Ressentiment und Rancune:
ANTISEMITISCHE STEREOTYPE IN DER ENTSCHÄDIGUNGSDEBATTE:
1. ‘Sie’ vs. ‘Wir’ - Bildbeschreibungen
„Durch die Entschädigungsdebatte droht ein neuer Antisemitismus“, verkündete der Haushistoriker der Deutschen Bank. Fragt sich, wer da mit Antisemitismus droht. In der deutschen Entschädigungsdebatte wimmelt es von antisemitischen Stereotypen, die z. T. unbewußt reproduziert, z.T. bewußt angespielt werden. Die Hysterie der deutschen Wirtschaftsführer hinter den Kulissen scheint keine Grenzen zu kennen: „‘die 55 Jahre verspätete Umsetzung des Morgenthau-Plans, Deutschland in ein Agrarland zurückzuverwandeln, stünde unmittelbar bevor ...’“, sagt ein hoher Würdenträger der Dresdner Bank. Diese Beschreibungen entstammen der durchaus als seriös angesehenen Wirtschaftszeitschrift Manager-Magazin (7/99), welche sich auf hinter-der-vorgehaltenen-Hand gemachte Äußerungen deutscher Top-Manager beruft: „’Mafia’, ‘Erpressung’, ‘Gangster’ rufen, schimpfen, flüstern deutsche Wirtschaftsführer.“ In der Öffentlichkeit hört man solche offenen Worte bisher nur aus Österreich. So von dem FPÖ-Bundesrat John Gudenus: „Die Entschädigungen müssen deshalb sein, um die Handelsbeziehungen - insbesondere mit den USA - nicht zu stören. Nichts anderes steckt dahinter. Diese Entschädigungen sind nichts anderes als Schutzgeld, das wir zahlen müssen. Wir sind in einer Situation, wo man Großmächten gegenüber klein beigeben muss. Aber die Österreicher heute haben mit den Geschehnissen damals nichts zu tun.“ [1] Diese Sicht der Dinge teilt der Haidermann mit vielen Deutschen, insbesondere aus den oberen Wirtschaftsetagen.
„Amerikanische Anwälte, die ihre Geschäftstüchtigkeit gut hinter der Fassade von Schuld und Sühne zu verstecken wissen, setzen deutsche Unternehmen mit überzogenen Forderungen unter Druck. Jüdische Organisationen streiten vor allem für die Opfer des Holocaust. Opferverbände und Regierungen im Osten Europas fordern Gerechtigkeit und meinen Mark.“ [2] In der Entschädigungsdebatte haben sich etliche Ressentiments gebündelt und die Figur des ‘gierigen, geldgeilen Anwalts’ konstruiert, der sein eigen Profit mit den Leiden anderer - gemeint sind die der Zwangsarbeiter und die der deutschen Industrie - zu erschachern sucht. Zunächst eine kurze Bildbeschreibung, wie in der deutschen Presse durch die Benutzung von Metaphern und das Anspielen auf Klischees und Stereotype sowohl die Deutschland bedrohenden und die Opfer instrumentalisierenden ‘jüdisch-amerikanischen Anwälte’ auf der einen Seite (‘Sie’) und ‚Wir‘ auf der anderen Seite beschrieben werden. ‘Wir’ werden verkörpert durch die zwar meist hilflosen, aber ihrer moralischen Verantwortung bewußten Vertreter der deutschen Wirtschaft und Nation. Angeführt sind immer nur die treffendsten Belege der einzelnen Bildelemente im Text, eine genaue Aufstellung weiterer Vergleichsstellen aus der deutschsprachigen Presse ist den Anmerkungen zu entnehmen, die vollständig in der längeren Netzversion dieses Textes einsehbar sind (www.?).
Die Beschreibung der Anwälte bedient sich häufig bekannter antisemitischer Stereotype oder Anspielungen auf diese, wie z.B. der automatischen Verbindung von ‘geldgierig’ und ‘jüdisch’ im antisemitischen Denken. Schnell entsteht das Bild, die Anwälte würden die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen instrumentalisieren, ohne an deren Entschädigung wirklich zu denken, sondern die von deutscher Seite zu zahlenden Entschädigungen nur deshalb so hoch ansetzen, damit ihr Honorar höher wird. „Besonders forsch gehen amerikanische Anwälte zu Werke. Nach US-Recht können Rechtsanwälte 20 Prozent oder mehr der Streitsumme kassieren. Zehn Milliarden Mark will die deutsche Zwangsarbeiterstiftung ‚Erinnerung, Verantwortung und Zukunft‘ ausschütten. Noch wird über die Summe gestritten, die den Anwälten zufließen soll, 50 Millionen bis 600 Millionen sind in der Debatte. Und noch ist nicht geklärt, ob die Anwälte zusätzliche Honorare von ihren Mandanten kassieren dürfen.“ [3] In fast jeder deutschen Zeitung werden sich gegenseitig überbietende Angaben über ihre ‘Holocaust-Honorare’ gemacht - und schwups! gelingt die deutsche Lieblingsverkehrung: aus Tätern werden Opfer, die ‘Opfer der Opfer’ - und aus Opfern...
Bei der Honorarfrage wurden in Ausnahmefällen bereits in der Presse die impliziten Antisemitismen erkannt, aber auch dabei wurden wieder Stereotype verwendet: „welch ein würdeloses Geschacher. Gewiss, ein Geschacher, aber ein vertrautes. ... Elend vertraut klingt auch das Argument, in Wahrheit wollten aufs Honorar erpichte Anwälte Deutschland ausquetschen; es wird seit den fünfziger Jahren gerne von jenen benutzt, denen die ganze Richtung nicht passt. Ist der Anwalt auch noch Jude, betritt Shylock die Bühne, die Figur des jüdischen Wucherers aus dem Kaufmann von Venedig, den Shakespeare sagen läßt: ‚Dreitausend Dukaten - gut!‘“ [4] Die Unverhältnismäßigkeit der Entschädigungsforderungen wird betont. „Denn die von deutscher Seite lange vorgeschlagenen acht Milliarden Mark waren so zufällig gegriffen wie die elf, fünfzehn oder mehr Milliarden, die von den Anwälten der Opfer gefordert wurden.“ [5] Die SZ berichtet dazu, dass „unter einigen US-Anwälten regelrecht Goldgräberstimmung geherrscht habe. Es soll sogar Anwälte gegeben haben, die ihre deutschen Kollegen aufsuchten, um ihnen Mandanten abzukaufen. Dabei sollen 10 000 Mark pro Mandant geboten worden sein. Vermutlich haben diese juristischen Trittbrettfahrer auf die hohen Provisionen spekuliert, die in manchen amerikanischen Prozessen abfallen - manchmal 30 bis 40 Prozent der Entschädigungssumme.“ [6]
Ein weiteres Element, das mit dem Chiffre der ‘jüdisch-amerikanischen Anwälte’ angespielt wird, ist die paranoide Vorstellung, daß sich in den Händen der Juden eine exorbitante Machtfülle vereine, die fähig sei, Deutschland den Garaus zu machen. Die jüdischen Anwälte werden als Repräsentanten der jüdischen Gemeinden Amerikas dargestellt, als besäßen sie eine völlige politische Homogenität und könnten im Verborgenen die ihnen genehme Partei inthronisieren. Dann versuchen ‚Sie‘ nicht nur die amerikanischen Demokraten zu beherrschen, sondern in gewisser Weise auch Weltpolizei zu spielen: „‚Ein Verschieben in das nächste Jahr‘ werde sicherlich ‚zu höheren Forderungen durch die Opfer-Anwälte führen‘. Ein ‚Spielen auf Zeit kostet viel Geld‘. Im Jahr 2000 fänden in den USA Präsidentschaftswahlen statt. Die Klägeranwälte seien ‚wichtige Wahlkampfhelfer‘ der Demokratischen Partei. ‚Politische Unterstützung im Wahljahr‘ für die deutsche Seite sei nicht zu erwarten. ‚Es wird niemand für uns einstehen.‘ Bei einem Scheitern der Verhandlungen sei mit einer ‚verschärften Anzeigenkampagne‘ zu rechnen, schreibt Chrobog [Deutscher Botschafter in Washington]. ... Im Gegenteil: Im Wahlkampf werde man sich etwa in New York, Florida oder Kalifornien ‚durch Kritik an deutschen Firmen profilieren‘ können. Selbst Boykott-Aufrufe gegen deutsche Produkte ‚werden durch die US-Regierung nicht mehr unter Kontrolle zu bringen sein‘. Die ‚gesamte deutsche Wirtschaft‘ könne an den Pranger gestellt werden.“ [7] Die Unterschiede zwischen dem ‘absurden amerikanischen’ und dem ‘anständigen deutschen’ Rechtssystem nutzen ‘Sie’ schamlos aus, so daß die Deutschen einfach ins Hintertreffen geraten müssen. „Inzwischen kollidieren auch zwei unterschiedliche Rechtskulturen, die amerikanische und die deutsche. Seit jeher sind amerikanische Anwälte agressiver und innovativer als ihre deutschen Kollegen, ihr Rechtssystem läßt ihnen vielmehr Spielraum.“ [8] Im Zusammenhang mit der ‚berechtigten Furcht‘ vor dem drohenden amerikanischen Rechtssystem taucht natürlich auch immer wieder die deutsche Forderung nach ‘Rechtssicherheit’ auf, die Frage: „Wie kann den deutschen Managern die Sorge genommen werden, dass sie nach einer Einigung, die teuer genug wird, nicht doch noch wegen der alten Geschichten verklagt werden. ‚Ohne Rechtssicherheit wird nicht gezahlt werden.‘ Der Satz stammt von Gentz, und er wird wahrscheinlich wünschen, ihn nie gesagt zu haben.“ [9] Verständnis für die deutschen Wirtschaftswünsche hat auch hier die schützende rot-grüne Regierung. „‚Eine hinreichende Rechtssicherheit‘ sei ein berechtigtes Interesse, sagte SPD-Politiker Wiefelspütz der FR. Er könne nur hoffen, dass ‚sich alle Beteiligten ihrer Verantwortung bewußt sind‘. Für die neuerlichen Verzögerungen sei ‚Washington verantwortlich‘.“ [10]
Es gehört inzwischen zum guten Ton der deutschen Presselandschaft, daß man mindestens einmal einem einzelnen jüdischen Anwalt eine Charakterstudie widmet, besonders gern geschah dies in Beschreibungen von Witti, Weiss, Hausfeld oder Fagan. Besonders beliebt zur Illustration war ein Foto, welches Fagan und Witti beim verschwörerischen Tuscheln zeigt, wie sie die Köpfe zusammenstecken, um neues Unheil zu planen. [11] Nimmt man diese verschiedenen Porträtzeichnungen der „Anwälte mit zweifelhaftem Verdienst“ [12] zusammen, verdichtet sich ein Paranoia-Szenario, an dem man studieren kann, wie ein ganzes Netzwerk der Bedrohung konstruiert wird, deren Zentrale in den USA sitzt, vornehmlich in New York. Es ergibt sich folgendes Bild, das für den Anwalt, - metonymisch für die ‘jüdisch-amerikanischen Anwälte’, metonymisch für ‘die Juden’, - steht:
„Hinter dem jüdischen Anwalt aus New York liegen ein paar nette Tage und vor ihm vermutlich auch. ... Sie sind in erster Linie Profiteure ... auf einen fahrenden Zug aufgesprungen ... Moralische Gesten werden ihnen kaum abgenommen ... machen mit dem Leid anderer ihr gutes Geschäft ... Souveränität mussten sie im schier endlosen Poker um Entschädigung erst lernen ... sind ungemein harte Verhandlungspartner ... betont sachlich, fast spröde ... wittern ein falsches Spiel ... hartnäckig im Umgang mit Unternehmen und Banken ... einfühlsam bei den oft emotional aufgewühlten Mandanten ... haben ein aggressives Auftreten ... üben sich in Berufspessimismus ... geben sich empört ... sind laut ... drohen ... kündigen einen Verhandlungsboykott an ... lancieren Boykottdrohungen gegen deutsche Produkte ... sind zähe Burschen ... Freunde schlanken Satzbaus und schneller Antworten ... jederzeit bereit, ein Hörnchen mit bloßen Händen zu zerquetschen ... retten die Welt ... verdienen an jedem Vergleich kräftig mit ... irrlichtern durch die Weltgeschichte ... grasen Sammelklagen ab ... sind Naziopferentschädigungssubunternehmer... verstehen sich auf Publicity ... sitzen hinter verspiegelten Fenstern ... zwischen Designermöbeln in hohen, weißen Räumen ... tragen goldumrandete Brillen ... beherrschen ihr Geschäft ... spitzen zu ... übertreiben ... interpretieren ihre Rolle mit theatralischem Aufwand ... gehen mit Holocaust-Überlebenden vor der Deutschen Bank in Stellung ... singen, Kippa auf dem Kopf, am Holocaust-Gedenktag ... treten gerne vor die Kameras ... nehmen das Rampenlicht in Anspruch ... sind Rechts-Rambos ... erinnern an den Morgenthau-Plan ... wollen ‘Uns’ in die Agrarwirtschaft klagen ... Wirtschaftsführer trauen sich über sie nur inkognito zu sprechen ... Unternehmen kennen und fürchten sie ... die Oma in Tel Aviv sagt, sie machen das schon ... laufen Gefahr, von ihren Mandanten verklagt zu werden ... die Kundschaft rühmt ihren Kampfgeist ... das Bundesfinanzministerium bringt sie in Rage ... sie sind stolz ... werden hektischer ... wenn sie von Moral und Würde reden, erscheint keine Summe groß genug ... sind im Rausch ... können nicht aufhören, die Honorare nicht vergessen ... Aber sind sie deshalb geldgierig? ... wollen gefürchtet werden ... treiben sich auf Intensivstationen herum ... schaffen Moral und Millionen in einem Aufwasch ... haben Sinn für bizarre Aktionen ... haben große Versprechungen im Gepäck ... ihre Ironie geht auf Zehenspitzen ... können und wollen es nicht lassen ... nur wenige von ihnen sind seriös ... sie sind Überzeugungstäter oder Karrieristen ... sie sind auf dem Weg nach Tel Aviv ... sie schweigen und lächeln ...“ [13]
