle Reproduktion auch vielen »Inländern« immer schwerer macht, nicht mehr möglich, bzw. gewollt. Staatliche Politik profiliert sich nun viel eher als Schutzmacht gegen imaginierte Gefahren, durch die die BürgerInnen ständig und überall bedroht seien: Mit rigoroser Härte gegen die aus den Elementen illegal, kriminell (mitunter gar organisiert), gewaltbereit, fanatisch... gebastelten Superschurken läßt sich prima Politik- und Durchsetzungsfähigkeit demonstrieren. Daß entgegen der parteipolitischen Rhetorik die Verschärfung der Einwanderungsgesetze nicht unbedingt auf völlig geschlossene Grenzen zielt, wird in dem Artikel Von Mauern mit Löchern deutlich. Staatliche Grenzregimes regulieren durch ihre steuerbare Durchlässigkeit Migration und stellen so verschiedene »Klassen« ausländischer Arbeitskräfte her, z.B. Legale und Illegale.

Ganz in der Kontinuität der letzten Jahre wurden auch in jüngster Zeit weitere Regelungen durchgesetzt, die den Aufenthalt für Leute ohne den richtigen Paß in Deutschland behindern, verunmöglichen oder beenden. So wurde das Asylbewerberleistungsgesetz verschärft (siehe Zur Novelle des Asylbewerberleistungsgesetzes) oder der Bundesgrenzschutz dazu berechtigt, »verdachts- und ereignisunabhängig« in Bahnhöfen, Flughäfen und Zügen Personenkontrollen vorzunehmen. Für den sogenannten Normalbürger stellt eine solche Befugniserweiterung keinesfalls ein Skandalon dar. Die Verlagerung der Grenzen ins Landesinnere richtet sich schließlich nicht gegen sie, sondern explizit gegen alle »illegitimen Eindringlinge«. Mehr als nur ein Nebeneffekt davon ist, daß derart Stigmatisierte tendenziell aus dem öffentlichen Raum verdrängt werden. (siehe Totaler Kontrollnerv)

Nicht immer verlaufen die Grenzen zwischen Innen und Außen entlang formaler Kriterien wie der Staatsangehörigkeit. Wie Ausgrenzung über kulturalistische Stereotype funktioniert, macht der Fall der muslimischen Pädagogin deutlich, die wegen ihres Kopftuches nicht in den Schuldienst übernommen wurde. Unabhängig davon, was die betroffene Lehrerin wirklich denkt oder tut, wurde das »Symbol« Kopftuch zur Begründung für das Berufsverbot. Parteienübergreifend wurde konstatiert, das Kleidungsstück stünde für Ausgrenzung und Intoleranz und habe in der religiös und weltanschaulich neutralen Schule nichts zu suchen. Gestattet man erst ein verbeamtetes Kopftuch, müsse man »morgen auch das Tragen des roten Sterns oder neofaschistischer Symbole genehmigen«, meinte beispielsweise Otto Hauser (CDU). Michael Damian von den Grünen begründete seine Ablehnung damit, daß »das Kopftuch nach wie vor eine Demonstration für die Unterwürfigkeit und Unterdrückung von Frauen« sei und Frauenunterdrückung eben »nicht in unseren Kulturkreis paßt« (holla). Was dem einen sein »christlich‘ Abendland«, sind dem anderen die »Werte der Französischen Revolution«. Die durchaus unterschiedlichen Begründungen haben ihren Fluchtpunkt in der Vorstellung einer politischen und kulturellen »Mitte«, die als Norm, bzw. Normalität gesetzt wird. Perfide an diesem Fall ist nicht nur, daß das Islambild gerade durch jene reproduziert wird, die damit das Berufsverbot begründen, sondern auch die Umkehrung des Toleranzbegriffs, nach der die Mehrheitsgesellschaft Toleranz von der Minderheit erwartet, sowie die damit gekoppelte absurde Unterstellung, eine marginalisierte Gruppe könne die Mehrheitsgesellschaft »ausgrenzen«. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum auch für Migranten in der zweiten oder dritten Generation das Integrationsgefasel einen mehr als üblen Beigeschmack hat. Wenn diese sich etwa verstärkt in türkischen Männercafes treffen, ist das also weniger Ausdruck einer dunklen anatolischen Sitte, sondern eher die Suche »nach Orten und Öffentlichkeiten, in denen einem kein Ethno-Identitätsterror ins Gesicht bläst« (siehe Sabri Abis Männercafe).

Ob Grenzen, Reiben, Mauern oder Kruzifixe – es gibt viele Kämpfe in Deutschland. Am schönsten sind für uns die, ähem, Klassenkämpfe.

Redaktion diskus

Wir laden ein zur öffentlichen Heftkritik am 7. 10. 98, 19:30 Uhr, Raum 106 im Studierendenhaus. Der diskus 4/98 erscheint voraussichtlich Mitte November.