diskus 3/98

garip dünya

Italia!
Zu einer schwerwiegenden Beziehungskrise kam es Anfang der fünfziger Jahre zwischen Sepp Herberger, dem Fußballbundestrainer und seinem Lieblingspieler und Ziehsohn Fritz Walter, als dieser ihm seine Heiratspläne eröffnete. Herberger wollte partout nicht Zeuge dieser Trauung werden, weil die Braut einerseits Italia hieß und andererseits so gar nicht in sein Bild einer treu sorgenden : Gefährtin9 des Fußballhelden paßte: Mit ihren hochhackigen Schuhen, rotlackierten Nägeln und der modischen Sonnenbrille war sie bereits ein Zuviel an Eleganz, an Persönlichkeit, die sich am Erfolg ihres Ehemannes nicht bescheiden würde. Bundessepp hatte für seinen Schützling doch eher eine : Kameradin9 vorgesehen, wie er sie in seiner selbstlosen Ev gefunden hatte. Die Frau sollte zurückstehen und dem Fußballgatten dienen und so der Nation, wenn er auf große Fahrt geht. Solche doppelte Leistung wurde gern als Fußnote im Sportteil gewürdigt: »Wie stehen sie jetzt im Mittelpunkt . die Männer unserer stolzen Fußball-Nationalelf! Umschwärmt, gefeiert, verwöhnt. Aber ihre Frauen . wo bleiben die in diesen Tagen vereinsamten armen kleinen Fußballfrauen?« fragte 1954 die BILD-Zeitung.

Heutzutage bleiben die : Fußballfrauen9 bei Welt- oder Europameisterschaften nicht allzuweit von ihren Männern. Auch sie treten als - allerdings prekäres - Inventar der jeweiligen nationalen Mannschaft die Reise ins WM-Land an, um als : Spielerfrauen9 ein unauffälliges Schattenteam zu stellen. Hübsch anzuschaun, wenn sie im Nationaltrikot auf der Ehrentribüne die Daumen drükken, aber eher geduldet als begrüßt. Denn zur Bildung einer verschworenen effektiven Gemeinschaft werden die Spieler mit ihrem Trainer in die temporäre zölibatäre Zone gebannt. Zuviel Sex macht schlapp auf dem Platz. In der Männerklausur sollen statt dessen die zarten Bande zwischen den Profikickern erzwungen werden, die den dringend benötigten Mannschaftsgeist binden. Dabei stören, wie jedeR weiß, die verführerischen Reize der Weiblichkeit genauso wie der schlechte Charakter der : Spielerfrauen9 . Mißgünstig, neidisch und extrem ehrgeizig was den Ehegatten angeht sind sie die ständige Bedrohung für das Kollektiv. Dieses Szenario wiederholt sich alle vier Jahre neu. Die Mär von der Männerfreundschaft, die zu Bruch geht, bedarf der Frau Möller, die ihren Andi nach Hause holen will. Das sät Zwietracht unter den : elf Freunden9 und bestätigt von neuem: Männer kommen prima miteinander aus, wenn die Frauen nicht wären. So war es schon immer. Auch Herberger mußte klein beigeben und wurde doch noch Trauzeuge für Italia, die ihm seinen Fritz wegschnappte. Fritz Walter aber wurde nach 1954 nie mehr Weltmeister. Wen wundert's?

Norbert Kresse


Dinosaurier
»Ab Februar und im Verlauf der folgenden Monate sandte das Telefon eine neue Botschaft mitten in das übliche neurotische Geklingel in meiner Wohnung. Gymnasiasten, die mich als einen jener roten Dinosaurier einluden, um über den gemeinsamen Mythos, die 68er Bewegung, zu sprechen. Meine Gesprächspartner am Telefon hatten klangvolle Namen: Pavel, Bolivar und Marlene, Ernesto und Camilo. Sie gehören einer Generation an, die bloß noch in ihren Namen einen Abglanz des Ruhmes abbekommen hat.