Es ist bezeichnend, daß in fast allen dieser poträtierenden Artikel eine scheinbare Konfusion über die Attribute herrscht, die die Anwälte ausmachen sollen. In ein und demselben Artikel ist so z.B. Ed Fagan stets betont sachlich, ruhig und abgeklärt, gleichzeitig jedoch appelliert er ständig an die Emotionen und polemisiert gegen die deutschen Unternehmen. In einem anderen Artikel soll Michael Witti alles nüchtern kalkulieren und bis ins letzte Detail durchdenken, dann aber „wittert“ er und gerät in Rage. Wenn das hier Erwähnung findet, soll es nicht als Strategie einer sachlichen Widerlegung solcher Stereotypen aufgrund logischer Inkonsistenzen dienen. Vielmehr lässt sich anhand solcher Begriffsverwirrungen auf eine affektive Mobilisierung des gesamten Ressentimentfundus schliessen. Es geht darum, das als verabscheuungswürdig empfundene Objekt mit allen möglichen Mitteln als ein solches zu verunglimpfen und zu denunzieren. Dabei geht es nicht um den Versuch eines pseudowissenschaftlichen Nachweises, warum die jüdischen Opfer-Anwälte nun angeblich übel seien, sondern es geht um das Hervorrufen von Assoziationsketten. Solche Artikel und deren Autoren spielen mit einer gewissen Art der Unschuldigkeit und Spontanität. Sie sind mindestens doppeldeutig: sie bleiben an der Oberfläche einer Kurzcharakterisierung, verzichten aber deshalb doch nicht darauf, sich für tief auszugeben; sie wollen überzeugen und verständlich machen, geben sich aber gleichzeitig als spontan, undurchdacht. Sie deklarieren sich als absichtlich und ununterdrückbar, hervorgebracht und natürlich, gefunden. Extrem formuliert: sie legen nicht ihr Instrumentarium offen, erklären weder ihr Symbolsystem, noch weisen sie ihre Informationen oder Bezüge nach. Vielmehr liefern sie einen inneren, geheimen Aspekt mit, Signale bestimmter Moralitäten, bestimmter Assoziationen. Eine undialektische Scheidung von primären und sekundärem, klaren und verborgenem Antisemitismus gerät hier zuschanden. Diese Artikel brauchen ihre antisemitische Intention nicht eindeutig offen zu legen, sie müssen nicht die ‘jüdische antideutsche Verschwörung’ herauflügen und tun es trotzdem.
Doch das so aufgerufene Bild einer Bedrohung durch die ‘jüdisch-amerikanischen Anwälte’ richtet sich nicht nur gegen die deutsche Wirtschaft. Sondern auch gegen die osteuropäischen, insbesondere die nicht-jüdischen Opfervertreter müssen die Anwälte mit entsprechender Methode ihre Position durchsetzen. “In der Tat ließen Eizenstat und Lambsdorff die unterschiedlichen Interessen ungefiltert aufeinander prallen. Diese in ihren Details durchaus unschöne Prozedur war als gruppendynamischer Zwischenschritt gerechtfertigt, weil einige der amerikanisch-jüdischen Verhandlungsführer die Vertreter der einstigen osteuropäischen Zwangsarbeiter schon fast ausmanövriert hatten. In Berlin gelang den Sprechern der osteuropäischen Zwangsarbeiter zum ersten Mal die deutliche Formulierung ihrer berechtigten Ansprüche. Darin liegt ein bedeutender Fortschritt.“ [14] Von deutscher Seite wird wiederholt beschrieben, wie die Juden versuchten, die anderen, nicht nur die Deutschen, zu übervorteilen. „Weiter ist die Aufteilung des Zehn-Milliarden-Betrages zwischen den (relativ wenigen) vielfach jüdischen KZ-Zwangsarbeitern und den (relativ vielen) ‚zivilen‘ oder Kriegsgefangenen, meist slawischen Zwangsarbeitern strittig. Einige Wortführer der erstgenannten Gruppe verlangten unlängst vier Fünftel, also acht Milliarden Mark, für ihre Klientel. Otto Graf Lambsdorff wird dieses maßlose Ansinnen zurückweisen.“ [15] Der deutschen Wirtschaft erwuchs folgende Frage: „‚Ich frage mich, wen die Klägeranwälte vertreten, denn die beteiligten Interessengruppen saßen alle am Tisch‘, sagte Gentz.“ [16]
Neben den ‘jüdisch-amerikanischen Anwälten’ tritt in der deutschen Presse immer wieder die Jewish Claims Conference mit ihren Versuchen in Erscheinung, möglichst viel für sich an Land zu ziehen, denn „eine Milliarde solle die Jewish Claims Conference für Vermögensschäden erhalten.“ [17] Bedauerlich ist natürlich bei diesem Vorgehen der Anwälte und der Opfervertreter, daß sie damit den Antisemitismus schüren, - an dem ja meistens die Juden schuld sind, die es wagen den Mund aufzumachen. „Ein einziges Mal verliert Melvyn Weiss die Fassung. ‚Erzeugt es Antisemitismus, wenn Opfer für ihre Rechte kämpfen? Sei´s drum, dann sehe ich ihn lieber offen als versteckt.‘ Weiss ist Anwalt. Jüdischer Anwalt jüdischer Opfer. Und schon ist man mitten im Problem.“ [18] In Österreich, das Deutschland in der Erfahrung der internationalen Isolation schon voraus ist, wurde Jörg Haider nach israelischen Protesten gegen ihn und seine Partei noch deutlicher: „Jetzt beginnen die Menschen zu verstehen, warum manche Menschen Antisemiten sind.“ [19] Im boykottbedrohten Deutschland beginnt man auch, es zu verstehen, bzw. sich zu erinnern...
Was ‚Uns‘ betrifft, so leiden ‚Wir‘ recht stark unter der Beschäftigung mit diesem Thema, es fügt uns walserische Schmerzen zu, und doch spüren wir unsere moralische Verantwortung, der wir schon viel schneller nachgekommen wären, wenn dem die Anwälte nicht im Wege ständen. Bei unserem Handeln trägt uns die Einsicht, daß es während der Nazizeit sehr viel Leid gab, das sich gar nicht wiedergutmachen läßt: „Lambsdorff: Es erfüllt mich mit Grausen und Elend, dass immer mehr nur noch über Geld geredet wird und offensichtlich die Interessen der Opfer in den Hintergrund geraten, und immer mehr vergessen wird, dass die meisten dieser Opfer weit über 70 Jahre alt sind. Es geht doch darum, dass wir uns um diese Menschen bemühen. Da muss man zu einem Ergebnis kommen können und darf nicht mit überspannten und überzogenen Erwartungen ein solches Ergebnis unmöglich machen.“ [20] Denn die „Vorstellung ist bedrückend: Etliche tausend Mark für Jahre der Zwangsarbeit. Aber hat es je gerechten Ausgleich für Unrecht geben können, für Häftlinge, Gefangene, Verschleppte, Heimatvertriebene, Bombengeschädigte? Wiedergutmachung für Nazi-Verbrechen kann es ohnehin nicht geben.“ [21]
Zentrales Beschreibungsmoment ist natürlich die Bedrohung Deutschlands durch die Anwälte und jüdische Organisationen. „SZ: Muss die deutsche Industrie nicht Boykottmaßnahmen in den USA fürchten, wenn die Verhandlungen scheitern? Lambsdorff: Das habe ich doch von vornherein gesagt. Das wird sehr unangenehme Folgen haben. Allerdings haben mir auch Vertreter jüdischer Organisationen - so, dass man sie nicht zitieren darf - gesagt, das wird sehr hässlich, aber das geht in absehbarer Zeit auch vorbei.“ [22] Dabei droht man ganz gerne selber: „Weiterer Druck von Seiten der Opferanwälte würde einen Rückzug der Wirtschaft zur Folge haben.“ [23] Oder ‘Wir’ erwähnen, wieviel wir bereits für Wiedergutmachung und Sühne geleistet haben. „Die Bundesrepublik hat bereits, unter anderem über das Bundesentschädigungsgesetz, mehr als 100 Milliarden Mark als Wiedergutmachung und Entschädigung für die Verbrechen des Nazi-Regimes gezahlt. Der größere Teil der Gelder floss an jüdische Opfer und an Israel.“ [24] Drohend über Deutschland hängt auch die von den USA wieder aufgemachte Debatte über mögliche noch ausstehende Reparationsforderungen. „Auch die Politiker stochern im Nebel - gerade wegen der ungeklärten Reparationsfrage. Denn sollte es sich bei der Zwangsarbeiterentschädigung tatsächlich um eine Reparationsleistung für Nazi-Unrecht handeln, könnte die Angelegenheit vollends unübersehbare Folgen haben.“ [25]
Zu dem Gefühl der moralischen Verantwortung gesellt sich bei ‚Uns‘ der Appell an den nationalen Zusammenhalt, verbunden mit der Forderung an die deutsche Wirtschaft, an den guten Namen der Republik im Ausland zu denken und diesen hochzuhalten: „Aber es geht nicht allein um die moralische Verpflichtung. Viele Manager haben offensichtlich nicht kapiert, dass die Entschädigungsaktion in ihrem ureigenen Interesse liegt. Scheitert sie, wird die Welt mit dem Finger auf Deutschland zeigen, es wird Boykottaufrufe hageln, und die Klagen gegen deutsche Unternehmen vor amerikanischen Gerichten werden sich häufen. Dieser Schaden käme letztlich teurer als der Beitrag zum Fonds.“ [26] Aber dieser Schaden wäre auch ein Schaden des Ansehens:
„SZ: Im Falle eines Scheiterns würde man nicht den Anwälten die Schuld geben, sondern den Deutschen insgesamt, nicht nur der Industrie, sondern auch der Regierung und den Menschen hierzulande. Fürchten Sie nicht Schaden für unser Ansehen?“ [27]
Analog zur Charakterisierung einzelner ‘jüdisch-amerikanischer Anwälte’ bündelt sich auf ‚Unserer‘ Seite die Vertretung der deutschen Interessen in dem Beauftragten der Bundesregierung, Otto Graf Lambsdorff. [28] Ihm fällt als Vertreter der Deutschen die Aufgabe zu, definieren und diktieren zu dürfen, wer als Opfer gelten darf: „Es kommt immer drauf an, wen sie als Opfer bezeichnen wollen...“ [29] Lambsdorff steht metonymisch für das Eigenbild der deutschen Nation, die sich, zurückgeworfen auf ihre Tugenden, etwas hilflos den „New Yorker Haifischen im Anwaltsgewand“ (Rudolf Augstein) gegenübersieht, aber doch gewillt ist, diese Auseinandersetzung aufrecht zu bestehen:
„Bei ‘Ihnen’ gibt es einen Aufschrei der Empörung, egal, was er tut ... er behält die Nerven ... folgt der preußischen Tugendlehre ... macht Niederlagen durch Disziplin und Eifer wett ... hat Autorität ... rhetorisches Talent ... beste Sachkenntnis ... zeigt keine Schwäche ... verachtet die, die Schwäche zeigen ... Brüche tun ihm nicht weh ... in seiner Welt hat der Stärkere Recht ... finanziell und gefühlsmäßig unabhängig ... sein Persönlichkeitsbild ist nicht mehr ganz zeitgemäß ... sein Vorbild ist Bismarck ... ist seiner Umwelt ein Rätsel ... verkörpert gerne Protestantismus und preußische Tradition ... Leute von seinem Schlag sind heute selten ... er ist der Zwangsarbeiter, der für Deutschland verhandelt ... er ist der Graf ...“ [30]
Der letzte Punkt, der Deutschland in seinem Selbstbild nach der Rückkehr zu Bismarck dann noch zu verhandeln bleibt, ist der vielbeschworene ‚Schlussstrich‘: „Nach mehr als fünfzig Jahren darf über das, was denunziatorisch als ‚Schlussstrich‘ bezeichnet werden kann, nachgedacht werden. Das liegt im wohlverstandenen und legitimen Interesse der jüngeren Generation. Auch das zu wahren, gehört zu den Pflichten der Bundesregierung.“ [31]
3. Prolog auf dem „Podium der Nation“
Die aufgepeitschteste Debatte über die Entschädigungszahlungen für NS-ZwangsarbeiterInnen wurde von einer „Friedenspreisrede“ ausgelöst, die ein deutscher Schriftsteller anläßlich der Frankfurter Buchmesse im Oktober 1998 hielt. Martin Walser sprach unter dem Applaus der versammelten politischen und kulturellen Eliten der BRD von Auschwitz als „Moralkeule“, von „Meinungssoldaten“, die ihn zum hinschauen zwingen wollten, wo er nur „wegschauen und wegdenken“ wollte, er wetterte gegen das geplante Mahnmal für die ermordeten Juden Europas und sprach sich „gegen die Instrumentalisierung der Vergangenheit zu gegenwärtigen Zwecken“ aus. Dabei vermied er es tunlichst, Ross und Reiter zu nennen. Von den NS-Zwangs- und Sklavenarbeitern sprach er ausdrücklich nicht. Nachdem Ignatz Bubis ihn als „geistigen Brandstifter“
bezeichnete brach im deutschen Blätterwald ein wahrer Flächenbrand aus. Dabei war viel vom kollektiven Gedächtnis, den Riten des Gedenkens und der nationalen Identität die Rede, über die Entschädigungsforderungen gegen die deutsche Wirtschaft und den deutschen Staat wurde so gut wie nicht gesprochen. Doch Ignatz Bubis hatte Martin Walser genau in diesem Sinne verstanden. Deutlich wurde das erst am 14.12.1998, als es nach mehreren aufgeheizten Wochen der FAZ gelang, die beiden zu einem Gespräch zusammenzubringen. Gleich zu Beginn des Gesprächs stellte Bubis sein Verständnis der Walser-Rede dar: „Sie sprachen von der Instrumentalisierung von Auschwitz. Wir führen in den letzten Monaten eine Debatte um Entschädigungsfragen. Ich habe die ‘gegenwärtige Zwecke’ in diesem Sinn verstanden. Instrumentalisierung von Auschwitz für ‘gegenwärtige Zwecke’, das heisst, im Hinblick darauf, was im Augenblick mit Entschädigungsfragen, Zwangsarbeitern, Arisierung läuft; das haben Sie gemeint.“ [32] Walser: „Aber lassen Sie mich etwas zu dem äußern, was Sie immer wieder gesagt haben: zur ‘Instrumentalisierung’ und zu dem Vorwurf, ich nennte nicht Ross und Reiter. Dann haben Sie mir auch noch vorgerechnet, ich meine die Ansprüche von Zwangsarbeitern aus Osteuropa. Also: Nun stellen Sie sich vor, in einer Rede in der Paulskirche, die ausschließlich an ein deutsches Publikum und nicht an den Staat gerichtet ist, die sich hauptsächlich in ihrem Kritikbestand an die Medien wendet, da werde ich über die Ansprüche von Zwangsarbeitern oder überhaupt für irgendein ausländisches Problem sprechen - das liegt mir so fern. ... “ Ein „ausländisches Problem“ und eine Rede, die sich nur an die deutsche Gesellschaft, nicht an den deutschen Staat richtet? Zwei Einwände. Erstens: gehört Bubis nicht zu der deutschen Gesellschaft, sondern nur die Täter, Mitläufer, Wegschauer? Und zweitens zeigt sich hier Walsers nicht nur schamlose, sondern offensichtliche Verlogenheit: So richtete er am Ende seiner Rede selbst einen Apell an den deutschen Staat in der Person des damaligen Bundespräsidenten: Er möge doch einen ehemaligen DDR-Spion begnadigen, „um des lieben Friedens willen“.
Die geschickte Dramaturgie der Walser-Rede bestand in der Verknüpfung von Amnestie und Amnesie, in der Vermischung von ‘Wiedervereinigung’ und Auschwitz, DDR und ‘Drittem Reich’. Aggressiv nationalistisch, „zitternd vor Kühnheit“ wetterte er gegen die „Instrumentalisierung“ des Gedenkens. Getarnt war sein Angriff auf das öffentliche Gedenken an die Opfer und die Dokumentation der Schrecken des NS-Staates einerseits hinter der Forderung nach einer Autonomie des persönlichen Gewissens. Andereseits verschanzte er sich hinter der scheinbaren Sorge um die Abnutzung des Gedenkens durch „Ritualisierung“ und „Lippengebete“, dem „kanalisierten Jargon der Betroffenheit“ (Salomon Korn) [33] .
Es blieb Salomon Korns Aufgabe, dem Dichter die Wirkung seiner Worte zu erklären: „Es ist fast ein psychoanalytischer Effekt, den Sie ausgelöst haben, indem Sie mit der Unschärfe Ihrer Rede einen riesigen Assoziationshintergrund geschaffen haben. Und Sie nehmen das jetzt in Kauf, habe ich verstanden. Sie sagten, dass es Ihnen lieber ist, dass möglicherweise viel an die Oberfläche kommt, und seien es die Ansichten der Nationalzeitung. Lieber öffnen Sie diese Flasche, als dass diese Flasche verschlossen bleibt. Ist das richtig?“
Das ist richtig, Walser wiederholt es mehrfach. Auch Schirrmacher gelingt es nicht, ihn zu einer zumindest vordergründigen Distanzierung vom Miss- bzw. Gebrauch seiner Rede durch Antisemiten und Rechtsextreme zu bewegen. Und als Bubis ansetzt, um das Wort vom „geistigen Brandstifter“ zu relativieren, verweigert Walser abrupt rabiat den versöhnlichen Ton. Das Gespräch ist gescheitert, Bubis erklärt Walser zum „geistigen Vater“. Doch die Nachricht, „Bubis und Walser haben miteinander gesprochen“ (FAZ-Headline), scheint anderes zu besagen: Versöhnung, sogar Entschuldigung von Bubis’ Seite. Walser scheint zu triumphieren, auch wenn die Reaktionen auf seine Ausfälle und Unverschämtheiten in der Presse fast durchgehend negativ sind: die „unentschuldbare Hinterhältigkeit“ (Wolfram Schütte, FR) ist zu krass zu Tage getreten.
Im folgenden geht es um jene Hinterhältigkeit, aber nicht als moralische Wertung, sondern um den „psychoanalytischen Effekt“, die latenten und manifesten Gehalte im ‘gesellschaftlichen Gespräch’ zu den Themen Gedenken und Entschädigung von NS-Opfern. Dass auf der offiziellen Ebene das eine das andere überlagert, bzw. bewusst verdrängt, ist unsere erste These. Paradigmatisch hierfür sind Walsers Rede und seine fadenscheinigen Ausweichmanöver. Doch ebenso trifft es zu auf die bussfertigen Reden des jetzigen Bundespräsidenten, dessen Sühne-Rhetorik auch bei ausdrücklicher Verweigerung von Entschädigungszahlungen standhaft bleibt wie z.B. im Frühjahr 2000 in Griechenland [34] . Max Horkheimer hat schon in den fünfziger Jahren die Funktion dieser Schuldbekenntnisse beschrieben: „Immer wieder zu formulieren: das Schuldbekenntnis der Deutschen nach der Niederlage des Nationalsozialismus 1945 war ein famoses Verfahren, das völkische Gemeinschaftsempfinden in die Nachkriegsperiode hinüberzuretten. Das Wir zu bewahren war die Hauptsache ... Das Wir ist die Brücke, das Schlechte, das den Nazismus möglich machte.“ [35] Das allgemeine unverbindliche Gerede vom Nicht-Vergessen-Dürfen, von nie wiedergutzumachender Schuld und der Unmöglichkeit der Darstellung der Schrecken sind Textbausteine typischer Einheitsreden über den Holocaust geworden. Das, was für Adorno das „Unsägliche“ war, wird erhaben, zum „Unsagbaren“ erhoben und beredt beschwiegen. [36] Durch dieses Gerede ist ein „Hohlraum der Rede“ (Adorno) entstanden, in dem verschwindet, was an machbarer Entschädigung bisher versäumt wurde: Schadensersatz- und Lohnnachzahlungen, Schmerzensgeld, Kompensationen. An Horkheimers Vorkriegsdiktum ist zu erinnern: „Wer über den Kapitalismus nicht reden will, der soll auch über den Faschismus schweigen.“ [37] Über deutschen Kapitalismus aber ist zu reden, denn nun ist der geschichtliche Moment eingetreten, in dem zum ersten Mal die Profiteure der Zwangsarbeit zahlen müssen. Bisher hat die deutsche Wirtschaft es immer verstanden, „ihre historische Schuld zu verstaatlichen, ihre Profite aber zu privatisieren.“ (Salomon Korn zum 9. November 1998)
Walser brüstet sich in der ‘Aussprache’ mit dem Dank in „tausend Briefen“: „Was wir -und jetzt hören Sie, diese Formulierung ist mir am meisten im Gedächtnis geblieben- was wir bis jetzt hinter vorgehaltener Hand sagten oder unter Freunden sagten, das haben Sie öffentlich ausgesprochen, und dafür sind wir Ihnen dankbar.“ Adorno kannte diese deutsche Hinter-der-Hand-Haltung und beschrieb diese ideologischen Dispositionen als Krypto-Antisemitismus: „Dieser Krypto-Antisemitismus ist eine Funktion der Autorität, die hinter dem Verbot offener antisemitischer Manifestationen steht. Es liegt aber in diesem Versteckten selbst ein gefährliches Potential; das Tuscheln, das Gerücht, die nicht ganz offen zutage liegende Meinung war von jeher das Medium, in dem soziale Unzufriedenheit der verschiedensten Art, die in einer gesellschaftlichen Ordnung sich nicht ans Licht trauen, sich regen. Wer sich derart der Meinung, dem Gerücht zuwendet, wirkt von vornherein so, als ob er einer heimlichen, wahrhaften und durch die Oberflächenformen der Gesellschaft nur unterdrückten Gemeinschaft angehört.“ [38]
Auf der Ebene des ‘gesellschaftlichen Gesprächs’ ist Bubis’ Begriff des ‘latenten Antisemitismus’ unverzichtbar: „Ich spüre bei Martin Walser zwischen den Zeilen Antisemitismus. Ich weiss nicht, ob er sich dessen bewusst ist, wahrscheinlich nicht. Klaus von Dohnanyi hat es deutlicher als Walser ausgesprochen. Er sprach von dem ‘Versuch anderer, aus unserem Gewissen eigene Vorteile zu schlagen, es zu missbrauchen, ja, zu manipulieren.’“
SPIEGEL: „Was ist daran antisemitisch?“
Bubis: „Im Klartext heisst das: Die Juden machen aus allem Geld, sogar aus dem schlechten Gewissen der Deutschen.“ [39] Das ist nicht nur der wunde Punkt und das Nervenzentrum des „ersten Antisemitismusstreit der Berliner Republik“ (Lars Rensmann), sondern auch das verhüllte, ausgelagerte Zentrum des antisemitischen Diskurses bis heute. Die empirische Sozialforschung beziffert den Bevölkerungsanteil mit manifest antisemitischer, geschlossen rechtsextremer Weltanschauung auf 15-20 %. Mitte der 90er Jahre wurde bei Emnid-Umfragen herausgefunden, dass über 30% der festen Meinung seien, Juden seien „geld- und habgierig“. 1998 stimmten 38% der Befragten dem Satz zu, dass Juden den Holocaust für ihre Zwecke ausbeuteten und bei einer ZDF-Umfrage während der Hochphase des Walser-Bubis-Streit stimmten 64% dem Satz zu, ein Schlussstrich müsse gezogen werden. [40] Auf neue Umfragen darf man nach Monaten Entschädigungsdebatte und Hetze gegen jüdische Anwälte und jüdische Organisationen gespannt sein.
