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elektronisch gefesselte?

II. DISZIPLIN & NORMALISIERUNG

Vor der ersten Annäherung an das Feld Elektronische Fußfessel lag es nahe, diese Straftechnik im Bereich der post-disziplinären Praktiken einer Kontrollgesellschaft zu orten. Nicht zuletzt wird in Deleuzes »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften« (1993b) ein elektronisches Halsband als Metapher für die »Kontrollen« erwähnt. Aber schon die bereits zitierten Broschüren des Projekts und der Begleitforschung erinnerten in ihrer pädagogischen Diktion viel mehr an eine Umsetzung von Foucaults »Überwachen und Strafen«, an Disziplinierung, Besserung und Normalisierung. Als ich meine Forschung dann beendet hatte und die Interviews das erste Mal las, war klar, dass sich die Praxis der Maßnahme nicht so leicht in eine der Theorien einordnen ließ. Zudem scheint es mir auch wenig produktiv, in einer empirischen Arbeit mit »XYZ-Gesellschaftsbegriffen« (Horlacher 2004, 26) zu hantieren. Weitgehend werde ich eher von Dispositiven sprechen, da diese Begrifflichkeit zulässt, auch Dinge, die erst im Werden sind, zu begreifen, statt mit einer vorgefertigten Schablone den Gegenstand der Analyse in ein Raster zu pressen. Zuerst muss eine methodisch-theoretische Konzeption gefunden werden, in der sich das Forschungsobjekt fassen lässt. Der von Paul Rabinow benutzte Begriff der »Assemblage«, der auf Gefüge oder Ereignisse fokussiert, scheint mir hier dienlich und um diese Konzeption geht es im ersten Kapitel. Im zweiten bis vierten Kapitel will ich versuchen, die Techniken und Grundlagen dessen, was das Dispositiv der Disziplin ausmacht, darzustellen. Auf mein Feld übertragen bedeutet dies, sich nicht in erster Linie die juridische Konzeption eines Modellversuches anzuschauen, sondern das, was sich innerhalb dieser neuen Straftechnik abspielt, was es für Überwachte und Überwacher bedeutet. Im fünften Kapitel werde ich zwei Ethnographien aus dem punitiven Bereich, die sich mit Reformen der Strafe beschäftigen, vorstellen, um im nächsten Hauptkapitel dann den Blick auf eine Verbindung von Mikro- und Makro-Prozessen zu lenken.

II.1 Methodisch-Theoretisches Konzept: Dispositiv & Assemblage

»An experimental mode of inquiry is one where one confronts a problem whose answer is not known in advance then already having answers and then seeking a problem.« (Rabinow 1999, 174)
Nach getaner Forschung gilt es Begriffe zu suchen, die der Darstellung eines Forschungsgegenstandes gerecht werden. Dabei habe ich mich verschiedener Werkzeugkisten bedient, Begriffe sortiert, wieder verworfen und adaptiert. Für die Einordnung meines Themas entlang von Makro-Theorien benutze ich den Begriff des Dispositivs. Da ich aber durch mein Forschungsfeld Elektronische Fußfessel einen relativ kleinen »Site« habe, der zwar auf die Beschaffenheit von Dispositiven bzw. hier auf Bewegungen von einem zum anderem verweist, neue Paradigmen aufblitzen lässt, alte Techniken jedoch nicht restlos aufgibt, schien es mir sinnvoll, hierfür einen eigenen Begriff für die methodisch-konzeptionelle Darstellung des Feldes zu suchen. Gefunden habe ich ihn bei Gilles Deleuze und Felix Guattari [agencement], benutzen werde ich ihn ähnlich der Konzeption Paul Rabinows [assemblage].

Doch einen Schritt zurück: Der Begriff des Dispositivs bezeichnet bei Foucault ein heterogenes Ensemble diskursiver und nicht-diskursiver Elemente, er geht über rein sprachliche Ebenen hinaus und materialisiert sich z.B. in den Disziplinarinstitutionen und in sozialen Praktiken: als ein Mechanismus, Apparat oder Einsatz (vgl. Hardt & Negri 2002, 338), der eine überwiegend strategische Funktion hat (vgl. Foucault 1978, 120). Wenn beispielsweise jemand durch Resozialisierungsstrafen von seinen Abweichungen »geheilt« werden soll, dann soll er zurück ins Dispositiv geholt werden, also in den »Raum«, für den die Normen gelten. Das bedeutet nicht, dass dieses Verfahren nicht einhergehen kann mit (zeitweiligem) gesellschaftlichem Ausschluss. Allerdings weist Rabinow daraufhin, dass Foucault in seinen Untersuchungen immer historisch an der Stelle aufhört, »wo sich das Dispositiv, in dem wir seiner Meinung nach leben, formiert« (Rees & Caduff 2004, 24). Für Konzeptionen von ethnographischer Forschung schlägt Rabinow den Begriff der »assemblage« vor, als einer Art Maschine oder Gefüge, die auch das noch nicht Abgeschlossene bezeichnen und das Vorübergehende, »die Bewegung erkennen« (Rabinow 2004, 58ff.) kann. Das ist eine andere Konzeption als deduktiv das »alte« Dispositiv der Disziplin durch ein »neues« Dispositiv der Kontrolle einzutauchen und ermöglicht auch disjunktive Gleichzeitigkeiten von disziplinären und post-disziplinären Praktiken wahrzunehmen.11

»Assemblage«, die englische Übersetzung des französischen »agencement« aus den »Mille Plateaux« von Deleuze und Guattari lässt sich auf deutsch mit Montage, Anordnung oder Gefüge übersetzen und korrespondiert bei ihnen auch mit dem Begriff Maschine oder Apparat: »Les machines sont toujours des clefs singulières qui ouvrent ou qui referment un agencement, un territoire« (Deleuze & Guattari 1980, 412, kursiv i. O.). Von der bei Deleuze und Guattari doch sehr abstrakten Begrifflichkeit ausgehend, komponiert Rabinow Assemblage als »ein Gefüge, das die Dinge in einer anderen Weise geschehen lässt« (Rabinow 2004, 115). Rabinow entwickelt den Begriff aus seinen Forschungen im Bereich der Molekularbiologie, u. a. über das französische und isländische Genom-Projekt, in denen er als Anthropologe zunächst einmal auf das schaut, was dort eigentlich passiert: »What forms are emerging? What practises are embedding and embodying them? What shape are the political struggles taking? What spaces of ethics is present?« (Rabinow 1999, 12).12 Für meine Ethnographie im Feld intermediater Straftechniken ist dies ein konstruktivistischer Ansatz im doppelten Sinne. Zum einen für meine Konstruktion eines Forschungsfeldes, zum anderen dadurch, dass das Gefüge Elektronische Fußfessel von konkreten Akteuren zusammengesetzt wird und wie es in Praxis und Selbstdarstellung verhandelt wird. Assemblages werden »montiert«; dabei spielen Begehren und Affekte mit, ob sie nun ein Begehren nach Sicherheit, Regierung, Profit oder Anerkennung sind (vgl. Haggerty & Ericson 2000, 609).13