Da wir Dinosaurier dem Wesen nach historizistische Viecher sind (ein Umstand, auf den Spielberg noch nicht gekommen ist), und obendrein nostalgisch, albern gegenüber der Macht und rachsüchtig, befindet sich unser bevorzugtes Weidegebiet in den Hörsälen der Universitäten. Für die jungen Leute sind sie Gegenwart, für uns aber zusätzlich ein Bruchstück der Vergangenheit. Das ist die allerekelhafteste aller Nostalgien, die sich auf den Besitz bezieht.«

Paco Ignacio Taibo II (FR, Pfingsten 98)

Der Roman 1968/Gerufene Helden (156 Seiten, 24 DM) von Paco Ignacio Taibo II ist im Verlag Libertäre Assoziation, Schwarze Risse, Rote Straße erschienen.


Das AMK A schwört auf Dixi
Regelübertretungen sind manchmal eine unspektakuläre, eher pragmatische Option zur Befreiung aus mißlichen oder unbequemen Situationen. Eine solche Interpretation kam der aufgebrachten Nachbarschaft der St. Antonius Kirche im Frankfurter Westend, wo sich seit Mitte der 80er Teile der polnischen Gemeinde zum Gottesdienst trafen, anno 1991 aber nicht in den Sinn. Sie sahen in dem Umstand, daß wohl einer der polnischen Kirchgänger nach der Messe in einen Vorgarten pinkelte, einen Angriff auf die bürgerliche Ordnung, wie wohl überhaupt die Ansammlung von »Fremden« während der Sonntagsruhe als Störung empfunden wurde. Über einen Zeitraum von rund fünf Jahren engagierte sich das Amt für multikulturelle Angelegenheiten (AMKA) in diesem »Kulturkonflikt«. Das eher peinliche Ergebnis einer sich wohl über etliche Round Table-Gespräche hinziehenden Suche nach einer, wie es immer so schön heißt, für alle Parteien befriedigenden Lösung: zwei Kontainer-Klos und eine Reihe von Handzetteln, auf deutsch und polnisch, in denen die Besucher aus Polen zur Rücksichtnahme und zum Verständnis für die »Gastgeber« aufgefordert wurden, andernfalls könnten Vorurteile und feindselige Haltungen der einheimischen Bevölkerung die Folge sein. In Wer wie über wen? beschreibt Laura Mestre Vives, wie im angewandten Multikulturalismus des AMKA das Blabla von der gleichgültigen Koexistenz der verschiedenen »Kulturen« einmal mehr in das Dominanzverhältnis umschlägt, über dessen Existenz es sich beharrlich in die Tasche lügt. Die gesellschaftlichen Bedingungen für das einträchtige multikulturelle Miteinander sind längst festgelegt. Dazu gehört die Aufforderung an die Einwanderer, Rücksicht auf die Ticks und den Rassismus ihrer »Gastgeber« zu nehmen, genauso wie die dichotome Unterscheidung zwischen der »eigenen« und den »fremden Kulturen«, um die auch das AMKA nicht umhin kommt. Warum Mestre Vives allerdings, zwar widerwillig, zu dem Schluß kommt, daß die Ausblendung der realen Machtverhältnisse manchmal Schlimmeres, etwa Bürgerwehren oder rassistische Übergriffe verhindere, habe ich nicht verstanden. Lesenswert ist das Buch schon allein wegen der Darstellung einer Reihe ziemlich absurder Interventionen des AMKA. Auf jeden Fall sollte man sich von dem Titelbild mit den fünf kleinen Jungs drauf, einer rebellisch-niedlichen Negation der Symbolik von Multi-Kulti-Artikulationen á la United colors of ..., und von dem etwas zu sehr um Ausgewogenheit bemühten Text auf dem Buchrücken nicht abschrecken lassen.