Die Antisemitismus-Forschung nennt unfreundliche Vorbehalte gegen jüdische Bürger heutzutage ‘sekundären Antisemitismus’: Antisemitismus nach Auschwitz wegen Auschwitz, der seine paradoxe Zuspitzung findet in dem Satz: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.“ Lamoryant wird die ‘Privilegierung’ von jüdischen Bürgern in Deutschland beklagt und findet seinen Ausdruck im Neid auf den sog. ‘Opferstatus’. Dieses Ressentiment begleitete die BRD und die sog. ‘deutsch-jüdische Versöhnung’ von Anfang an wie ein Schatten, doch blieb das immer im Rahmen der Auseinandersetzung um die sog. ‘Vergangenheitsbewältigung’. Die Entschädigungsdebatte lieferte nun die Möglichkeit, dieses Ressentiment mit den alten Feindbildern neu zu koppeln und affektiv aufzuladen. Bubis hat den Schleier der Verharmlosung zerrissen, indem er die alt-antijüdische Identifizierung von Antisemitismus und Ressentiments gegen (finanzielle) Akkumulation (im Jargon: ‘Geldscheffeln’, ‘Raffgier’) mit den aktuellen judenfeindlichen Ressentiments unmittelbar zusammenbrachte.
Bubis offene Worte über die weite Verbreitung des ‘latenten Antisemitismus’ in der Bevölkerung und den wachsenden intellektuellen Nationalismus der BRD-Eliten lösten Stürme der Entrüstung aus. Mit ‘Antisemitismus’ wurden bisher nur Holocaust-Leugner, notorische Nazis und sog. ‘Ewiggestrige’ in Verbindung gebracht. „Bis jetzt standen weder Walser noch Dohnanyi im Verdacht, Antisemiten zu sein.“ Bubis: „Richtig, aber „es“ denkt in ihnen, wie Fassbinder das genannt hat. Die Vorstellung, die Juden denken immer zuerst ans Geld und machen aus allem Geld, gehört zum klassischen antisemitischen Repertoire.“ [41] Dass ‘Es’ in ihnen denkt und denkt, dass ‘die Juden’ von Natur aus ‘geldscheffeln’ oder dass sich zumindest im deutschen Unterbewusstsein automatisch entsprechende Assoziationen einstellen, das will in Deutschland niemand zugeben. Man ist gegen Gedenken, bzw. die eine oder andere Form und man ist auch gegen die ‘Privilegierung’ von Juden ‘wegen der Geschichte’, aber die alten Stereotypen scheinen zusammen mit den Nazis verschwunden zu sein. [42]
Da Walser die Forderungen nach Entschädigungszahlungen mit keiner Silbe erwähnt hatte, wurde Bubis’ ‘Unterstellung’ des ‘latenten Antisemitismus’ brüsk zurückgewiesen. Allerdings bewies eine junge Deutsche im SPIEGEL, dass sie und ihre Generation verstanden hatten: „Würde Herr Bubis nicht so darauf bestehen, Juden hätten nicht ein über das Mass herausragendes Gewinnstreben, hätte ich Geld nicht mit dem Judentum in Verbindung gebracht.“ [43] Es ist dieselbe Hinterhältigkeit und „Bösartigkeit“ wie bei Klaus von Dohnanyi, der ihr „aus der Seele sprach“, als er an die ‘jüdischen Mitbürger’ die Frage stellte, wie sie sich denn damals verhalten hätten...
Neben Walser und Dohnanyi fehlt noch ein Dritter in der Runde: Rudolf Augstein, dem der Verdienst zukam, als erster in der Debatte Ross und Reiter konkret zu nnen. In dem schlimmsten Hetzartikel gegen das Mahnmal ausserhalb der Nationalzeitung schrieb er: „Man ahnt, dass dieses Schandmal gegen die Hauptstadt und das in Berlin sich neu formierende Deutschland gerichtet ist. Man wird es aber nicht wagen, so sehr die Muskeln auch schwellen, mit Rücksicht auf die New Yorker Presse und die Haifische im Anwaltsgewand, die Mitte Berlins freizuhalten von solch einer Monstrosität.“ Für das „Schandmal“ machte er Helmut Kohl verantwortlich: „Kohl fürchtete eine Stimmungsmache, der schon Konrad Adenauer Anfang der fünfziger Jahre mit den Worten Ausdruck gegeben hat: „Das Weltjudentum ist eine jroße Macht.““ [44]
4. Grammatik der Entschädigungsdebatte
Es geht in diesem Text um die Kontinuität der antisemitischen Stereotype im gesellschaftlichen Bewusstsein, jedoch ist der Begriff der Kontinuität nicht ohne die ihm anhängigen Begriffe des Bruchs und des Wandels zu denken. Einer Kontinuität hängt auch immer etwas Transhistorisches, Fixes an. Jedoch ist es für Analyse und Kritik der antisemitischen Stereotype in der Entschädigungsdebatte wichtig, sich mit den Modernisierungsleistungen verschiedener Stereotype und Ressentiments auseinanderzusetzen. Dem antisemitischen Diskurs, der die Entschädigungsdebatte strukturiert, ist eine solche Modernisierungsleistung gelungen: Alte, tradierte Antisemitismen konnten auf die Höhe der Zeit gebracht und gebündelt werden.
Doch ist der Diskurs des Antisemitismus nicht ‘blosse Ideologie’, sondern ihm ist eine soziale Praxis eingeschrieben. Die antisemitischen Aussagen, Ressentiment und Rancune, sind nicht irrelevant für Handlungen, sie sind soziale Tatsachen und haben reale Folgen. [45]
Versucht man durch eine Untersuchung der Zuschreibungen von Eigenschaften, welche den ‘jüdischen Anwalt’ so ausmachen sollen, das geformte Bild wieder zu fragmentarisieren, so erhält man wesentliche Figuren eines jahrhundertealten Antisemitismus. Durch verschiedene Metaphernsubstitutionen, bzw. -fragmentierungen werden die alten tradierten antisemitischen Topoi in neue Begriffe transformiert. Hier wird jedoch nicht ein symbolischer Äquivalententausch vollzogen - in dem Sinn, dass der neue Begriff dem alten identisch ist -, sondern ein qualitativ verschiedener Diskurs etabliert, welchem als ‘stille Struktur’ das Alte eingeschrieben ist: In dem Stereotyp des Anwalts vereinigen sich z.B. der ‘Dunkelmann’, die Eigenschaft des ‘Mauschelns’, der ‘Urbantyp’, der ‘Intellektuelle’, der ‘Kapitalist’, der ‘Wucherer’, der ‘Heimatlose’, ... Letztendlich findet, wenn von den Anwälten die Rede ist, eine Projektion antisemitischer Zuschreibung - was denn nun ‘jüdische Züge’ seien - auf die Rechtsvertreter der Kläger statt, wodurch die Anwälte zur Chiffre werden für ‘die Juden’. Dadurch wird einerseits die Praxis der Judifizierung deutlich, andererseits - betrachtet man die Häufigkeit und Vehemenz mit der dieses Stereotyp bedient wird - aber auch, wie verbreitet bestimmte Stereotypen noch sind: sie sind nie verschwunden, sie sind permanent latent gewesen, abrufbereit.
Damit wäre aber nur über die eine Hälfte der Dichotomisierung gesprochen. Aufschlussreich ist es, sich auch die Selbstbeschreibung anzuschauen, also die Charakterisierung der deutschen Seite in diesem Diskurs. Und sich darüber hinaus den diskursiven Prozess von antisemitischer Zuschreibung und Eigendefinition anzuschauen. Jaques Derrida hat darauf hingewiesen, dass die Opposition zweier Begriffe nie lediglich die Gegenüberstellung zweier Termini ist, sondern eine Hierarchie und die Ordnung einer Subordination bedeutet. [46] Die hier beschriebene antisemitische Praxis der Judifizierung benutzt die scheinbare Selbstdefinition nur strategisch: Sie ist eigentlich unspezifisch, es reicht eine grobe Kennzeichnung der (imaginierten) eigenen Position als der des ‘Opfers’. Die konkreten Inhalte der Attribute, die der deutschen Seite als Eigenschaften zugeschrieben werden, sind bestimmt durch ihre Funktion als Kontrapunkt zu den Eigenschaften ‘der Juden’. Die Eigenbeschreibung erhält vor allem in diesem Diskurs Sinn, ansonsten wird sie eher selten vertreten.
Um das nationale ‘Wir’ hat sich vielmehr der philosemitische Diskurs verdient gemacht. In Deutschland gibt es die Konstruktion, dass der ‘Philosemitismus’ ein dem Antisemitismus widersprechendes Wissen sei. Beide sind jedoch ‘judifizierende Praxen’, welche auf ein gemeinsames Drittes rekurrieren: die Konstruktion der Juden als der Anderen, der Fremden. Gleichzeitig ist das gemeinsame Dritte auch die Konstruktion eines gegenüber den anderen abgesetzten Kollektivs: des nationalen ‘Wir’. Wie schnell Philo- in Antisemitismus umschlagen kann zeigt sich, wenn Überlebende sich nicht ins Bild des still leidenden, zu bemitleidenden Opfers einfügen; wie z.B. eine Gruppe Überlebender in Frankreich, die jegliche Zahlung von Deutschland ablehnen. [47] Trifft das philosemitische Opfermitleid auf die Haltung der Unversöhnlichkeit, wird diese nicht als menschlich nachvollziehbar empfunden, sondern es wird den Überlebenden sofort ‘Rachsucht’ unterstellt. ‘Geldgier’ und ‘Rachsucht’ aber gehören zu den prominentesten antisemitischen Stereotypen, die das christliche Abendland produziert hat.
Während das Klischee der ‘Geldgier’ noch vor allem auf die Anwälte angewandt wurde, fällt das Klischee der ‘Rachsucht’ direkt auf die Überlebenden. Bis in den Dezember 1999 hinein fand sich in der Entschädigungsdebatte vor allem folgendes Muster: Es fand eine Täter-Opfer-Gleichstellung der deutschen Firmen mit den ehemaligen Zwangsarbeitern statt. Beide seien gleichermassen von den jüdischen Anwälten bedroht und werden von ihnen zu Profitzwecken ausgenutzt, bzw. instrumentalisiert. Im Januar 2000 wurde der Diskurs dann deutlicher, die Assoziationsmöglichkeiten präzisiert. Zuerst waren die ‘jüdischen Anwälte’ metonymisch, als pars pro toto in der Debatte latent. Von dem widerwärtigen Argument, die US-amerikanischen und israelischen Überlebenden würden für ein und dieselbe Sache doppelt kassieren, konnte man nun dazu übergehen, ganz offen antisemitisch zu werden. Inzwischen hat diese neue deutsche Offenheit tendenziell die ‘verborgenen’ Ressentiments zurückgedrängt. Es sind nicht mehr nur die ‘jüdischen Anwälte’, welche die Entschädigungsdebatte für die eigenen Profite nutzen, es wird ganz offen ausgesprochen: Es sind der ‘Jüdische Weltkongress’, die Claims Conference, die Opferverbände der jüdischen Verhandlungsseite.