Die Assemblage Elektronische Fußfessel konzeptioniere ich so nicht einfach als eine Schnittstelle oder Verbindung von Bewährungshilfe plus Technikeinsatz, sondern als ein durch das technische Produkt sowie durch Praxis und Montage generiertes heterogenes Gebilde von neuen Interaktionen: als Überwachungs-Ereignis der ganz besonderen Art, das ich in der Empirie ausführlich darstellen werde. Damit grenze ich Assemblage auch von dem von Kevin Haggerty und Richard Ericson kreierten Begriff der »surveillance assemblage« ab, der zwar das Objekt und die Zeichenebenen begreifbar macht, aber die Akteure zugunsten der Struktur ausblendet:

»The resultant ›surveillant assemblage‹ operates by abstracting human bodies from their territorial settings, and separating them into a series of discrete flows. These flows are then reassembled in different locations as discrete and virtual ›data doubles‹« (ebd., 605).
Schlüssig ist dieser Begriff, da im Gegensatz zu einer totalen Institution wie dem Gefängnis, eine andere Form von Überwachung organisiert wird. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass im Falle von Electronic Monitoring trotz einer Expansion des »corrections-commercial-complex« (Mainprize 1996) immer noch eine staatliche Hoheit existiert und die Überwachung doch eine panoptische (top-down) statt einer synoptischen (bottom-up) Form annimmt (vgl. Hier 2003, 401). Eine synoptische Überwachung schließt auch extrem diskrete Formen von sozialer Kontrolle ein, daher ist es konzeptionell sinnvoller, diese explizit von staatlichen Sanktionspraktiken zu unterscheiden.14 Die Überwachung durch Electronic Monitoring ist auch deshalb noch panoptisch, da weiterhin ein Mensch-Maschine-Kontinuum bestehen bleibt. Zudem ist es beachtenswert, dass die technische Seite noch nicht endgültig ausgereizt wird und vor allem die Geräte der ersten Generation, die An- oder Abwesenheit in der Wohnung registrieren, im Einsatz sind: »The upshot for social control is that reliable monitoring only generates data verifying offender presence in the home« (Mainprize 1996). Sicher hat dies auch etwas mit den Kosten von Ortungssystemen, der immer noch problematischen Energieversorgung und deren Nicht-Unfehlbarkeit, die den KritikerInnen einiges an Zündstoff liefern würde, zu tun. Die eigentlich informatische Seite der Technik, auf die Haggerty und Ericson fokussieren, kommt im hessischen Modellversuch nur am Rande vor: Ein Server delegiert die Informationen über Abweichungen der An- und Abwesenheiten an die Bewährungshilfe (per SMS). Trotzdem scheint Neues in die Pädagogik einer klassischen Disziplinarinstitution einzutreten und führt zu heterogenen Verhandlungen innerhalb polyvalent umstrittener Bereiche, die Rabinow als »moralische Landschaften moderner Regimes« kennzeichnet. Ein Beitrag der Anthropologie ist hierin, »zu untersuchen, wie und weshalb Menschen moralisch argumentieren« (Rabinow 2004, 192).

II.2 Foucaults Anatomie der Disziplin

Auch wenn Foucault in »Überwachen und Strafen« mit seiner Untersuchung am Eintritt der Gegenwart stoppt, bildet sie eine Grundlage für die Verhandlungen von Norm und Normalität: »He had not written a history of the prison but analyzed the genealogy of elements of a disciplinary technology« (Rabinow 1999, 171). Deshalb werde ich mich im Folgenden nicht auf den (vielleicht verfehlten) Untertitel »Die Geburt des Gefängnisses«15 beziehen, sondern auf die Ausweitung von Techniken der Disziplin (als Kombination von Wissenstechniken und Machtpraktiken) und der Durchsetzung einer Normalisierungsmacht, wie sie vor allem in der »Wille zum Wissen« und zahlreichen kleineren Texten aus dieser Zeit entwickelte wurde. Nach Foucault sind in der kapitalistischen Moderne zwei mächtige Dispositive am Werk: Die individuellen Körper werden vom Dispositiv der Disziplinartechnologie kontrolliert und konstituiert - auf der Ebene des gesamten Bevölkerungskörpers reguliert das Dispositiv der Biopolitik, das im Unterschied zur souveränen Macht, das Leben nicht nimmt, sondern es verlängert und produktiv macht (vgl. Foucault 1983, 163ff.).16 Gerade diese, allem zugrunde liegende Strategie der Normalisierung und ihre Mitwirkung an der Konstitution von herrschender Moral und »Common Sense« als empirischem Mittelmaß von Normalität oder »Gewohnheiten« (vgl. Foucault 1976, 121) macht sie als anthropologisches Untersuchungsfeld so reizvoll. Durch die Re-Lektüre von »Überwachen und Strafen« lässt sich keine Einsicht in den Alltag eines Gefängnis der Gegenwart gewinnen, aber sie erinnert an die vermeintlich »natürlichen« Verfahren unserer Gesellschaft, von der richtigen Haltung beim Sitzen in der Schule bis zur Einteilung des Tages in »sinnvolle und maßvolle« Zeitabschnitte: Verhaltensweisen erzeugt als Resultat von Zurichtung und Disziplinierung.

Soziale Orthopädie
Im »Zeitalter der sozialen Orthopädie« (Foucault 2003, 85) formieren sich die Disziplinen als »Praktiken der Norm« (Ewald 1991, 163) und markieren so die Entstehung der großen Humanwissenschaften wie Psychiatrie, Psychologie und Soziologie im 18. Jahrhundert und erreichen ihren Höhepunkt in der politischen Technik des Panoptikums im 19. Jahrhundert. Diese kleinen und unscheinbaren Techniken der Disziplin formieren den »Mensch des modernen Humanismus« (Foucault 1977, 181). Die Kleinlichkeiten und Details dieses Reglements skizziert Foucault anhand von Beispielen aus Armee, Schule und Fabrikarbeit. Kennzeichen dieser Prozeduren ist im Gegensatz zur Kontrolle im Feudalismus, die auf der Grundlage des Territoriums operierte, die Umwandlung von Zeit in Arbeitszeit, das wichtigstes Element industrialisierter Gesellschaften: »Die Zeit der Menschen muss dem Produktionsapparat zur Verfügung stehen; der Produktionsapparat muss die Lebenszeit der Menschen nutzen können« (Foucault 2003, 114). Die Zeit wird in Abschnitte zerlegt und damit tritt eine lineare Zeit in Erscheinung. Die Individuen werden ständig charakterisiert durch Steigerung, Beobachtung und Qualifizierung mit dem Ziel einer Prüfung (Foucault 1977, 201ff.). Prüfung, hierarchische Überwachung und normierende Sanktion sind die Instrumentarien, welche die Mikrophysik der Macht dokumentieren. »In der hierarchisierten Überwachung der Disziplinen ist die Macht keine Sache, die man innehat, kein Eigentum, das man überträgt: sondern eine Maschine, die funktioniert« (ebd., 228f., kursiv i. O.).17 Der Begriff der normierenden Sanktion kennzeichnet die Etablierung einer Mikro- oder »Sub«-Justiz, welche den großen Bestrafungssystemen entgehen, aber in den kleinen Strafmechanismen wirksam werden (ebd., 230ff.). Sanktioniert werden hier u. a. Verspätungen, Unaufmerksamkeiten und Unanständigkeiten. Sie zielt auf Konformität und damit nicht nur auf das, was durch Verordnungen fixiert ist, sondern auch auf das, was durch die Beobachtung der Übungen sich als »natürlich« verfestigt, also die Regel. Ziel der Disziplinarstrafe ist es, Abweichungen von dieser Regel zu kurieren; dabei resultiert »der erwartete Besserungseffekt [...] weniger aus Sühne und Reue als vielmehr direkt aus der Mechanik einer Dressur. Richten ist Abrichten« (ebd., 232). Das Verfahren der Prüfung kombiniert nun Überwachung und Sanktion, in ihr wird mitunter am deutlichsten was Foucault als Macht-Wissens-Beziehungen kennzeichnet: Die Prüfung benutzt zahlreiche Aufzeichnungs- und Dokumentationsmethoden, um Individuen vergleichen zu können, durch das Verfahren der Anamnese tritt das Individuum in das Feld des Wissens ein: sie macht durch diese Verfahren aus jedem Individuum einen »Fall«, den es zu bearbeiten, zu klassifizieren und zu normalisieren gilt (ebd., 246).

