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elektronisch gefesselte?

X. POSTSKRIPTUM ÜBER RASENMÄHEN

»Die unscheinbaren Disziplinen, die alltäglichen Panoptismen mögen unterhalb der großen Apparate und politischen Kämpfe liegen: in der Genealogie der modernen Gesellschaften bildeten sie zusammen mit der sie durchkreuzenden Klassenherrschaft das Gegenstück zu den Rechtsnormen der Machtverteilung. Zweifellos liegt hier der Grund dafür, daß man den kleinen Disziplinarprozeduren seit so langer Zeit eine solche Bedeutung zumißt: ihren kleinlichen listenreichen Erfindungen wie auch den Wissenschaften, die ihnen ein ehrenvolles Ansehen verschaffen; hier liegt auch der Grund dafür, daß man sich scheut, sie ersatzlos abzuschaffen; und daß man behauptet, sie bildeten die Grundlage für die Gesellschaft und ihr Gleichgewicht, wo ihre Mechanismen doch die Machtbeziehungen für immer und überall ins Ungleichgewicht bringen; und daß man sich hartnäckig darauf versteift, sie für die bescheidene aber konkrete Form jeder Moral auszugeben, wo sie doch ein Bündel von physisch-politischen Techniken sind« (Foucault 1977, 294).

Ein zigarettenschachtelgroßer Kasten, am Bein befestigt. Werden in Foucaults Anatomie die Disziplinen durch kleinliche Prozeduren in die Körper eingeschrieben und mit Hilfe des zwingenden Blicks überwacht, wird die Einhaltung derselben regelmäßigen Wiederholungen - hier das Trainieren von An- und Abwesenheiten - nun durch ein technisches System kontrolliert, das nichts sieht, sondern Signale empfängt. Stimmen die empfangenen mit den eingegebenen Daten nicht überein, ergeht eine Meldung an die Überwachenden. Betritt man die Räume der Projektstelle, hängt an der Wand ein Foto, das einen anonymen Unterschenkel mit Fußfessel abbildet. Dieses Artefakt, zudem an der äußeren Grenze des Körpers getragen, ist weitaus spektakulärer, mit zahlreichen kulturellen Vorstellungen und Gleichnissen aufgeladen, als die Prozesse von Informatisierung, die das Produkt erst möglich machen. Diese werden kaum erwähnt, obwohl sie sich in der Sprache der PraktikerInnen niederschlagen: Abweichungen und Normverstöße werden zu Fehlermeldungen. Die Virtualität dieser Meldungen muss dann klassifiziert oder interpretiert werden: Ist die Abweichung eine begründete oder mindere Verletzung des Vertrages oder ist sie ein wirklicher Verstoß gegen die Simulation des bürgerlichen Normalzustandes? Orwells Big Brother als totaler Zugriff durch Sichtbarkeit scheint die falsche Analyse zu sein. Doch nimmt man Orwell weg, zerstreut sich all das Spektakuläre. Viel weniger in den Fokus geraten die kleinlichen Disziplinen, Zeitregime und Wochenpläne, wie man sie aus anderen Institutionen im Namen der Humanität kennt. Langeweile breitet sich aus: wieder angelangt im öden Feld der Disziplinierungen und der Strafen, gespeist von Einflussnahme auf die »Lebensweise« und der »Einhaltung sozialer Gewohnheiten« (Mayer 2004, 18ff.). Rasenmähen im Sommer, Rasenmähen im Winter: das Training des bürgerlichen Normalzustandes.

Die intermediaten Straftechniken, gekoppelt an Versprechen von Effektivität und Effizienz, verweisen auf heterogene Regierungstechniken. Elektronische Überwachung ermöglicht eine neue Art der Intervention einer Macht »in actu«, die im Gegensatz zur Einsperrung in totalen Institutionen über elastische Module operiert: ein Regieren aus der Distanz. Nicht mehr eine mit Nato-Draht umgebene Mauer setzt Grenzen, sondern ein Kontrakt-Regime aus strikten Zeit/Raum-Einheiten generiert das Oxymoron: anti-nomadische Mobilität. Diese Regierungstechniken (Gouvernementalität) zwischen Fremd- und Selbstdisziplinierungen generieren eine ambivalente Überwachung: Findet die Kontrolle im Alltag statt oder findet sie erst durch den Alltag statt? Wird ein Ausnahmezustand zum Normalzustand (etabliert) oder macht dein Alltag jetzt einen Aufstand? Dieses flexible Regime mag viel widersprüchlicher erfahrbar sein, als die klare Grenze einer totalen Institution und wirkt umso individualisierender: als Privatisierung von Kontrolle.