Zusätzlich werden die Landzwangsarbeiter gegen die KZ-Häftlinge ausgespielt: während die einen gequält wurden, hatten die anderen ‘bei uns’ die ‘beste Zeit ihres Lebens’. Dieses ständige Arbeiten mit gegensätzlichen Begriffspaaren lässt sich als wesentliches Strukturmerkmal der gesamten aktuellen Entschädigungsdebatte konstatieren. Verwandt werden folgende Entgegensetzungen:
Böse Anwälte vs. gute Opfer
Böse westliche Juden (wollen zweimal auf Kosten der anderen kassieren) vs. gute (unbestimmte) Osteuropäer
Gute ehemalige KZ-Häftlinge vs. böse ehemalige Landzwangsarbeiter
Die real bestehenden historischen Unterschiede werden zu sich gegenseitig ausschliessenden Gegensätzen konstruiert und über diese Struktur instrumentalisiert. Man kann diese Dichotomisierungen als Grammatik der Entschädigungsdebatte lesen. Das dabei entstehende antisemitische Ressentiment ist qualitativ neu, weil der Antisemit sich sowohl mit den ermordeten Juden im Opferstatus identifiziert, als auch gleichzeitig eine Trennung vornimmt in gute Tote und verbrecherische Überlebende oder gute, bemitleidenswerte Opfer und böse, rachsüchtige Überlebende. Dadurch wird der Wille, keine Entschädigung zu zahlen, legitim und ein endgültiges Abschliessen der Auseinandersetzung mit den Verbrechen berechtigt: aus Opfern werden Tätern und umgekehrt.
Als besonders abstossendes Beispiel für den Rollentausch mag ein Artikel von Götz Aly, „Das Prinzip Wassersuppe“, dienen: „In den KZs liess die SS die Wassersuppe einfach zwischen die Häftlinge stellen und provozierte so regelmässige Balgereien, die mit dem Sieg der Stärksten enden mussten. Eben dieses System zwingen nun die Vertreter der Opfer den Vertretern der Bundesregierung auf.“ [48] Das „Prinzip Wassersuppe“ ist eine ungewollt passende Beschreibung der deutschen Strategie. So sind nicht etwa das unwürdige Angebot der deutschen Seite und der billige, infame Trick, ein umfassendes Schlussstrich-Geschäft aus dieser aussergerichtlichen Einigung zu machen, schuld, dass jeden Monat Tausende von Opfern sterben, ohne eine Entschädigung erhalten zu haben, sondern ‘die Juden’ sind schuld. Das deutsche Spiel auf Zeit ist ein letztes Geschäft mit dem Tod. Der reale Grund für Vorbehalte gegenüber den deutschen Angeboten wird verschwiegen. Denn die deutsche Seite hat ein viel grösseres Geschäft gewittert: es ist die neue Strategie, einen umfassenden Ablasshandel durchzuziehen, der nun auch offene Vermögensfragen der ‘Arisierung’ beinhalten soll. Dabei geht es um Vermögenswerte, die den Betrag der 180 Milliarden DM [49] , der den ehemaligen Zwangsarbeitern rechtens zustünde, um ein vielfaches übersteigen. Auf diesem Hintergrund wird klar, was das Codewort des ‘Rechtsfriedens’ wirklich heisst: ‘Schlussstrich’.
5. Kollektives Gedächtnis und antisemitische ‘Mythologie’
Das kollektive Gedächtnis wird sowohl durch öffentliche, als auch durch ‘stille’ Diskurse formiert, wobei diese in einem engen Konstitutionsverhältnis zueinander stehen, sich gegenseitig hervorbringen und wechselseitig beeinflussen. Da wir uns im wesentlichen den öffentlichen Diskursen widmen, sei kurz auf die ‘stillen’ eingegangen, bzw. auf die stummen. In der psychologischen Forschung zur ‘transgenerationellen Weitergabe’ wurde in bezug auf die Generation der Täterkinder festgestellt, dass es eine Komplizenschaft des Verschweigens gibt. So sensibel wie die Kinder diese Stellen des Schweigens erspüren, so spüren sie auch die affektive Aufladung bestimmter Worte, z.B. die deutschlandweit verbreitete Sprachstörung bei dem an sich wertneutralen Wort ‘Jude’. Auf diese Weise konnte auch das Unausgesprochene permanent latent existent bleiben. Assoziationsketten fungieren als Traditionsstränge des gesellschaftlichen sprachlichen Bandes und tradieren ein kollektives Metapherngedächtnis, das sich durch die gesprochene Sprache vermittelt. Antisemitismus ist ein solcher Strang, denn Antisemitismus funktioniert als „kultureller Code“ (Shulamit Volkov). [50] Diese Metaphernbildung hat Roland Barthes als ‘Mythologie’ beschrieben: nach Barthes ist der ‘Mythos’ eine Bedeutung, die sich auf ein Bild oder Wort aufpropft und ihm Sinn und Geschichte austreibt, um eine neue Bedeutung zu produzieren. In diesem Sinne verstehen wir Antisemitismus als ein „sekundäres semiologisches System“. Der Sinn der Sammelklagen und der geschichtliche Hintergrund der Verschleppung und Versklavung durch die Deutschen werden vernichtet von einem neu-alten ‘Mythos’, der sich darüber stülpt. Es ist eine doppelte semantische Operation: die ‘jüdisch-amerikanischen Anwälte’ werden zur Metonymie für ‘die Juden’, während ‘die Juden’ als Metapher verstanden werden: die ‘Geldgier’ der Anwälte ist ebenso ‘typisch jüdisch’ wie die Unversöhnlichkeit mancher Überlebender, die vollkommen losgekoppelt wird von dem, was ihnen angetan wurde als gäbe es eine angeborene ‘jüdische Rachsucht’. Diese ‘Naturalisierung’ ist exakt die Funktionsweise der ‘Mythologie’ im Sinne von Roland Barthes. Der ‘Mythos’ verbirgt seine Motive nicht, stellt sie aber auch nicht eindeutig zur Schau. Der ‘Mythos’ informiert nicht, vielmehr deformiert er, er schillert und oszilliert zwischen Latenz und Manifestation, er ist ein Alibi. Barthes beschrieb den Prozess wie folgt: „Mit dem Auftrag einen intentionalen Begriff ‘durchzubringen’, trifft der Mythos in der Sprache doch nur auf Verrat, denn diese Sprache löscht den Begriff aus, wenn sie ihn verbirgt, und demaskiert ihn, wenn sie ihn ausspricht. Die Entwicklung eines sekundären, semiologischen Systems macht es dem Mythos möglich, dem Dilemma zu entgehen. Vor der Alternative, den Begriff zu entschleiern oder zu liquidieren, findet der Mythos einen Ausweg darin, ihn ‘natürlich’ zu machen.“ [51] Der ‘antisemitische Mythos’ verwandelt zugeschriebene Eigenschaften in Wesen, Geschichte in Natur: den hier beschriebenen ‘Mythos’ könnte man in Anlehnung an Barthes als den der ‘Judaität’ beschreiben. Im Kontext der Entschädigungsdebatte ist er durchweg negativ besetzt, es ist der Antisemitismus.
Nun sind die Täterkinder keine Kinder mehr und das berühmte bedrückende Schweigen im deutschen Zuhause ist einer neuen Lust am narrativen Schwelgen in der NS-Vergangenheit gewichen. Maurice Halbwachs, der am 16. März 1945 kurz vor der Befreiung in Buchenwald ermordet wurde, weist in seinem Buch „Das kollektive Gedächtnis“ nach, wie man mit seinen Eltern und Grosseltern bisweilen eine Gemeinschaft bildet, die stark durch die Milieus und Vorstellungen der Älteren geprägt ist. Die dort weitergegebene Atmosphäre gehen nach Halbwachs in das individuelle Gedächtnis ein und werden jeweils in Verbindung mit bestimmten Symbolen, Figuren wieder aktualisiert. Man steckt mitten drin. Beim Geburtstag der Oma sitzt man womöglich inmitten eines BDM-Kaffeekränzchens, man kennt die Wehrmachtsphotoalben des Opas (die Bilder, die auf der „Verbrechen der Wehrmacht“-Ausstellung zu sehen waren sind vielleicht auf den Dachboden ausgelagert worden) und kennt seine Landserfreunde als gemütliche, gutmütige Rentner. Laut Heinz Bude haben die Deutschen „nun seit langer Zeit zum ersten Mal die Möglichkeit, eine abgeschlossene Periode ihrer Geschichte mit glücklicher Wehmut und milder Zuneigung zu betrachten.“ [52] Auf Befindlichkeiten und Sentimentalitäten sollte verzichtet werden und diese ‘letzten Ausklänge’ als Metapher für Fragmente, Reminiszenzen und Ideologeme der NS-Weltanschauung betrachten werden. Günther Jacob hat in seiner Artikelserie „Stille Post“ die deutsche Oral History untersucht und beschrieben wie sie als Binnenkommunikation zwischen den Generationen des alten NS-Volksgemeinschaftskollektivs funktioniert.
Eine Identifikation von Tätergeneration und Nation und Eltern und Kindern findet statt: „Eine solche Identifikation verlangt, wo es um die Zeit des NS geht, allerdings eine spezifische Leistung, nämlich das Absehen vom Holocaust. Da das nicht ohne weiteres möglich ist und die biographische Selbstthematisierung nicht allen Punkten der staatsoffiziellen Historie folgen kann, gleichen die Strategien der ‘Zeitzeugenschaft’ die emotionalen Defizite von Nationalisten aus. Zeitzeugen laden zum Miterleben und Mitleiden ein.“ [53]
Seit einigen Jahren ist eine gewisse narrative Lust der Täterseite am Berichten ihrer ‘schönsten Zeit im Leben’ zu erkennen. Nur zögerlich-verhalten, bzw. gar nicht oder nur indirekt wird über die konkreten Taten gesprochen; z.B. die hemmungslose Ausbeutung von Zwangsarbeitern, ihre allgegenwärtige unsichtbare Präsenz in Nazideutschland. Das Private der Tätergeneration ist nicht privat, sondern das Historische der nachfolgenden Generationen und ein politischer Kampf um die Gegenwart und die Deutung der Vergangenheit. In Konfrontation mit den (traumatischen) Erinnerungen der Opferseite kann die ‘Milde’ und ‘Wehmut’ schnell in Aggression und (verbale) Gewalttätigkeit umschlagen, wie das Beispiel Walser zeigt.