Das Panoptikum als Metapher der Disziplinargesellschaft
Konzentriert findet Foucault diese Machttechniken in dem im 18. Jahrhundert vom englischen Utilitaristen Jeremy Bentham entwickelten Modell des Panoptikums. Foucault dehnt dieses architektonische Modell der Überwachung, welches in zahlreichen Gefängnisbauten realisiert wurde18 und eine Überwachungs-Situation in der Möglichkeit des Ständig-Gesehen-Werden-Könnens installiert, auf eine Metapher zur Beschreibung politischer Technologie aus, auf ein Programm, dessen »Gesamtheit eine Disziplinargesellschaft ausmacht« (Balibar 1991, 48). So formiert sich das Dispositiv vom »Ausnahmezustand« der Disziplin als einer temporären (institutionalisierten) Maßnahme hin zu einer allgemeinen Formel, zur Fabrikation nützlicher Individuen. Das Dispositiv der Disziplin ist so am Werden, am Zeitpunkt der massiven Industrialisierung und dem Problem der anwachsenden nicht-sesshaften Bevölkerung, auf sie zielt die Bio-Politik in Form von Familienplanung, Hygienekampagnen oder auch durch Sparkassen (als Erziehung zum Umgang mit dem knappen Lohn).19 Als Anpassung der Bevölkerung an die ökonomischen Prozesse zielen die Machtprozeduren der Disziplin also auf die individuellen Körper. In einer Erweiterung der Marx'schen »Kritik der politischen Ökonomie« bilden sie für Foucault eine »politische Anatomie des menschlichen Körpers« (Foucault 1983, 166).20 In Folge entwickeln sich die Disziplinen von Technologien zu Objektivierungsmechanismen, welche subjektivieren und unterwerfen, es entstehen klinische Medizin, Psychiatrie, Pädagogik und die Rationalisierung der Arbeit. Weitere Folge: die Disziplinen schieben sich unter die Rechtsform, sie bilden Subsysteme und eine Art »Gegenrecht«: »Die wirklichen und körperlichen Disziplinen bildeten die Basis und das Untergeschoß zu den formellen und rechtlichen Freiheiten« (Foucault 1977, 285). Die neuen Machttechniken, die Mikrophysik der Macht zeichnet sich durch eine Strategie der Normalisierung aus, welche, wie noch zu zeigen ist, über den Begriff der Disziplinierung hinausgeht.

Norm vs. Recht - Normalisierungsmacht vs. Souveränität

»Eine Macht aber, die das Leben zu sichern hat, bedarf fortlaufender, regulierender und korrigierender Mechanismen. Es geht nicht mehr darum, auf dem Feld der Souveränität den Tod auszuspielen, sondern das Lebende in einem Bereich von Wert und Nutzen zu organisieren. [...] Ich will damit nicht sagen, daß sich das Gesetz auflöst oder daß die Institutionen der Justiz verschwinden, sondern daß das Gesetz immer mehr als Norm funktioniert [...] Eine Normalisierungsgesellschaft ist der historische Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttechnologie. [...] Lassen wir uns nicht täuschen [...] durch eine unaufhörliche und lärmende Gesetzgebungstätigkeit: das alles sind Formen, die eine wesenhaft normalisierende Macht annehmbar machen.« (Foucault 1983, 171f.)
Foucault trifft keine bloße Unterscheidung zwischen Recht und Norm: die Verfahren der Normalisierung kolonisieren das Recht (vgl. Foucault 1978, 94). Im Feudalismus war der Körper des Königs eine politische Realität. Die Vorstellung einer Volks-Souveränität, also eines Übertrags des königlichen Körpers auf den Gesellschafts-Körper, die Vorstellung eines Vertrages der Rechtsgleichheit oder eines rechtlichen Konsens bezeichnet Foucault als ein »Phantasma« (Foucault 1976, 105). Die bürgerliche Gesellschaft beruft sich auf diese Vorstellung von Transzendenz, sie bildet eine Vermittlungsinstanz zwischen den »immanenten Kräften des Kapitals [...], den (immanenten) Vielen und dem (transzendenten) Einen« (Hardt & Negri 2002, 337): in der Form moderner (staatlicher) Souveränität. Foucault erfasst dagegen gesellschaftliche Realität als »Materialität der Macht über den Körper der Individuen« (Foucault 1976, 105), sie ist somit vielmehr ein »System des Zwangs« (ebd., 123), welches sich im Panoptismus spiegele: Die allgemeine Rechtsform beruht auf der »Mikromacht - den Disziplinen« (Foucault 1977, 285). Die Disziplinen scheinen als Subsysteme des Rechts zu arbeiten, sind aber als ein mit dem Recht kollidierendes Gegenrecht zu betrachten. Lemke ordnet dies nicht als theoretischen Widerspruch ein, sondern als Teil der politischen Realität (vgl. Lemke 1997, 77).21 Die »Macht der Norm« produziert ein »Supplement«, ein »Mehr an Macht« und bringt damit eine neue Rechtswirklichkeit hervor (vgl. Balibar 1991, 55). Im Gegensatz zum souveränen Recht (der weiter bestehenden juridischen Idealität) sind die Disziplinen die Träger eines speziellen Diskurses der Regeln, nicht dem der Rechtsregel, »sondern der natürlichen Regel, d.h. der Norm« (Foucault 1978, 93).22 Der Kodex dieser Norm leitet sich nicht vom Rechtsgebäude ab, sondern von den Humanwissenschaften als Entdecker der »natürlichen« Normen:
»Die Disziplinen produzieren nicht nur nützliche Individuen, die sie gleichzeitig unterwerfen; vielmehr produzieren sie auch ein Wissen von den unterworfenen Individuen, und umgekehrt setzt ihre Unterwerfung bereits ein Wissen voraus« (Lemke 1997, 78).
Dieses normative Wissen geht in den Prozess der Machtausübung ein und ist ihr deswegen nicht äußerlich. Foucault behauptet damit nicht, dass die Humanwissenschaften Ausdruck oder Ergebnis von Disziplinierung und Normalisierung sind (vgl. ebd., 79). Das Ensemble eines Macht/Wissens-Komplexes räumt vielmehr auf mit dem Mythos eines Gegensatzes zwischen Macht und Wissen. Foucault distanziert sich damit von Vorstellungen, die die Wahrheit als der Macht äußerlich betrachten und bezieht sich damit auf Nietzsche, wenn er bemerkt: »Wissen ist nicht frei von politischer Macht, sondern eng mit ihr verwoben« (Foucault 2003, 51). Beispielhaft für die Humanwissenschaften möchte ich mich hier auf die Kriminologie beziehen. Im 19. Jahrhundert bildet sich dieses Wissen, das nicht auf die Kontrolle des tatsächlichen, sondern des möglichen Handelns der Menschen rekurriert, aus und etabliert den Begriff der »Gefährlichkeit« als potentielles Verhalten (ebd., 83).23 In den durchaus heterogenen und diskontinuierlichen Diskursen der Kriminologie des 19. Jahrhunderts wird den Kriminellen eine Identität zugeschrieben, die in unterschiedlichen Menschenbildern entweder auf »Verderbnis« (sittlich-moralisch Veränderung) oder »Entartung« (durch Vererbung und Umwelteinflüsse) rekurrieren und so narrativ repräsentieren (vgl. Becker 2002, 30f.). Dieser Diskurs wird umso notwendiger, seitdem sich das Strafsystem vom reinen Rachegedanken zu einem System der »Unformierungstechnologie« transformiert. Foucault kritisiert hier die heutige Kriminologie als einen »geschwätzigen und aufdringlichen Diskurs«, der wie ein »Gebrauchsartikel« für die Richter fungiert, die über eine »Reform« des Individuums urteilen sollen als eine Strategie für eine Legitimation dieser Reform-Urteile, obwohl man schon weiß, dass die Strafinstrumente nicht reformieren (vgl. Foucault 1976, 41), sondern Delinquenz produzieren, was in Kapitel II.2.5. erläutert wird. Das nächste Kapitel wird sich vorerst in die Tiefe der Normen, Gewohnheiten und Normalisierungen begeben und auf die Rolle von Arbeit und Lebensführung. So formuliert Mayer in seinem Abschlussbericht als »Chancen für die Justiz«: »Der Einsatz der Fußfessel wird von den Probanden als deutliches Signal verstanden, dass bestimmte Eigenheiten der bisherigen Lebensweise nicht mehr toleriert werden« (Mayer 2004, 20).