Vanessa Barth

Laura Mestre Vives: Wer wie über Wen? Eine Untersuchung über das Amt für multikulturelle Angelegenheiten. Pfaffenweiler 1998, DM39,80


Plus que rien
Während des Uni-Streiks im Wintersemester 1997/98 bildete sich die Arbeitsgruppe »Radikalisierung«, die sich von den übrigen studentischen Protesten abgrenzte. Die kurz darauf erfolgte Umbenennung dieser Arbeitsgruppe in »Französische Verhältnisse« entsprach dem Verlangen, die politische Situation derart zu verändern, daß die Verbindung intellektuellen Engagements mit militantem Protest möglich werden könnte. Auch im Titel »Französische Zustände« äußert sich nun in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift Texte zur Kunst zumindest der Wunsch nach einer Beförderung des dortigen politischen und kulturellen Wissens hierher. Neben verschiedenen Beiträgen mit und über irgendwie politisch engagierte Intellektuelle, finden sich Artikel über die Kämpfe der »Sans Papiers« und die Repräsentation der Pariser Vorstädte.

Der Bericht Einige Demonstrationen von Stephan Gregory faßt die jüngsten Aktionen der »Sans Papiers« zusammen und liefert zugleich einen Überblick über die Kämpfe seit Beginn der Bewegung vor zwei Jahren. Die Feministin Claudie Lesselier präzisiert in einem Interview die Vorstellung, die man sich hier von den dortigen Auflehnungen der Migranten und Migrantinnen gegen die rassistischen Gesetze und behördlichen Schikanen macht um die unterschiedlichen Fraktionen innerhalb des Bündnisses. Lesselier, die selbst Teil der »femmes sans papiers« ist und für eine stärkere Verbindung von Theorie und Praxis in der Frauenbewegung eintritt, betont, daß nur durch einen konstanten Kampf der Frauen ihre Präsenz innerhalb der antirassistischen Bewegung demonstriert und der konstitutive Zusammenhang von Rassismus und Sexismus geklärt werden kann.

Mark Terkessidis behauptet in seinem Artikel, daß die Vororte und ihre Bewohner ohne die Repräsentation durch das Zentrum nicht existieren. Durch die Unterscheidung verschiedener Blicke auf die sogenannten chartiers chaudes gelingt es ihm anhand verschiedener Filme, die unterschiedlichen Grenzen der Repräsentation zu verdeutlichen. Die hegemonialen Versionen bestätigen jeweils unterschiedlich die Logik der Objektivierung, die eine paradoxe Situation für die Bewohner herstellt: Um zu existieren, das heißt um wahrgenommen zu werden, brauchen sie einen Repräsentanten, dem sie aber nichts gelten, wenn sie seinem Bild von ihnen nicht entsprechen. So müssen sie die Sprache und Problemdefinition des Zentrums übernehmen, um sich erklären. Nur die aktivistische Version schafft es dem durch Parteilichkeit für die »Subjekte« ein kleines bißchen zu entkommen: «Dabei ist gleichgültig, ob dieses ›Subjekt‹ ›objektiv‹ existiert; es genügt, daß es sich in der Vergangenheit immer wieder für eine bestimmte Zeit durch seine Handlungen konstituiert hat, durch seine historischen Akte des Widerstands.« Es ist genau dieser Widerstand, den man hier vermißt. Plus que rien.

Manuela Bojadzijev

Texte zur Kunst, Nr.30, DM 25,–


Klassenkampf revisited
Die Forderung der materialistischen Gesellschaftskritik, die Verhältnisse nicht mit irgendwelchen abstrakten Idealen zu konfrontieren, sondern sowohl Kritik als auch überwindende Praxis von deren inneren Bewegungen und Widersprüchen ausgehend zu denken, ist längst zur Leerformel erstarrt. Dies kritisierten die operaistischen Intellektuellen in Italien bereits Mitte der 60er Jahre. Anstatt die »kapitalistische Entwicklung« zum Ausgangspunkt der Analyse (und damit der Politik) zu machen – der Ansatz der traditionellen Arbeiterbewegung –, sei es notwendig, die konkreten Kämpfe der Klassen zu betrachten. Entgegen einer Vorstellung des Ökonomischen als einer selbsttätigen, von der Gesellschaft abgetrennten Sphäre seien es die nicht immer sichtbaren Kämpfe »von unten«, die die Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie bestimmten.