Es ist nicht nur eine Prägung, eine Sozialisierung, die Schaffung ‘unbewusster’ Antisemitismen, welche die Generationen verbindet. Es sind auch materielle Beziehungen, die dieses Band der Sympathie in Deutschland so fest schnüren. Wenn nun zu Beginn eines neuen Jahrhunderts fast 6 Billionen DM von der Kriegs- und ‘Wirtschaftswunder’-Generation an die Nachkriegsgenerationen vererbt werden, dann sind darunter erhebliche Vermögensanteile von enteigneten, deportierten und ermordeten jüdischen Nachbarn enthalten. Bis heute wird in deutschen Familien aus Porzellan gegessen, dessen rechtmäßige Besitzer in einem deutschen Vernichtungslager vergast wurden (Salomon Korn am 9. November 1998). Dieses Erbe muss, wenn es angenommen und akzeptiert werden soll, von den Makeln der NS-Verbrechen gesäubert werden. Dazu dient die ‘Einfühlung’ in das Schicksal der Erblasser als ‘Opfer der Umstände’. Auf diesem konkreten materiellen Hintergrund ist die ‘Volksgemeinschaft’ mit den beklagten Konzernen und die mangelnde Empathie für die Opfer in der Bevölkerung zu verstehen. „Nach der Ipos-Umfrage der Stiftungsinitiative im letzten Herbst hielten knapp vierzig Prozent der Befragten die Entschädigungsforderungen für nicht gerechtfertigt.“ [54] Bei der Abwehr der Entschädigungsforderungen ist mehr im Spiel als Standortnationalismus und Wohlstandschauvinismus. Es handelt sich um eine psychologische Abwehr, die sich der Erkenntnis verdankt, dass fast die ganze Nation in die Verbrechen verstrickt war durch Inanspruchnahme der NS-Volkswohlfahrt und Nationalsozialstaatlichkeit, die sich aus kriegerischem Raub und der Vernichtung von Millionen Menschenleben finanzierten. Und dass es das heutige Deutschland auch noch ist, soweit es das Deutschland der Erben ist. Die Täter wollen ihren ‘Seelenfrieden’ (Walser), Deutschland ‘Rechtsfrieden’. Während die Enkel der Überlebenden auf ihren Anspruch auf Entschädigung und Restitution verzichten sollen. So beerben die Täternachfahren die Opfer! Es war das Verdienst von Salomon Korn am 9. November 1999, die ‘Entschädigungsdebatte’ wieder in richtige Relationen zu setzen: „Nur zur Erinnerung: der deutsche Staat zahlt 13 Milliarden DM jährlich für ehemalige Wehrmachtsangehörige, davon etwa 5 %, also 600 Millionen Mark für Kriegsverbrecher oder an Verbrechen gegen die Menschheit Beteiligte.“ [55] Es zeigt sich, dass der antisemitische Diskurs keine Angelegenheit von Altnazis und deutschnationalen Zirkularen ist. Er wird von Positionen der Macht aus vorangetrieben und von der Bevölkerung mitgetragen. Es wird eine Praxis etabliert, in der nicht Empathie mit den Opfern, sondern Solidarität mit den Tätern vorherrscht. [56] Darin besteht die ‘zweite Schuld’, die ererbte Schuld.
6. „..und die irrespektablen üben ihn aus.“ [57]
Der Diskurs des Antisemitismus ist nicht ‘blosse Ideologie’, sondern ihm ist eine soziale Praxis eingeschrieben. Die antisemitischen Aussagen, Ressentiment und Rancune, sind nicht irrelevant für Handlungen, sie sind soziale Tatsachen und haben reale Folgen. So wurde im Dezember 1998, in der Hochphase des ‘Walser-Bubis-Streit’ das Grab des ehemaligen Zentralratsvorsitzenden der Juden, Galinski, durch einen Bombenanschlag verwüstet. In der Nacht vom 3. auf 4. Oktober 1999, nach dem lawinenartigen Wahlerfolg Haiders in Österreich und dem ‘Tag der Einheit’ in Deutschland, wurde der grösste jüdische Friedhof Europas in Berlin Weißensee geschändet. Doch selbst nach dem Anschlag auf die Werkstatt des Steinmetzes, der aus Solidarität mit der jüdischen Gemeinde die zertrümmerten Grabsteine unentgeltlich restaurierte, wollte die Polizei und die Politiker keinen antisemitisch motivierten Hintergrund erkennen. Am 20. April 2000, dem 1. Tag von Pessah, Gründonnerstag und ‘Führers Geburtstag’, wurde auf die Synagoge in Erfurt ein Brandanschlag verübt. Im Bekennerschreiben hiess es, die Tat sei ‘allein auf antisemitischer Grundlage’ geschehen. Die Polizei nahm das zum Anlass, erst einmal gegen Linke und Antifaschisten zu ermitteln. Die Verwendung des Wortes ‘antisemitisch’ spräche gegen eine rechtsextreme Autorschaft. Die Polizei ermittelte so fahrlässig, dass erst nach Tagen ein zweites Molotowcocktail gefunden wurde, welches nicht explodiert war. Die zuständigen Ermittler hatten es versäumt, eine ordentliche Spurensicherung vorzunehmen. Als die Täter, drei junge Neonazis, trotzdem gefasst wurden, verurteilten alle Fraktionen des thüringischen Landtages gemeinsam den ‘Extremismus’. Der Zentralratsvorsitzende der Juden in Deutschland Paul Spiegel rügte Ministerpräsident Vogel, der nicht müde wurde, vor ‘falscher Aufgeregtheit und unbedachten Schnellschüssen’ zu warnen. [58] Stattdessen wurden vom Freistaat und den Faschisten diejenigen überwacht, die sich mit der jüdischen Gemeinde solidarisierten: ‘Die Polizei unterzog Teilnehmer von Mahnwachen polizeilicher Kontrollen. Christian Kapke, bekannter Exponist der rechten Kaderstruktur ‘Thüringer Heimatschutz’, konnte hingegen ungehindert Fotos von den Menschen an der Synagoge machen.’ [59] Das darf nicht verwundern, hat doch der thüringische Verfassungsschutz jahrelang aktive Nazi-Kader als V-Leute beschäftigte, die mit dem Staatsgeld den Nazi-Untergrund erst richtig aufbauen konnten. Schliesslich, so der Verfassungsschutzpräsident Roewer auf einer öffentlichen Podiumsdiskussion, habe das ‘Dritte Reich’ ‘nicht nur schlechte Seiten gehabt’. [60] Der sprunghaft angestiegene militante Antisemitismus folgt dabei einer Dramaturgie der Daten aus der Nazi-Zeit bis in die Gegenwart: 9. November, 3. Oktober, 20. April ... Wenn es reine ‘Vandalen’ sind, so sind es Vandalen mit Sinn für Timing und mit Nationalgedächtnis. Dass nach einer Phase von rassistischen Pogromen gegen ‘Untermenschen’ nun eine Welle des Terrors gegen die jüdischen ‘Übermenschen’ folgt ist auf die Debatten der letzten Jahre zurückzuführen: über Goldhagen und Wehrmachtsausstellung, das Mahnmal und die Walserrede bis zur Zwangsarbeit. Es zeigt sich: Antisemitismus wird geschürt, mit Antisemitismus wird gedroht und Politik gemacht, aber die realen Folgen, die Existenz eines Neonazi-Terroristenumfeldes, werden verleugnet.
7. Opfer und ‘Versöhnung’
Nicht nur in der Entschädigungsdebatte manifestiert sich ein neues nationales ‘Wir’, das unter Ausschluss aller internen Widersprüche eine Interessensgleichheit aller Deutschen behauptet. Offen bleibt, wer zu dieser imaginierten Gemeinschaft der Berliner Republikaner gehört. Eine Selbstbeschreibung wird höchstens mit Containern oder Worthülsen, deren ausschliessliche Funktion die Abgrenzung nach außen ist, vorgenommen. Die Konstruktion geschieht zunächst durch eine Grenzziehung gegenüber den Anderen. Die Selbstbeschreibung lässt sich aus einer Beschreibung der Frontlinien selbst ableiten. Anstelle der ursprünglichen Verantwortlichkeit des einen Menschen gegenüber dem Anderen auf Grund seines Menschseins und einem daraus abgeleiteten Handeln wird eine Trennungslinie gezogen: zwischen den Menschen der Gemeinschaft, denen Verantwortung gilt, und denjenigen, denen gegenüber eine Verantwortung auf Grund ihres Menschseins negiert wird. Und damit implizit auch ihr gleichwertiges Menschsein. Die Fremdbeschreibung, Beschreibung dessen, was jenseits der Grenzen der Verantwortung für den Anderen liegt, soll die Fronten klären. Trennungen werden auf verschiedenen Ebenen vorgenommen, am virulentesten sind dabei Ausgrenzungen, die durch rassistische oder antisemitische Bilder strukturiert sind. Die sich so formierende, die Gesellschaft überformende ‘Gemeinschaft der Deutschen’ beschreibt sich am wirkmächtigsten im Opferstatus. Dabei spielen die verschiedenen Bedeutungsebenen des Wortes „Opfer“ eine Rolle: sowohl im Sinne von „victim“, als auch von „sacrifice“ - auch ‘sich opfern’ klingt an.
Die Grenze zwischen Tätern und Opfern verläuft als eine Grenze der Schuld. Bereits direkt nach dem Sieg der Alliierten wurde eine Dichotomie geöffnet zwischen den Nazis, den Tätern, zu denen kaum ein Deutscher nach 1945 gehört hatte, und den Deutschen, die ‘Opfer’ dieser Nazis geworden wären. Die Deutschen blieben Opfer, doch die Täter wurden andere. Deutsche Wirtschaft und Nation stellten sich als für ‘fremde Taten’ in die Schuld genommen dar. Seine zweite Bedeutung erhält das Wort ‘Opfer’ (sacrifice) als Opfer auf dem Altar der Nation. Sühne, Entsühnung, Versöhnung sollen vollzogen werden. Im Entschädigungsfonds der deutschen Wirtschaft manifestiert sich deren Opfer für die Nation. Einhergeht mit dem Bild des Opfers das Bild des Vaterlandsverrats durch diejenigen, die sich verweigern. So forderte die Stiftungsinitiative die säumigen Zahler unter den Firmen am 20. Mai 2000 per Zeitungsanzeige auf, ihren Beitrag zum ‘Ansehen Deutschlands in der Welt’ zu leisten, das Bild der moralischen Anständigkeit Deutschlands nicht zu verraten. Ziel dieses Ablaßhandels ist die vielbeschworene ‘Normalität’.