II.3 Methodische Lebensführung: Arbeit als »Wesen des Menschen«

»Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch [dadurch], daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt. Es vermindert die Arbeitszeit in Form der notwendigen, um sie zu vermehren in der Form der überflüssigen; setzt daher die überflüssige in wachsendem Maße als Bedingung - question de vie et de mort - für die notwendige. Nach der einen Seite hin ruft es also alle Mächte der Wissenschaft und der Natur, wie der gesellschaftlichen Kombination und des gesellschaftlichen Verkehrs ins Leben, um die Schöpfung des Reichtums unabhängig (relativ) zu machen von der auf sie angewanden Arbeitszeit. Nach der anderen Seite will es diese so geschaffnen riesigen Gesellschaftskräfte messen an der Arbeitszeit, und sie einbannen in die Grenzen, die erheischt sind, um den schon geschaffnen Wert als Wert zu erhalten.« (Karl Marx 1983, 601ff.)
»Das Empire bietet Arbeit für alle. Je weniger Regeln das Ausbeutungsregime hat, desto mehr Arbeit gibt es. Auf dieser Grundlage entstehen die neuen Spaltungen der Arbeit. [...] Die ständige Angst vor Armut und Sorge um die Zukunft sind die Schlüssel, um einen Kampf unter den Armen in Gang zu setzen und den Konflikt unter dem imperialen Proletariat aufrecht zu erhalten. Angst garantiert letztlich die neuen Spaltungen.« (Hardt & Negri 2002, 346f.)
Der elementare Widerspruch des Kapitals ist, durch wissenschaftliche »Rationalität« und Rationalisierungen »überflüssige« Arbeit eigentlich reduzieren oder abzuschaffen zu können, dieses utopische Versprechen - beispielsweise, dass die Maschinen dies für uns alle einmal übernehmen - aber nicht einzulösen. Fallen die Kosten der Arbeitskraft im globalen Gefüge unter die Kosten für den Einsatz von Maschinen, so wird wieder mit Handarbeit produziert und Arbeitszeiten bei gleichzeitiger Lohnminimierung auf 10, 12 oder 14 Stunden heraufgesetzt. Umgekehrt darf es keine Repräsentationen von Glück ohne Arbeit geben, durch den Hass auf die Untätigen »kommt den Arbeitenden eine kritische Reflexion ihres Tun gar nicht erst in den Sinn« (Ebermann & Trampert 1995, 155) und stabilisiert einen regressiven Begriff des »Arbeitsethos«. So erhält in Disziplinierungsmaßnahmen Arbeit (und das ist meistens relativ unproduktive Arbeit24) und eine »Politik der Arbeitsmoral« (Cremer-Schäfer & Steinert 1998, 76ff.) einen sehr hohen Stellenwert, wie bei dem Programm Elektronische Fußfessel durch »Gemeinnützige Arbeit«. Die Disziplin »investiert« in die Arbeitskraft. Die Norm, arbeiten gehen zu müssen, und die dazugehörigen, wenn auch differenten oder differenzierten Arbeitsdisziplinen spielen sich im Immanenzfeld der Norm innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft ab: Wir alle sind dazu verurteilt, unsere Arbeitskraft als Ware zu verkaufen. Foucault bezeichnet dies als den »Erwerb von Gewohnheiten als sozialer Normen«, denen man sich unterwerfen muss, denn die Gewohnheiten sind das, »wodurch die Individuen an den Produktionsapparat gebunden werden müssen« und »dieser Apparat muß ein Verhalten fabrizieren [...], das heißt er fabriziert so etwas wie die Norm« (Foucault 1976, 121f.). Dabei ist zu beachten, dass dieser Apparat aber auch individualisiert und »charakterisiert« (ebd., 122), er schafft keine »egalitäre« Gesellschaft, in der Disziplinierungsprozesse alle in gleichem Maße treffen.25