Ausgehend von dieser zentralen These untersuchen die, vielleicht am besten »Post-Opera-isten« zu nennenden, Autoren des nun beim ID-Verlag erschienenen Sammelbandes Umherschweifende Produzenten die Veränderungen von Produktions- bzw. Arbeitsverhältnissen im sogenannten Postfordismus. In seinem Beitrag Autonomie und Separatismus beschreibt Toni Negri jenen Zusammenhang von Kampf und scheinbar objektiv-ökonomischen Umbrüchen für den Prozeß der Dezentralisierung der norditalienischen Industrie in mittlere und kleinste Betriebe. Das »Auftreten neuer gesellschaftlicher Subjekte als selbständige Unternehmer«, die sich aus dem Heer der im Zuge der massiven Klassenkämpfe Anfang der siebziger Jahre entlassenen militanten Arbeiter rekrutierten, gilt es nicht bloß als Erfolg der Fabrikanten anzusehen. Vielmehr sind diese »gleichermaßen Ergebnisse des Kampfs gegen die Lohnarbeit und ein Niederschlag der kollektiven Anstrengung, sie zu überwinden«. Im Zentrum der Untersuchung von Paolo Virno in Do you remember Counterrevolution steht die Bewegung von 1977, deren Angriff auf die fordistischen Normen, Routinen und Alltagspraktiken von der kapitalistischen »Konterrevolution« umgedreht wurde: »Ihr Nomadentum, ihre Abneigung gegen feste Jobs (...) und ihre Experimentierfreude wurden in der kapitalistischen Produktionsorganisation zusammengebracht«. Maurizio Lazzarato bezeichnet die damit entstehenden neuen Formen von Arbeit, Ware und Produktion als »immaterielle Arbeit«, was darauf verweist, daß intellektuelle Tätigkeiten sowohl im Dienstleistungs- als auch im Produktionssektor immer bedeutsamer werden. Subjektivität und Wissen werden zu zentralen Momenten der posttayloristischen Produktion und damit dem Prozeß der Verwertung unterworfen.

Aber was hat all das mit der eingangs formulierten Kritik zu tun? Am deutlichsten formuliert dies Toni Negri: Es ist gerade die arbeitsorganisatorische Autonomie der immateriellen Arbeiter gegenüber dem kapitalistischen Kommando, die dessen Kontrolle immer äußerlicher werden läßt und der Hoffnung Nahrung gibt, daß die »Wiederaneignung« der gesellschaftlichen Produktion nicht bloß als Utopie, sondern tatsächlich in der Wirklichkeit anwesend ist.

Serhat Karakayali

Toni Negri, Maurizio Lazzarato, Paolo Virno: Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion.Herausgegeben von Thomas Atzert, ID-Verlag, 126 S., DM 24,–


Aufbruch in die Freiheit – Teil: Burschen
Unter dem Stern ungebrochen positiver Geschichtsdeutung fanden die Feierlichkeiten zu 1848 in Frankfurt statt. Nun kündigen sich auch noch die Burschen an, um sich am 4. Oktober in der Paulskirche als Erben der 48-Revolution zu feiern. Veranstaltet wird der Festakt vom Convent Deutscher Akademikerverbände, Deutsche Burschenschaften und Neue Deutsche Burschenschaften. Walther Benno Kießl, Vorsitzender des Convents beschreibt den Sinn und Zweck der Feier als Versuch, »den Bogen unserer eindrucksvollen, unvergleichlichen Geschichte aufzuzeigen.« Die deutschen Burschenschaften und Corps stehen in einer langen Tradition von antisemitischem und chauvinistischem Denken, völkischer Ideologie, Sexismus und soldatischem Männertum. Die Selbststilisierung der Deutschnationalen zu Vätern der Demokratie ist ein weiterer Versuch, die Geschichte der Burschenschaften in Deutschland vom Makel des Nationalsozialismus zu befreien. Doch derlei Einwände scheinen im Freudentaumel um 1848 als Aufbruch in eine demokratische Gesellschaft nebensächlich.

Also: Augen und Ohren offenhalten, Gegenaktionen sind in Planung, Informationen gibt’s in allen bekannten Infoläden und nicht am Kiosk.