Das Opfer soll der Versöhnung dienen und die Schuld, welche die Nation befleckt, tilgen. Es stellt sich die Frage, mit wem man sich versöhnen will, wessen Schuld wem gegenüber man zu tilgen gedenkt. Die ‘Versöhnung’ gilt weniger den überlebenden Opfern der deutschen NS-Vernichtungspolitik. Vielmehr dient das zu vollziehende Opfer der deutschen Nation zur ‘Versöhnung’ mit sich selbst. Die Überlebenden deutscher Verbrechen bleiben als die Anderen gekennzeichnet. Sie stehen außerhalb des Entsühnungsrituals, das die Nation für sich vollzieht. Den überlebenden Opfern wird nicht mit der Geste der Versöhnung, nicht mit der Bitte um Vergebung entgegengetreten, sondern mit Zurschaustellung der eigenen Macht. Die deutsche Regierung betreibt “eine Art Schadensabwicklung“ (Habermas), auf ein Bekenntnis der Schuld gegenüber den Überlebenden glaubt man verzichten zu können. Hierzu Vladimir Jankélévitch: „Wenn sie begonnen hätten, um Verzeihung durch Reue zu bitten, hätten wir in Betracht ziehen können, sie ihnen zu gewähren, aber das war nicht der Fall.“ [61] Die Macht, die den Opfern ihre Größe demonstriert, gibt nur Gnadenbrote und versucht umfassende ‘Rechtssicherheit’ zu erpressen. Um dieses ‘Recht’ zu erreichen, wird mit neuen Drohungen gegenüber den alten Opfern hantiert. Der geforderte ‘Rechtsfrieden’ soll den ‘Schlussstrich’ regeln: das ‘Recht’ der Deutschen, wegen der Vergangenheit ‘in Frieden’ gelassen zu werden. ‘Rechtssicherheit’ wird gefordert und Sicherheit vor Gerechtigkeit gemeint. In anderen Ländern, z.B. Frankreich, wurde dagegen die „Unverjährbarkeit der Verbrechen“ gesetzlich beschlossen. Derrida hat darauf hingewiesen, dass auch dieses Gesetz nicht der Position der Unversöhnbarkeit Ausdruck geben kann. Zu geschieden sind die Sphären von Recht und Gerechtigkeit. Derrida beschreibt in diesem Zusammenhang die Unmöglichkeit von Vergebung und Gerechtigkeit. [62] Nach Levinas entsteht diese Unmöglichkeit aus mangelndem Bewußtsein: „Zwei Bedingungen für die Vergebung: Bereitschaft des Beleidigten und volles Bewußtsein dessen, der beleidigt hat. Der Beleidiger aber ist sich im Wesen seiner Tat nicht bewußt: Die Aggressivität des Beleidigers ist vielleicht wesensgleich mit seiner Nichtbewußtheit. Agression ist Unachtsamkeit par excellence. Im Wesen wäre demnach Vergebung unmöglich.“ [63]
Kader Karlo
[1] profil, 1.6.00
[2] Spiegel Nr.32, 9.8.99, S.34
[3] Spiegel vom 28.2.00; vgl.: FAZ, 9.10.99, S.1; 16.12.99, S.1; 29.7.99, S.43; 8.3.00, S.7; Die Zeit Nr.46, 10.11.99, S.10; BZ, 22.1.00; 1.12.99, S.8; SZ, 16.12.99, S.2; Berliner Morgenpost, 15.12.99; TAZ, 31.7.99, S.7; Spiegel Nr.32, 9.8.99, S.34-46
[4] Die Zeit Nr.46, 10.11.99, S.1; vgl.: „Weiss und seine Kollegen gelten auch immer häufiger als Schurken: Geldgierige jüdische Anwälte - so offen würde das in Deutschland natürlich niemand sagen, und doch, hinter vorgehaltener Hand, da klingt so manches aus manchem Munde.“ (Die Zeit Nr.46, 10.11.99, S.10)
[5] Die Zeit Nr.51, 16.12.99, S.21; vgl.: Spiegel Nr.32, 9.8.99, S.34-46
[6] SZ, 16.12.99, S.2
[7] SZ, 20./21.11.99, S.6; vgl.: „Die amerikanischen Anwälte spielen Weltpolizei, obwohl die amerikanische Regierung auf Ansprüche verzichtet hat.“ (SZ; 16.12.99, S.2); Die Zeit Nr.46, 10.11.99, S.10
[8] Die Zeit Nr.46, 10.11.99, S.10; vgl.: „Es sind vielmehr die class action-suits, die so genannten Sammelklagen, die ungeachtet völkerrechtlicher Vereinbarungen in den USA zulässig sind und vor denen die deutsche Industrie sich zu Recht fürchtet.“ (SZ, 16.12.99, S.2); FAZ, 26.7.99, S.41
[9] Spiegel Nr.32, 9.8.99, S.34-46; vgl.: SZ, 16.12.99, S.2; FAZ, 29.7.99, S.43; FASZ, 12.3.00, S.2
[10] FR, 24.5.00, S.1; vgl.: „Kaum zu glauben, dass diese zentrale Frage, die deutsche Konzerne überhaupt erst dazu bewegt hatte, sich auf diese Verhandlungen einzulassen, nach wie vor ihrer letztendlichen Klärung harrt.“ (FR, 31.3.00, S.7)
[11] u.a. SZ, 16.12.99, S.2 oder BZ, 1.12.99, S.8
[12] SZ, 16.12.99, S.2
[13] zusammengestellt aus: SZ, 16.12.99, S.2; Stuttgarter Zeitung, 10.1.00; Berliner Morgenpost, 15.12.99; FAZ, 26.7.99, S.41; 29.7.99, S.43; BZ, 23.3.00, S.6; Spiegel Nr.32, 9.8.99, S.34-46; Manager Magazin 7/99; Die Zeit Nr.46, 10.11.99, S.10
[14] Götz Aly: Entschädigung ohne Ende?, BZ, 2.3.00, S.4; vgl.: FASZ, 12.3.00, S.2; BZ, 1.12.99, S.8; FAZ, 26.7.99, S.41
[15] Götz Aly: Schuld ist nicht erblich, BZ, 22.1.00; vgl.: TAZ, 10.3.00, S.2; NZZ, 10.3.00, S.3
[16] FAZ, 18.11.99, S.1
[17] SZ, 10.3.00, S.5; vgl.: „Für Unmut am Rande sorgt dabei die Praxis, dass die Jewish Claims Conference für die Verteilung von Geldern in den USA üblicherweise 15 Prozent Bearbeitungsgebühr berechnet.“ (Spiegel Nr.47, 22.11.99, S.34); TAZ, 10.3.00, S.2
[18] Die Zeit Nr.46, 10.11.99, S.10; vgl.: „Die Kläger missbrauchen den Holocaust zu einem Gerichtsspiel ums große Geld. Die Klage ist ein unschätzbares Geschenk für die Antisemiten in Polen.“ (Polen sitzt in den USA auf der Anklagebank, TAZ, 12.8.99, S.8); So urteilt auch der blaue Gudenus über Fagan: „ein guter Geschäftsmann, das ist klar. Aber ich glaube, er trägt nicht dazu bei, Sympathien für Seinesgleichen zu erwecken.“ (profil, 1.6.00)
[19] zit. nach Doron Rabinovic im Interview mit Jungle World: 42/99
[20] SZ, 10.12.99, S.11, Interview mit Lambsdorff
[21] FAZ, 9.10.99, S.1; vgl.: „Die Stiftung mit Sitz in Bonn geht davon aus, dass es auf Grund von Zwangsarbeit keine Rechtsansprüche gegen deutsche Unternehmen gibt. Die Unternehmen sehen sich in einer ‚moralischen Verantwortung‘ zu ‚humanitären‘ Leistungen.“ (Hamburger Abendblatt, 16.12.99); FAZ, 16.12.99, S.1; Spiegel Nr.32, 9.8.99, S.34-46
[22] SZ, 10.12.99, S.11, Interview mit Lambsdorff; vgl.: Die Welt, 10.1.00; BZ, 1.12.99, S.8; FAZ, 26.7.99, S.41; Spiegel, 13.3.00, S.31; Spiegel Nr.32, 9.8.99, S.34-46; Die Zeit Nr.46, 10.11.99, S.1; Die Darstellung der Industrie als von ‘Ihnen’ verfolgt wurde sogar in der deutschen Presse hin und wieder kritisch angemerkt. „So stilisiert sich die deutsche, für den Entschädigungsfonds steuererleichterte Wirtschaft zu einem Objekt moderner Raubritter in Gestalt US-amerikanischer Anwälte.“ ( FR vom 11.12.99) oder: „Bei Schröder erschien die deutsche Industrie als verfolgte Unschuld, weshalb er die Zwangsarbeiter-Frage fortan betrieb wie den Atomausstieg - im bedingungsfreien Konsens.“ (Die Zeit Nr.46, 10.11.99, S.1)
[23] FAZ, 18.11.99., S.1
[24] Spiegel Nr.32, 9.8.99, S.34-46; vgl.: „Doch mit dieser weiteren Milliardenzahlung hat sich die Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedergutmachung in Höhe von rund 130 Milliarden Mark und zahlreichen anderen Entschädigungsleistungen abermals zu ihrer Verantwortung für die Schrecknisse der deutschen Vergangenheit bekannt.“ (FAZ, 16.12.99, S.1)
[25] Spiegel Nr.47, 22.11.99, S.35); vgl.: „‚Man braucht ja niemandem zu sagen‘, unterstrich Lambsdorff, ‚was es bedeuten würde, wenn wir die Reparationsdebatte weltweit über uns hereinbrechen lassen würden, und wer sich dann alles bei uns einfinden und Ansprüche stellen würde.“ (FR, 7.4.00)
[26] Die Zeit Nr.20, 11.5.00, S.21
[27] SZ, 10.12.99, S.11, Interview mit Lambsdorff; vgl.: Spiegel Nr.32, 9.8.99, S.34-46; Nr.47, 22.11.99, S.34,35; Die Zeit Nr.46, 10.11.99, S.1; Nr.51, 16.12.99, S.21; Nr.20, 11.5.00, S.21
[28] Angemerkt sei hier nur kurz, was auch in der deutschen Entschädigungsdebatte nur kurz für eine kleine Nebendiskussion sorgte, nämlich Lambsdorffs Verstrickungen in die Bemühungen der NRW-FDP in den 50ern, Amnestie für NS-Kriegsverbrecher zu erwirken. Vgl.: „Der Mann, damals 28 Jahre alt, war dort [Raum Aachen] 1952/53 Bezirksvorsitzender der FDP. Man muss dazu wissen, dass die FDP in Nordrhein-Westfalenvon ehemaligen SS-Funktions-Eliten und HJ-Führern unterwandert war. Kurz: Otto Graf Lambsdorff ist zumindest kraft seiner damaligen Funktionen als Bezirksvorsitzender und Geschäftsführer mit verantwortlich und beteiligt gewesen an einer Reihe von Aktivitäten, die in Hilfe für ehemalige Kriegsverbrecher und Propaganda für deren Generalamnestie bestanden. Lambsdorff unterschied sich damit nicht von seinen Parteikollegen, denn die Unterstützung für NS-Täter gehörte zum politischen Programm der FDP bis etwa 1956. ... Im Übrigen geht es bei unserer Kritik nicht nur um diese nun gut 45 Jahre alten Geschichten. Noch 1992 trat, wie die taz berichtete, Graf Lambsdorff beim Kyffhäuserbund auf und stellte dort öffentlich fest, dass die deutschen Werte und Tugenden wieder gepflegt würden, ‘trotz der Versuche der Nürnberger Richter, das nationale Denken zu vernichten’. Es gibt da eine Kontinuität, die den Mann nicht sehr vertrauenswürdig macht.“ (Jungle World, 41/1999, Interview mit Stephan Stracke)
Wirklich zu stören scheint dies die rot-grüne Bundesregierung jedoch nicht, bei ihrer Bestellung Lambsdorffs zum deutschen Interessenvertreter, vielleicht empfahl diese Vergangenheit ihn aber auch dazu. Einspruch gegen seine Benennung erhoben nur zeitweise einige Überlebende, deren Stimme in der Debatte keine größere Beachtung geschenkt wurde. Vgl.: „Lambsdorff ist in seiner Funktion als Verhandlungsführer der Bundesregierung für uns als Überlebende untragbar. Wer Nazikriegsverbrecher trifft, unterstützt, ihre Kampagnen mitträgt und persönlich mit ihnen Veranstaltungen abhält, hat sich disqualifiziert für Verhandlungen mit den Überlebenden der Shoah, der Konzentrationslager und der Zwangsarbeit. Wir appellieren an die Verbände der Opfer, an die Anwälte, aber auch an die Politiker und an die öffentliche Meinung im In- und Ausland. Sorgen Sie mit uns dafür, daß Otto Graf Lambsdorff von der Bundesregierung aus den Verhandlungen zurückgezogen wird.“ (Presseerklärung, 22.8.99, unterzeichnet von: Esther Bejarano, Waltraud Blaß, Peter Gingold, Kurt Goldstein, Alfred Hausser, Gertrud Müller)
[29] vgl. hierzu auch Lambsdorffs Bemerkungen über Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft, z.B.: „Das schönste Vermeidungsargument präsentierte schließlich Graf Lambsdorff, des Kanzlers Unterhändler, als er erklärte, die ‚Beschäftigung von Arbeitern aus dem Osten‘ sei in der deutschen Landwirtschaft eine ‚natürliche historische Erscheinung‘ gewesen.“ (Die Zeit Nr.46, 10.11.99, S.1)
[30] zusammengestellt aus.: Fokus Nr.40, 4.10.99, S.28; Franziska Augstein: „Der Zwangsarbeiter - Otto Graf Lambsdorff verhandelt für Deutschland“, FAZ vom 7.3.00, S.49
[31] Götz Aly: Entschädigung ohne Ende?, BZ, 2.3.00, S.4; vgl.: „Mit Wahrheit muss der Industrie dann keiner kommen. Das Konkrete buchstabiert sie als Schlussstrich - unter eine das Image schädigende Lästigkeit.“ (FR, 24.3.00, S.3); BZ, 8.3.00, S.6; Spiegel Nr.32, 9.8.99, S.34-46
[32] FAZ, 14.12.1998: „Wir brauchen eine neue Sprache der Erinnerung.“
[33] Salomon Korn: FAZ, 1. 12. 1998. Bubis’ Stellvertreter Salomon Korn und der Walser-Laudator Frank Schirrmacher waren beide bei dem Treffen am 14.12.98 anwesend und Korn richtete dieselbe Frage an Walser wie Bubis, als dieser sich wiederholt hinter seinem literarischen „Sprachmenschentum“ zu verstecken suchte: „Herr Walser, Ihre Bemerkungen sind ja nicht im luftleeren Raum, sondern in einer bestimmten Atmosphäre, in einer bestimmten politischen Situation erfolgt, zu einer Zeit, in der gegenüber Banken, Versicherungen, dem Staat und Konzernen Ansprüche gestellt werden. Zu einem solchen Zeitpunkt wird eine solche Bemerkung nicht nur auf den literarischen Zusammenhang beschränkt bleiben können.“
Walser: „Aber Herr Korn, dann hätte ich diese Zusammenhänge doch genannt. Ich habe doch klipp und klar genannt: das und das und das. Und habe nichts darüber hinaus gemeint. Warum hätte ich dann nicht von Banken und Versicherungen sprechen können. Sagen Sie mir mal bitte, warum ich das nicht hätte nennen können. Ich muss sagen, ich könnte davon nicht sprechen, weil ich diese Zusammenhänge nicht konkret kenne, verstehen Sie. Ich kenne nicht die Berechtigungen, ich kenne nicht die Widersprüche. Dass ist einfach nicht mein Thema. Und auch in den tausend Briefen, die ich bekommen habe, hat sich kein einziger zu diesem Thema geäussert.“
Bubis: „Aber bei mir.“
Korn: „Ich habe die fünf Ordner mit diesen Briefen an Bubis gesehen.“
Es war geplant, einen Band mit diesen Briefen an Walser und Bubis zu veröffentlichen. In einem persönlichen Gespräch erzählte Bubis davon und verriet, dass es kein Buch mit 12 Briefen an Walser und 12 Briefen an Bubis geben werde, sondern mit 24 Briefen an Walser, davon 12 an beide. Damit wäre auch Walsers wiederholte Behauptung, diese Briefe seien alle von astreinen Leuten und keinem einzigen Antisemiten gekommen widerlegt worden.