Dass Planung und Einteilung von Zeit ein wichtiges Moment im kapitalistischen Produktionsprozess ist, haben Hubert Treiber und Heinz Steinert anhand der »Fabrikation des zuverlässigen Menschen« in der Kloster- und der Fabrikdisziplin untersucht. Sie übernehmen von Edward P. Thompson den Begriff der »methodischen Lebensführung« (Treiber & Steinert 1980, 29). Die kapitalistische Zeitplanung ist gekennzeichnet durch eine »Diktatur der Pünktlichkeit« (ebd.): Noch vor den Webstühlen zertrümmerten die »Maschinenstürmer« in England die verhassten Fabrikuhren. Dies ist insofern eine wichtige Anmerkung, weil wir darin das »Erst-im-Werden-Sein« eines Dispositivs der Arbeitsdisziplin und der Regelmäßigkeit erkennen, das für uns heute scheinbar so selbstverständlich ist.26 Regelmäßigkeit und der Rhythmus der Produktion mussten erstmal gegen die Lebensweise der ArbeiterInnen durchgesetzt werden. Ein ganz kleines Maschinchen verweist dabei auf eine komplexe Gesellschaftsorganisation: der Wecker. Der Tagesanfang wird durch ihn festgelegt, er reißt »einen zu einem vorher bestimmten Zeitpunkt aus dem Schlaf« (ebd., 41), zu dem man nicht unbedingt ausgeschlafen ist. Der Wecker deutet durch seine »Privatheit« auf die Trennung von Arbeits- und Schlafplatz (in »totalen Institutionen« wird meist zentral geweckt) und darauf, dass der Tagesbeginn der Gesellschaftsmitglieder individuell unterschiedlich sind. Letztlich verweist der Wecker noch auf das Zu-Bett-Gehen: Man muss den Abend davor regulieren und an die Zukunft denken (ebd., 48). Ein weiteres Mittel war die Erziehung zur Sparsamkeit durch die Einführung von Sparkassen und die Ansiedlung der ArbeiterInnen in kasernenartigen Siedlungen mit dem Ziel einer Reproduktion durch Familienplanung durch die Form der Ehe und durch Sesshaftigkeit, von den Autoren als »Verhaustierung des Proletariers« (ebd., 47ff.) polemisiert. Als Laboratorium für die Entstehung dieser Disziplinierungstechniken sehen Treiber und Steinert das Kloster (vgl. ebd., 52ff.), das sie als ein vorkapitalistisches Labor für die Entwicklung von Selbstdisziplin für Eliten betrachten. Sie setzen sich damit von Foucaults Analyse der Disziplin ab, der sie eine Verallgemeinerung der Disziplinen im abstrakten Paradigma des Panoptikums vorwerfen (ebd., 90; 96). Allerdings hat Foucault am Begriff der »Periodisierung« gezeigt, wie sich das Sexualitäts-Dispositiv mit dem strategischen Ziel der Familien- und Bevölkerungspolitik zuerst in den oberen Klassen entwickelte, bevor es auf die proletarische Bevölkerung über die »Moralisierung der armen Klassen« ausgedehnt wurde (vgl. Foucault 1983, 144ff.), mit genau den Mechanismen, die auch Treiber & Steinert beschreiben. Ein Effekt dieser biopolitischen Maßnahmen: »Damit die Arbeit als das Wesen der Menschen erscheint, bedarf es der Einwirkung einer politischen Macht, die diese Synthese herstellt« (Foucault 2003, 122). Damit wird eine »liberale Objektivierung« des Verhaltens durch die Norm von Leistung erreicht: der Wille zur Arbeit kann dann aus der eben durch individuelles Fehlverhalten verursachten Armut auch notwendigerweise aus ihr wieder hinausführen (vgl. Lemke 1997, 203).

II.4 Das Disziplinierungs-Paradox - Scheitern der Resozialisierung

Am Ende von »Überwachen und Strafen« resümiert Foucault über das dem Gefängnis eigentümliche Moment, statt zu »bessern« und damit die in seinem Einschluss zeitweiligen Ausgeschlossenen hinterher wieder zu integrieren, vielmehr ein Milieu der Delinquenz zu begründen und damit die Klassenjustiz zu etablieren.27 Erzeugt wird der Delinquent, indem nicht mehr in erster Linie die Tat, der Rechtsbruch interessiert, sondern dessen Biographie und Leben:

»Autant qu'on sache, la loi punit un homme pour ce qu'il a fait. Mais jamais pour ce qu'il est. Encore moins pour ce qu'il serait éventuellement, encore moins pour ce qu'on soupçonne qu'il pourrait être ou devenir.« (Foucault 1994b, 528)
Mit dem Delinquenten führt die Kriminologie den Begriff des »gefährlichen Individuums« ein (Foucault 1977, 324) und das Gefängnis produziert »den Delinquenten als pathologisiertes Subjekt« (ebd., 357). Das »Disziplinierungs-Paradox« (Cremer-Schäfer 2003, 3) ist der nicht-intendierte Effekt des Gefängnisses, wird aber in der Produktion von Delinquenz zu seiner Strategie - Delinquenz als Etikettierung von Außenseitern und Abweichlern wird das »komplementäre Gegenstück zur Moralisierung der Volksklassen im 19. Jahrhundert« (Rehmann 2003, 71).28

Die Technologie der Besserung und Umformung wurde als Resozialisierung ins moderne Strafrecht festgeschrieben, als im »Vollzugsziel genannte Fähigkeit, zukünftig ein Leben ohne Straftaten zu begehen« (Hoffmann-Riem 2000, 169f.). Das zentrale Forschungsfeld der Kriminologie ist dann auch die Kategorie der »Rückfälligkeit«. Sie soll Indikator sein für erfolgreiche Resozialisierung, an ihr werden die »Effizienz« und die »Effektivität« von Straftechniken gemessen. Der Jurist Peter-Alexis Albrecht kritisiert die Ausschließlichkeit dieser Fragestellung, sie »hält den Schein aufrecht, daß der Zweck des Strafens die ›Resozialisierung‹ sei« (Albrecht 1993, 54), dagegen wirken Inhaftierungen vorwiegend ausgrenzend, so wird die »Arbeitskraft der Gefangnen systematisch ›entwertet‹« (ebd., 61 kursiv i. O.) durch schlechte Bezahlung der erzwungenen Hilfsarbeitstätigkeiten. Foucault klagt das Ideal der Resozialisierung und die »behandelnden« Instanzen scharf an:

»Was die Richter durchsetzen, wenn sie ›therapeutische‹ Urteile verhängen, ist die Ökonomie der Macht und nicht die ihrer Skrupel oder ihres Humanismus. Empfinden die Richter immer mehr Unbehagen beim Verurteilen um des Verurteilens willen, so hat sich doch andererseits die Tätigkeit des Urteilens in dem Maße vervielfältigt, in welchem sich die Normalisierungsgewalt gestreut hat. Getragen von der Allgegenwart der Disziplinaranlagen und der Kerkerapparate, ist sie zu einer der Hauptfunktionen unserer Gesellschaft geworden« (Foucault 1977, 392).
Die humanistische Strafform der Einsperrung folgt den Erfordernissen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Deren Imperative regulieren die Dispositive der Disziplin und der Bio-Politik in den oft unscheinbaren alltäglichen Reglementierungen und Unterwerfungen, der Durchsetzung von Arbeit als »Wesen des Menschen« und der Ziehung einer Grenze zwischen dem Normalen und dem Anormalen. Die »Menschlichkeit« gründet so auf einer neuen »Rationalität des Strafens« (Lemke 1997, 84).

Durch das »Disziplinierungs-Paradox« ist der Effekt des Gefängnissystems weniger eine Re-Integration in die Normalisierungs-Gesellschaft, als eine De-Sozialisation in ein Milieu der Delinquenz oder des sozialen Scheiterns. Erving Goffman beschreibt den Prozess dieser Entwurzelung aus dem gesellschaftlichen Leben als »Diskulturation«, einen »Verlern-Prozess« von den draußen erforderlichen Gewohnheiten (Goffman 1972, 24; 76). Demgegenüber entsteht ein Assimilationsprozess an die Gefängniskultur (»Prisionierung«) und ein Herausbilden von Regeln (»Code«) der Insassen in Form von gegenseitiger Loyalität und möglichst wenig Kooperation mit dem Gefängnispersonal (vgl. Maeder 1995, 8ff.). Doch gerade die von der Institution nicht intendierten Prozesse und Organisationsleistungen der Insassen, das »Unterleben« der Institution, garantieren auch die Stabilität, das Funktionieren von Anstalten (Goffman 1972, 194).