Trotzdem wird die Option Fußfessel für viele der Überwachten im Gegensatz zur Einsperrung im Gefängnis das kleinere Übel gewesen sein: ein Versprechen von etwas mehr Freiheit. Genau diese Karte der Humanität spielt der ehemalige Hamburger Justizsenator Wolfgang Hoffmann-Riem aus, wenn er den KritikerInnen an Electronic Monitoring vorwirft, dass der Strafvollzug im Gefängnis schließlich weitaus unmenschlicher sei (vgl. Hoffmann-Riem 2000, 114). In dieser Arbeit ging es mir weder darum, zu zeigen, ob das Gefängnis oder Electronic Monitoring die humanere Strafform ist, sondern um das, was in der Maßnahme passiert und wie es diskursiv von PraktikerInnen verhandelt wird. Die Frage bleibt, warum gerade den KritikerInnen immer die unmenschliche Realität des Gefängnisses entgegen gehalten wird, als ob sie - die diese Gefängnisse schließlich nicht erbaut haben - für die Zustände in ihnen verantwortlich wären. Anstatt sich umgekehrt die Frage zu stellen, was Leute eigentlich antreibt (außer dem nicht zu verachtenden Profitinteresse), sich immer verfeinerte und perfektere Straftechniken auszudenken. Es geht nicht darum zu manifestieren, elektronische Überwachung sei besser als das Gefängnis; es geht nicht darum das eine gegen das andere auszutauschen, zumal die Elektronische Fußfessel realiter nur eine neue Klassifikation des Zwischenraumes von Bewährung und Inhaftierung etabliert.

Ich habe in dieser Arbeit ein scheinbar neuartiges Feld im klassisch anthropologischen Sinne darauf befragt, was hier passiert. Was ist elektronische Überwachung? Was passiert innerhalb und durch dieses Gefüge, diese Assemblage? Was ist am Werden? Dabei bin ich der Praxis einer neuen Überwachungstechnik gefolgt und nicht in erster Linie den Pro- und Contra-Diskussionen. Es sollte sichtbar werden, was dort entsteht und wie dort argumentiert wird. Eine alleinige Auseinandersetzung mit den Programmen ohne eine Berücksichtigung der Akteure und ihrer Praxis kann ansonsten dazu führen, die Repräsentationen als einzige Wahrheit wahrzunehmen und zu affirmieren. Hier ermöglicht es die anthropologische Beschäftigung mit dem Common Sense, Normen und kulturelle Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Normalitäten werden erfunden und produziert, Vorstellungen manifestieren sich in erstaunlich fest gefügten Realitäten. Das Gefängnis und Formen des Strafens und Disziplinierens sind keine Naturkonstanten. Anthropologie als Kritik kann zur De-Stabilisierung solcher Systeme beitragen: zu einer daraus führenden theoretischen Konzeption, wie die disjunktiven moralischen Landschaften und Dispositive unserer Gegenwart beschaffen sind und wer ihre KonstrukteurInnen sind:

»Wir haben freilich kein Recht, die Gegenwart zu verachten, wie pathetisch sie auch immer sein mag. Als moderne Denker sind wir deshalb aber noch lange nicht gezwungen, sie zu billigen. Wir sind höchstens dazu verpflichtet, in ihr zu leben - mit und gegen ihre Normen und Normativitäten zu kämpfen. Nicht jedes Pathos muss schließlich ein Fehlschluss sein« (Rabinow 2004, 97).
Nachdem ich in der Empirie in theologischen Gefäßen von protestantischer Ethik und Fegefeuer gelandet bin, die als Bilder für das Fortbestehen von sehr alten kulturellen Formen und moralischem Pathos dienen sollten, möchte ich zum Schluss aus diesem Bereich noch einen Sympathieträger vorstellen: den Heiligen St. Leonhard, der Beschützer aller »Gefangenen, Kettenträger und vom Irrsinn befallenen Menschen« (Holzapfel 1968, 38). Nach der Befreiung wurden ihm Kettenfesseln und Ringe geopfert. Vielleicht könnte man diesen schönen Brauch wieder aufleben lassen und die Fußgefesselten dort ihre Artefakte ablegen lassen. Um damit einen Anfang zu machen, sich von den Ritualen des Strafens und Disziplinierens zu befreien. Die kleine Wallfahrtskirche steht in Aigen am Inn...

Doch der Tagtraum verblasst zu einem frommen Wunsch: Weiter geht's entlang öder Pfade wie dem von der niederländischen Bewährungshilfe empfohlenen »Boulevard of the straight and narrow«. Rasenmähen und Fehlermeldungen. Technische Systeme können sich durch Fehler immerhin weiterentwickeln. Enge Versionen von Normalzuständen verweigern sich dem Prozesshaften: sie sind Repräsentationen des Mangels.

 

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