[34] vgl. Jungle Word 24/00
[35] Horkheimer, Max: Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung, Frankfurt 1974, 200 f.
[36] Die rhetorische Figur des „Unsagbaren“ hat Roland Barthes schon in den fünfziger Jahren in seiner Kritik der gängigen (Literatur- und Theater-)Kritik als „stumme und blinde Kritik“ verspottet, die darin besteht, „den Gegenstand der Kritik für unsagbar zu erklären und die Kritik darin für überflüssig. ... Niemand ist militaristischer als <der>, der für das dichterisch Unsagbare plädiert.“ in: Barthes, Roland: Stumme und blinde Kritik, in: Mythen des Alltags, Frankfurt 1964, 33
[37] Horkheimer, Max: Die Juden in Europa, in: Gesammelte Schriften Bd. 4, Schriften 1936-1941, Frankfurt 1988, 308-9
[38] Adorno, Theodor W.: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute, in: Vermischte Schriften I, Frankfurt 1997, 362
[39] „Moral verjährt nicht“, Interview mit Ignatz Bubis in: DER SPIEGEL, „Ist die Schuld verjährt?“, 30.11.1998
[40] vgl. die Umfrage des American Jewish Committee: Atkinson, Rick: Intolerance High Among Germans, in: International Herald Tribune, 8.3.94
[41] SPIEGEL-Interview mit Bubis, a.a.O.
[42] Der erste, der es einmal offen und öffentlich rausliess, war CSU-Abgeordnete Hermann Fellner, der 1987 verlautbarte: „Die Juden melden sich schnell zu Wort, wenn irgendwo in deutschen Kassen Geld klimpert.“ Doch blieb es während der Walser-Debatte dem Ex-RAF-Anwalt und neuen Neonazi-Agitator Horst Mahler vorbehalten, in der rechtsextremen Presse die Verbindung von ‘Geld’ und ‘Juden’ im deutschen Bewusstsein in Erinnerung zu rufen. In einem offenen Brief berief er sich dabei ausgerechnet auf den jungen Marx: „Karl Marx, selbst Jude und Sproß einer Rabbinerfamilie, schrieb: "Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.“(MEW 1/373).“ in: Junge Freiheit, 50/98: Geben Sie Gedankenfreiheit, Sir. Ein offener Brief an Ignatz Bubis von Horst Mahler.
[43] Kathi-Gesa Klafke: „Eine deutsche Studentin wehrt sich!“ in: DER SPIEGEL, 18.10.1998. Der Text wurde zum „Manifest der dritten Generation“ erklärt.
[44] „Wir sind alle verletzbar“ in: DER SPIEGEL, 30.11.1998
[45] s. Anschlag auf Galinskis Grab im Dezember 1998, die Verwüstung des jüdischen Friedhofs in Weißensee am 3. Oktober 1999, Anschlag auf die Erfurter Synagoge am 20. April 2000.
[46] vgl. Derrida, Jacques: Signatur Ereignis Kontext, in: Randgänge der Philosophie, Wien 1999
[47] Das liebgewonnene Klischee des leidenden passiven Opfers war von Anfang an problematisch, hatte es doch den Effekt einer Derealisierung jüdischer Erfahrung von Widerstand und barg gleichzeitig den insgeheimen Vorwurf, die Opfer hätten sich wehren müssen. Damit wurden die jüdischen Opfer zur passiven Masse des deutschen Projektionswillen, in dem die Zurichtung und Entsubjektivierung der Opfer durch die Nazis stillschweigend übernommen wurde.
[48] Götz Aly: Das Prinzip Wassersuppe, Berliner Zeitung, 3.2.00
[49] Der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Kuczynski in seiner Studie:„Um diese Summe <von 180 Milliarden DM> in eine richtige Relation zu stellen, sei daran erinnert, dass allein das Nettogeldvermögen aller Haushalte dieses Landes auf fünf bis sechs Billionen zu schätzen Mark zu schätzen ist. Davon besitzen die obersten zehn Prozent etwa die Hälfte. Ohne auch nur einen Blick auf das Sachvermögen zu werfen, ist zu sehen, dass die 180 Milliarden, von denen die Rede ist, etwa 3 bis 4 Prozent des gesamten Geldvermögens ausmachen, 7 Prozent von dem, was das oberste Zehntel allein an Geldvermögen verfügt.“
[50] Es kam zu einer „assoziativen Verschmelzung von Antisemitismus und Sozialkritik“ [50] , Judentum und Geldwirtschaft (s.o.): ‘Die Juden’ wurden zu einer gesellschaftlichen Metapher. Clifford Geertz hat ‘Ideologie’ als ‘kulturelles System’ beschrieben, das als sprachliche Operation funktioniert, indem Codes produziert, neue Metaphern geschaffen werden: „Die Kraft der Metapher ergibt sich aus dem Zusammenspiel der von der Metapher symbolisch in einen einheitlichen Begriffsrahmen gezwungenen diskordanten Bedeutungen und dem Grad, in dem es dieser metaphorischen Gewaltsamkeit gelingt, den seelischen Widerstand zu brechen, den eine derartige semantische Spannung zwangsläufig in jedem auslöst, der sie wahrzunehmen vermag. Wenn es gelingt, transformiert die Metapher eine falsche Identifikation ... in einen treffenden Vergleich; wenn sie daneben geht, ist sie pure Übertreibung.“ [50] In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte der Antisemitismus allmählich zur ‘Deutschen Ideologie’ werden, weil die Parole „Die Juden sind unser Unglück!“ endlos wiederholt wurde, so dass die ‘seelischen Widerstände’ gebrochen und die Metapher durchgesetzt werden konnte. So wurden im 20. Jahrhundert Hitlers Reden nicht mehr als ‘pure Übertreibung’ und pathische Projektion dechiffriert, sondern fielen auf fruchtbaren Boden.
[51] Barthes, Roland: Mythen des Alltags“, Frankfurt 1964, 112-113
[52] vgl. Kunstreich, Tjark: Subjekt, Opfer, Prädikat, KONKRET 1/99
[53] Jacob, Günther: Stille Post II, KONKRET 3/99. Desweiteren: KONKRET 2/99, 4/99, 7/99, 9/99
[54] FAZ, 16.12.99, S.1
[55] FR, 10.11.’99. Hinzuzufügen ist: In den ehemaligen Ostblock-Länder wurde während der Zeit der Blockkonfrontation überhaupt kein Geld für Überlebenden gezahlt vom Erben des Nazistaates, der BRD. Dafür bekommen Kriegsverbrecher und Kollaborateure der Deutschen, die im Dienste der Wehrmacht oder der SS Menschen versklavten oder ermordeten, umso mehr. Als durch Recherchen der Panorama-Redaktion offenbar wurde, dass z.B. in Lettland über 300 Angehörige der Waffen-SS eine „Beschädigtenrente“ erhalten, hingegen die überlebenden Opfer des NS überhaupt nichts, führte das eben nicht dazu, dass die Rentenzahlungen an die SS-Leute eingestellt wurden. Statt dessen wandten sich Dutzende Angehörige der Waffen-SS an die deutschen Versorgungsämter, um Anträge für Renten zu stellen. Sie hatten sich bisher offensichtlich nicht getraut, sich als Nazi-Kollaborateure zu outen und nahmen die kritische Fernsehsendung jetzt zum Anlass, ihre Anträge einzureichen. Das entsprechende Versorgungsgesetz ist, anders als das ‘Entschädigungsgesetz’ für Opfer, niemals geschlossen worden! Da lief keine ‘Frist’ ab, so wie das für die Opfer oft der Fall war: für sie war es erst fünfzig Jahre lang ‘zu früh’, und plötzlich ‘zu spät’. Gegenüber dem Volumen der Täterversorgung von 13 Milliarden DM stand eine einmalige Schadensersatzzahlung von 1 Milliarde DM für die Länder der früheren Sowjetunion. (Wie die Fernseh-Dokumentation zeigte, führt die Altersversorgung der Täter und die Armut der Opfer in diesen Ländern dazu, dass z.B. ein ehemaliger SS-Mann einem ehemaligen KZ-Häftling im Wirtshaus einen ausgibt.)
[56] Die einzige bundesweite Solidaritätsdemonstration mit den Überlebenden fand am 16.12.1999 in Frankfurt/ Main mit 500 Personen statt. Kurz zuvor war der „Durchbruch“ in den Verhandlungen verkündet worden. Michael Hausfeld, der seine Teilnahme an der Demonstration angekündigt hatte, fuhr stattdessen zu Lambsdorff nach Berlin. Während der Demonstrationszug einige Aufmerksamkeit der internationalen Presse erfuhr, wurde sie nicht mal im Lokalteil der FR erwähnt...
[57] „Die respektablen Rackets unterhalten ihn <den Antisemitismus>, und die irrespektablen üben ihn aus.“ Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, a.a.O., 179
[58] Paul Spiegel: Alarmsignal Erfurt, in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung Nr. 10/2000, 11.5.00, S.2
[59] Allgemeine Jüdische Wochenzeitung Nr. 10/2000, 11. Mai 2000, S.3
[60] FR, 7.6.00, S.1
[61] Jankélévitch, Vladimir: Le Pardon, Paris 1998 nach: Derrida, Jacques / Wieviorka, Michel: Jahrhundert der Vergebung in: Lettre International Nr. 48/2000, vgl. hierzu auch die Aufforderung von Israel Singer: „We were close to collaps but we pulled it off,‘ said Israel Singer, the chief negotiator for the Jewish Claims Conference, ‚This is late in the day, and perhaps it‘s little, but it‘s something. What would be welcome now would be a German statement spelling out the moral dimension of this accord.“ International Herald Tribune, 24.3.00, S.4
[62] Derrida, a.a.O. (Walter Benjamin drückt es in theologischen Begriffen aus: „Wahre Versöhnung gibt es in der Tat nur mit Gott.“ in: Goethes Wahlverwandtschaften, Gesammelte Schriften I 1, Frankfurt 1978, 184)
[63] Emmanuel Levinas: Dem Anderen gegenüber, in ders.: Vier Talmud-Lesungen, Ffm 1993, S.23-55, hier S.47, etwas später äußer sich Levinas noch zum Unterschied zwischen Beleidigungen mit Worten und mörderischen Taten, inbezug auf die deutsche Vergangenheit: „Da Sie mir noch einige Minuten zugestehen, werde ich von ihr, wo nicht von Morden, sondern von verbalen Angriffen die Rede war, eine tragischere Situation heranziehen, in der die Vergebung einen höheren Preis kostet - falls es überhaupt möglich ist sie zu erlangen.“ S.48, ebenfalls S.48: „Vielen Deutschen kann man verzeihen, doch es gibt Deutsche, denen man nur schwer verzeihen kann. Es fällt schwer, Heidegger zu verzeihen.“ oder S.52: „Die Kinder für die Fehler der Eltern zu strafen, ist weniger schrecklich, als zuzulassen, daß die Strafe ausbleibt, wenn ein Fremder Unrecht erleidet.“