Mit dieser Beschreibung der andauernden Reform und Krise des Gefängnisses schließt sich der panoptische Kreis. Ist die permanente Krise ein Indikator für Deleuzes »Werden« einer Kontrollgesellschaft? Im nächsten Kapitel werde ich zwei neuere Forschungen aus dem Bereich des Reform-Strafvollzug und »neuer Pönologie«29 vorstellen, die sich auf die Elemente bisheriger Theorie-Kisten beziehen, um im darauf folgenden Kapitel verschiedene Rezeptionen, Erweiterungen und Rückweisungen von Foucault zu diskutieren.

II.5 Forschungen aus dem punitiven Bereich
II.5.1 Kommunikativer Panoptismus im Offenen Vollzug

Im speziellen Offenen Vollzug im schweizerischen Saxerriet gibt es keine Gitter und Mauern, die Einschließung funktioniert nach Maeder in einer Modifikation von Foucaults architektonischem Panoptismus hin zu einem »kommunikativen Panoptismus«, den vor allem die Geschichten, die in der Anstalt erzählt werden, ausbilden:

»Ein Insasse hat einmal bemerkt, dass er sich hier die Mauer immer denken müsse, was viel schlimmer sei, als wenn es eine physische Mauer gebe. Die Mauer im Kopf werde er nie los, die gebaute Mauer hingegen sehe man, wie er selbst erlebt habe, mit der Zeit nicht mehr. Durch das Erzählen von Geschichten helfen die Insassen mit der Weitergabe ihrer Erlebnisse unbeabsichtigt mit, die Einschliessungswirkung der Anstalt zu gestalten.« (Maeder 1995, 230).
Im Unterschied zu Benthams Panoptikum (vgl. Foucault 1977, 256ff.) wird in Saxerriet nicht mehr die Sichtbarkeit zur Falle, die Rede erzeugt die Einschließung, z. B. davor, dass außerhalb der Anstalt »überall kleine ›Höllen‹ lauern« (Maeder 1995, 232), draußen wie auch in den Höllen des Geschlossenen Vollzugs, vor deren negativer Folie sich der Reformknast auch besser repräsentieren kann.30 Leider führt in Maeders Studie die Betonung der Kommunikation und der Geschichten dazu, dass diese als einzige Machttechniken in der Anstalt erscheinen. Die Ironie dieser Anstalt, die versucht, Resozialisierung umzusetzen: Sie ist damit auch nicht erfolgreich. Ähnlich wie Foucault die produktive Ausnutzung des delinquenten Milieus beschreibt, bezeichnet Maeder die Funktion von Saxerriet als »Aufrechterhaltung sozialer Desintegration«:
»Diese Desintegration wird in dem Sinn stabilisiert, als dass die Insassen durch die residentielle Segregation in diesem Strafvollzug nachhaltig in ein Inventar des Scheiterns als Normalzustand sozialisiert werden.« (ebd., 234)
Interessant ist weiterhin der Aspekt, dass Saxerriet neben der architektonischen Kontrolle auch auf elektronische Überwachung verzichtet. Die Ablehnung von elektronischen Systemen schlägt sich auch in einer Geschichte nieder, die der Direktor der Anstalt voller Schadenfreude berichtet. Ein anderes Gefängnis, das der Direktor als ein Gegenmodell zu Saxerriet einordnet, war mit einer hochmodernen elektronischen Sicherheitsanlage ausgerüstet worden, alle Türen ließen sich nur mit Magnetkarten öffnen, die Zugangsberechtigungen steuert ein zentraler Computer. Nachdem ein Gefangener das Kästchen an seiner Tür zerstörte, wurde dadurch das komplette System lahm gelegt und auch das Personal war auf den Gängen eingeschlossen, bis ein Fachmann der Herstellerfirma die Anlage für viel Geld reparierte. Dort sei, so der Direktor, in die »"völlig falsche Richtung« investiert worden: »Viel wirksamer für die Herstellung von Sicherheit und Ordnung, so der Direktor, sei auf jeden Fall das dauernde Gespräch« (Maeder 1995, 188). Diese Aussage ist deshalb so interessant, weil sie einen Kern der Auseinandersetzung in der Bewährungshilfe um elektronische Überwachung spiegelt.

II.5.2 Electronic Monitoring zwischen Kontrolle und Resozialisierung

Der Kriminologe Michael Lindenberg beschäftigt sich seit Anfang der 1990er Jahren mit elektronischer Überwachung. Lindenberg stellt die Frage, ob es einen Paradigmenwechsel zwischen Disziplinar- und Kontrollgesellschaft gibt, und ob der elektronisch überwachte Hausarrest ein Zeichen dafür sei (vgl. Lindenberg 1992, 20ff.). In seiner Feldforschung (zusammen mit Detlef Nogala) kommt Lindenberg zu recht differenzierten Ergebnissen. Ihr erster Forschungsort ist der Sitz der Firma Boulder Industries in Colorado, dem ersten und marktführenden Hersteller des Produktes Electronic Monitoring. Boulders hat es geschafft, seine Ware erfolgreich zu vermarkten und spürt mittlerweile die Ideologie auf, die ihr Geschäft ermöglicht (vgl. Lindenberg 1997, 70). Von Boulders bekamen die beiden Forscher dann einen Zugang in ein südkalifornisches und ein schwedisches Bewährungsamt vermittelt. Obwohl beide Institutionen exakt dieselbe Technik einsetzen, arbeiten sie sehr unterschiedlich. Während in den USA ein fragmentiertes ambulantes strafrechtliches Kontrollsystem mit einem Fallmanagement herrscht, so ist das Bewährungssystem in Schweden zentralisiert und Klienten-orientiert. So charakterisiert Lindenberg die Bewährungsarbeit in Tulare County als »stand-up«-Bewährungsarbeit, die bewaffneten BewährungshelferInnen kommen in die Wohnung und fordern die BewohnerInnen erst einmal auf, sich an die Wand zu stellen, während in Malmö die »sit-down«-Bewährungsarbeit bevorzugt wird: gemeinsames Kaffee trinken und ruhiges, sozialarbeiterisches Fragestellen (ebd., 164) - ähnlich der deutschen Bewährungsarbeit. Trotzdem sieht Lindenberg die Praxis von Electronic Monitoring als flexibel genug, um in beiden Ländern als Kontrollfunktion genutzt zu werden. In Schweden als Erzeugung intrinsischer Motivation bei den Klienten, die den Zwangscharakter der Maßnahme als »Initialzündung« nehmen »und aus dieser Situation heraus ihren Bewährungsverlauf selbst gestalten« (Lindenberg 1997, 161) - während der US-Bewährungshelfer nichts von der Selbstverantwortung der Überwachten hält: »Seine Aufgabe sieht er darin, mit fester Hand einen möglichst gut schließenden Deckel auf den brodelnden Topf der Kriminalität zu drücken« (ebd.). In beiden Fällen ist die Grundlage eine Kritik am rehabilitativen Ideal: in den USA ist es der Kollaps und die Verabschiedung davon, in Schweden der Versuch einer Rettung oder einer Verzögerung dieses Niedergangs. Das Bewährungsamt in Schweden funktioniert insofern noch nach der alten Pönologie, die in Tulare County schon längst von der »Sprache des Managements« und »besseren Klassifizierungsmöglichkeiten« abgelöst wurde (ebd., 197). Darin sieht Lindenberg vor allem das Bestreben, nicht mehr Einstellungen, sondern Verhalten zu ändern, was ihn aber nicht dazu veranlasst,

»von dem Absterben der alten, disziplinatorischen Pönologie zugunsten einer neuen, versicherungsstatistischen Pönologie zu sprechen. Die Bewegung von der alten Normalisierung (Überbrückung des Abstandes von Verteilung und Norm) zur neuen Akkomodierung (bloße Reaktion auf die Variationen der Verteilung) verläuft nicht geradlinig. Das Neue wuchert nicht auf den Ruinen des Alten. Es gibt keinen gepflasterten Weg [...] von der Disziplinargesellschaft zur Kontrollgesellschaft, von der alten zur neuen Pönologie« (ebd., 202).
Zusammen mit anderen Maßnahmen wie Wiedergutmachung, Drogentherapien oder »boot camps«31 bildet Electronic Monitoring neue »intermediate Straftechniken« (ebd., 81f.) Ihr Effekt: Sie legen sich als schützende Umrandung um das »Feld des Einsperrungsfeldes«, das Gefängnis als Zentrum (ebd., 169). Die neue Pönologie bildet ein Dreieck aus Kostenreduzierung, Effektivität und Kontrolle, aber:
»Macht und Wissen lassen sich nicht positivistisch von ihrem sozialen Kontext ablösen, und besonders im Bereich der Strafe nicht. Wir können daher nicht voraussetzen, dass sich die rationalsten und effektivsten Strafformen durchsetzen. Die Strafe ist zu sehr mit moralischen Handlungen imprägniert« (ebd., 203).
Hinter der Fassade kommen so in Kalifornien neokonservative Motive durch (Wiedergutmachung, Abschreckung, Verantwortlichkeit), während in Schweden die Moral immer noch in der ersten Reihe steht, »allerdings ihrerseits mit Effizienzmotiven durchsetzt« ist (ebd., 206).

 

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11 Dieser Begriff von Assemblage, um der festen Form von Dispositiv zu entweichen, entspricht wiederum genau der Definition des Dispositivs bei Deleuze: »Wir gehören Dispositiven an und handeln in ihnen. Die Neuartigkeit eines Dispositivs im Verhältnis zu seinen Vorgängern, das nennen wir seine Aktualität. Das Neue ist das Aktuelle. Das Aktuelle ist nicht das, was wir sind, sondern eher das, was wir werden« (Deleuze 1991, 159f.).

12 Rabinow konzipiert das Werden von einer Form praktischer Vernunft als ethnographischem Objekt, beispielsweise die Konstruktion von Normen und damit moderner Gesellschaft durch »technician of general ideas« (Rabinow 1989, 9) durch Städteplaner oder anderer Mittler zwischen Wissenschaft und alltäglichem Leben - weshalb ich diesen Begriff der »Techniker (allgemeiner Ideen)« auch für Richterinnen und Bewährungshelfer als kompatibel betrachte.

13 In Deleuzes und Guattaris Schizo-Analysis sehen sie Begehren nicht wie in der traditionellen Psychoanalyse als Kategorie des Mangels an, sondern als eine konstruktive Kraft.

14 Ein Beispiel für synoptische Überwachung ist das Anlegen von »data doubles« über Konsumentinnen. Bestelle ich beispielsweise beim Internetversand Amazon Bücher oder CDs, wird für mich ein persönliches Profil mit Buch- und CD-Vorschlägen erstellt, das nach häufigen Bestellungen doch recht gut meine Vorlieben abbildet. Insofern werden viele dieser »surveillant assemblages« nicht als Kontrollen wahrgenommen, außer sie werden von Datenschutz-AktivistInnen angeprangert wie die geplante Einführung von RFID-Barcodes durch den Metro-Konzern (vgl. FR, 07.05.2004, 28f.). Diese vermeintlich harmlosen Datensammlungen, gespeist durch Geldkarten, Mobiltelefone und biometrische Kameraüberwachung können dort, wo die Datenschutzbestimmungen noch weniger streng sind, wie in den USA plötzlich relevant im Strafprozess werden. Beispielsweise wurden im Prozess gegen O.J. Simpson Details vorgelegt, z.B. welche (Porno-)Filme sich der Angeklagte in Hotels anschaute (vgl. Haggerty & Ericson 2000, 618f.).

15 Foucault gründete zusammen mit anderen französischen Intellektuellen 1971 die »Groupe d'information sur les prisons (G.I.P.)«. Auf eine Analytik des Gefängnis der Gegenwart angesprochen, reagierte er mit dem Verweis auf diese politische Praxis, die er wirkungsvoller als Theorie empfand. Doch diese Weigerung, seine Genealogie auf moderne Gefängnisse auszuweiten, führt leider dazu, dass die Gefängnisse, die er beschreibt, immer eher Arten von Besserungshäusern sind. Treiber und Steinert werfen ihm deswegen vor, den Untertitel verfehlt zu haben, er beschreibe ja eigentlich nicht die Geburt des Gefängnisses, sondern drei Arten von sozialer Kontrolle und deren Anerkennung durch die Justiz (Treiber & Steinert 1980, 82). Allerdings kann diese berechtigte Kritik für mich unberücksichtigt bleiben, da es mir nicht um die Darstellung des Gefängnisses geht, von dessen Folie ich dann ableitende andere Straftechniken beschreiben könnte, sondern um die Darstellungen der Disziplinen, für die das Gefängnis ein Beispiel ist, die aber nicht nur in »totalen Institutionen« (Goffman) auftauchen, sondern in ihrer Ausdehnung auf die gesamte Bevölkerung weisen.

16 Im 16. und 17. Jahrhundert gab es durch Pest und Krieg(sfolgen) »keine der Zunahme der Beschäftigungsmöglichkeiten entsprechende Vermehrung der Bevölkerung« (Rusche & Kirchheimer 1981, 36ff.). Eine Erhöhung der Geburtenrate und Senkung der Sterblichkeiten war für ökonomische und militärische Strategien unerlässlich. Soldaten waren dermaßen knapp, dass Exekutionen nur selten durchgeführt wurden, Kriminelle entgingen dem Galgen mit dem Eintritt in die Armee (vgl. ebd., 45).

17 In der klassischen Definition von Max Weber ist Macht von amorpher Gestalt. Allerdings kennzeichnet Weber Macht nur deshalb als amorph, um sie gegenüber einem normativen Begriff von Herrschaft: Gehorsam als Folge von Befehlsgewalt = Disziplin, abzugrenzen (Wobei interessanterweise auch Weber Disziplin schon als »Eingeübtheit« kennzeichnet, vgl. Weber 1980, 28f.). Foucault kennzeichnet dies als eine rein negative Form von Macht, eine »juridisch-diskursive Vorstellung von Macht« (Foucault 1983, 106). Bei ihm ist Macht keine Substanz oder Stoff, sondern definiert eine Beziehung (vgl. Lemke 1997, 118) - Foucault re-etabliert später einen Begriff der Herrschaft, z. B. wenn »es einer gesellschaftlichen Gruppe gelingt, ein Feld von Machtbeziehungen zu blockieren, sie unbeweglich und starr zu machen« (Foucault 1985, 11). Eigentlich ist Foucault, wenngleich Teile seiner Theorien wie Gegenentwürfe zu Norbert Elias gelesen werden können, nicht so fern von dessen Machtbegriff von Machtbalancen in interdependenten Beziehungen: »Macht ist nicht ein Amulett, das der eine besitzt und der andere nicht; sie ist eine Struktureigentümlichkeit menschlicher Beziehungen« (Elias 1970, 76).

18 meist allerdings nicht in der kreisförmigen, sondern in der sternförmigen, halb-panoptischen Variante. In den USA werden allerdings durchaus Gefängnisbauten wieder nach dem traditionell panoptischen Modell gebaut, die Zellen der Gefangenen haben hier auf der Innenseite keine Wand, sondern nur ein Gitter (vgl. Farocki 2001, 315).

19 Ein weiteres Kennzeichen des entstehenden Kapitalismus ist die unmittelbare Nähe der Armen zum Reichtum, zu den Waren und Produktionsmitteln. Die Londoner Polizei entsteht aus dem Bedürfnis, die Docks, die Stapel- und Warenlager zu schützen (vgl. Foucault 2003, 99f.) und wird dann zu einer der wichtigsten staatlichen Disziplinarinstitutionen.

20 »Macht und Wissen sind also tief in den Produktionsverhältnissen verwurzelt und liegen nicht einfach darüber.« (Foucault 2003, 124)

21 Souveränität richtet sich auf ein Territorium, die Disziplin auf den individuellen Körper, Regierung hat als Adressat nun als »Hauptzielscheibe« die »gesamte Bevölkerung« - Foucault stellt deren Zusammenhang als ein Dreieck dar (vgl. Foucault 2000, 51; 63ff.).

22 »Der Diskurs der Disziplin hat weder mit jenem des Gesetzes noch mit der Regel als Wirkung des souveränen Willens zu tun. Die Disziplinen führen zwar einen Diskurs der Regeln, aber nicht den von der Souveränität abgeleiteten Rechtsregeln, sondern den der natürlichen Regeln, d.h. der Norm. Sie definieren einen Kodex, der nicht jener des Gesetzes, sondern jener der Normalisierung sein wird, und sie werden sich zwangsläufig auf den theoretischen Horizont nicht mehr des Rechtsgebäudes, sondern des humanwissenschaftlichen Feldes beziehen. Die Rechtsprechung der Disziplinen wird jene eines klinischen Wissens sein.« (Foucault 1999, 48)

23 In »Überwachen und Strafen« schienen Normalisierung und Disziplinierung noch identisch zu sein. Thomas Lemkes weist aber auf die Erweiterungen bzw. Verschiebungen von dem Begriff der Norm innerhalb eines Sicherheits-Dispositivs, welches Foucault im Rahmen seiner Vorlesung zur »Gouvernementalité«, der Kunst des Regierens skizziert (vgl. Foucault 2000, 64). So arbeiten die Disziplinartechniken mit einem operativen Begriff der Norm, die Normales von Anormalem scheidet, sie gehen also von einem Begriff der Norm aus. Im Gegensatz dazu geht die Sicherheitstechnologie vom (empirisch) Normalen aus: »Statt die Realität an einer vorher definierten Norm auszurichten, nimmt die Sicherheitstechnologie die Realität selbst als Norm: als statistische Verteilung von Häufigkeiten, als durchschnittliche Krankheits-, Geburten- und Todesrate etc.« (Lemke 1997, 190). In Bezug auf die Normstruktur der Gesellschaft rekurriert der deskriptive Ansatz auf Verhaltensregelmäßigkeiten (vgl. Heiland & Schulte 1993, 64).

24 Bereits im 19. Jahrhundert ist durch Maschinisierung die Handarbeit im Gefängnis dermaßen unrentabel geworden, so dass das Gefängnis ein Ort der Subventionierung geworden ist. Doch ohne Beschäftigung wurde der Straf-Zweck der Inhaftierung zum Problem: »Die Arbeit wurde als eine Bestrafung eingeführt und mit moralischen Argumenten gerechtfertigt« (Rusche & Kirchheimer 1981, 156).

25 Mit ein Grund warum in Gefängnissen und Disziplinierungsmaßnahmen (abgesehen von einigen Ausnahmen eher im Bereich des Jugendstrafrechts) Produktion meist auf einfachste Zusammenfüg-Arbeiten beschränkt bleibt und dass Zwangsarbeit mit minimalstem Entgelt entlohnt wird. Denn: »Lohnzahlung würde bedeuten, daß diese Arbeit mehr oder weniger auf eine Stufe gestellt wird mit der freien Arbeit« (Rusche & Kirchheimer 1981, 213).

26 Dass diese Normen in ihrer Semantik meist mit Erfahrung, kultureller Selbstverständlichkeit oder dem Common Sense begründet und unterfüttert werden, werde ich in Kapitel IV.1. aufgreifen.

27 »Der Justizapparat ist kein neutrales Ensemble, das von Klasseninteressen korrumpiert wird; vielmehr sind die Herrschaftsformen bereits in die Materialität des Apparats und seiner Funktionen eingeschrieben« (Lemke 1997, 86).

28 Zum einen durch die Etablierung der Eigentumsdelikte und darüber hinaus gut zu kontrollierender Formen der Delinquenz (Prostitution, Drogen- und Waffenhandel). Und zum anderen auch als ein Mittel zur Spaltung der unteren Klassen: die sozialistischen Parteien entschieden sich für die bürgerliche Arbeitsmoral und die protestantische Ethik, verteufelten alle Formen der Ausschweifung (Undiszipliniertheit) des »Lumpenproletariats« und begründeten damit eine stete Linie der Lustfeindlichkeit innerhalb der autoritären Linken.

29 Pönologie: Erforschung der Strafwirkung, Strafwissenschaft; punitiv: strafend, die Strafe betreffend

30 Einen weiteren Bezug der Aktualisierung des Foucault'schen Individualtheaters im Panoptikum sieht Maeder im »Aktenkäfig« in Form von Wissensaufbewahrung und Archivierung des über die Insassen gesammelten Materials (vgl. Maeder 1995, 214).

31 Die seit den 1980er Jahren eröffneten Boot camps gehören zur Abschreckungs-Ideologie der »shock probation« und »scared straigth«-Programme. Jüngere StraftäterInnen können statt einer längeren Gefängnisstrafe ihre Strafe in einem mehrmonatigen boot camp absolvieren. Boot camps sind eine Art paramilitärisches Lager mit permanenten Drill durch Anschreien, Fertigmachen durch verbale Erniedrigungen bei gleichzeitiger unbedingter Befehlsbefolgung (»Yes, Sir«/»No, Sir«) und sofortigen Bestrafungen. Exzessive Leibesübungen wie Liegestützen bis zur Erschöpfung oder härteste (meist sinnentleerte) körperliche Arbeit gehören neben Schulunterricht ebenfalls zum Tagesprogramm (vgl. Gescher 1998, 44ff.). Damit kehren auch Formen der körperlichen Marter wieder zurück ins postmoderne Strafen. In Großbritannien und den Niederlanden wurden bereits ähnliche Versuche gestartet (vgl. ebd., 274ff.).

» III