nacht-räume



Mackie Messer

Senckenberganlage

Der abgerockte Kellerclub liegt zwar direkt gegenüber der Uni, lockt aber wenig studentisches Publikum an. Razzien gibt es selten, obwohl hier immer Drogen konsumiert werden, obwohl viele Halb- und Illegale verkehren und regelmässig professioneller Verkehr angebahnt wird. Die DJs legen keinen Wert auf virtuose Mixe, sie spielen die Stücke komplett aus, mit langen Intros und ausladenden Mittelteilen, in denen die Percussions lange allein bleiben – eigentlich mixfreundlich. Oft läuft »Get ready« von Rare Earth oder Tracks von Colosseum, Yes oder Steve Miller. Wann immer ich mir ein Stück wünsche wird es nicht gespielt. Trotzdem bleibe ich meistens bis zum Morgengrauen, ohne mit einem Menschen zu reden, außer mit dem Kellner. Dabei kann ich mir oft nur ein Bier leisten, daran halte ich mich zwei, drei Stunden fest und sehe den tanzenden Leuten zu. Selbst tanze ich nie. Viele tragen Lederjacken, Lederhosen oder Lederwesten, meistens schwarze aber auch weiss und hellblau sieht man öfters. Die meisten Männer haben lange Haare und geben sich eindeutig heterosexuell, gerne ein bisschen gewalttätig. Zwar wird vor der Tür auch gekifft, die beliebteste Droge ist aber eindeutig Kokain. Politleute aus dem Viertel sieht man hier selten. Zu essen gibt’s nichts, das Drinkangebot entspricht dem ortsüblichen Mittelmass. Kein Ort der Freude. Ein Ort, den Tilman Rossmy sicher kennt, aber kein Ort, an dem sich Tilman Rossmy wohlgefühlt hätte, so wie er sein 1975 in dem gleichnamigen Song der Essener/Hamburger Band Die Regierung beschreibt: »1975 – Du magst keine Polizisten, du magst keine Männer in Anzügen und du haßt dieses ganze Schweinesystem … du siehst aus wie der junge Brian Eno, du schläfst mit Männern, du schläfst mit Frauen, und du schläfst mit jedem, der mit dir schlafen will … du flirtest mit Heroin und du hörst diese geile neue Band - (klatsch, klatsch) - Supertramp« (»1975«, Die Regierung, 1993)


Kolb Keller

Beethovenplatz

Schön platziert im Dreieck zwischen Palmengarten, Institut für Sozialforschung und dem Landesverband des Deutschen Roten Kreuzes steht das nach dem ehemaligen Frankfurter Oberbürgermeister Walter Kolb, einem ebenso begabtem wie beleibten Schwimmer ohne Haare auf dem Kopf, benannte blauweisse Haus. Kolbkeller heißt der sonntags von Null Uhr bis zur Gottesdienstzeit geöffnete Vergnügungskeller einer Studentenwohnheim genannten Baumassnahme der Sechzigerjahre, deren Ziel es war, auf möglichst wenig Raum möglichst viele Immatrikulierte zu inkorporieren. Ziel erreicht, Belegung maximal.

Der Keller des Wohnheims – in einem späteren Leben Günter Saré-Keller – ist eigentlich der ideale Ort für darkeste Drum´ n´ Bass Sets. Ein schummrig beleuchteter Bar-Raum (Apfelwein, Bier, Cola, Wasser) grenzt an einen meist gänzlich unbeleuchteten Raum. Manchmal brennen zwei, drei Kerzen oder eine nackte Glühbirne. Zu späterer Stunde sammeln sich auf dem Linoleum-Fußboden Glasscherben sowie eine Brühe aus Apfelwein, Bier, Cola und Wasser, die in diesem oder jenem Aggregatszustand auch in den sanitären Anlagen vorzufinden ist, bei den Frauen weniger als bei den Männern. Außerdem hat der Keller eine große Anziehungskraft auf Abweichler, Freaks und Minderheiten aller Art, was manchmal zu Schlägereien, manchmal zu Orgien führt. Meistens bleibt es friedlich und öd, was auch an der Musik liegt, die partout nicht gelingen will. Nicht nur, dass die Auswahl der DJ´s häufig schiefginge. Mancher DJ hat nur drei Platten dabei oder die Anlage geht kaputt oder es steht nur ein Plattenspieler zur Verfügung. Oder alle drei Probleme treten gleichzeitig auf. In den Kolbkeller geht man, weil man sonst nirgendwohin gehen kann, weil man nicht ins Bahnhofsviertel geht oder an den Flughafen. So entwickelt sich, je später der Morgen desto mehr, eine Art Überlebenskampf-Spirit. Genau: Smells like survival camp spirit. Here we are now, entertain us.

Die 93

Bockenheimer Landstraße 93

Der DJ in dem feuchten Kellerloch heißt Johnny Klinke. In einem früheren Leben war er Currywurstverkäufer in Berlin, in einem späteren Leben Varietébesitzer und Werbe-Pinup für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. In der 93 ist er DJ und spielt am liebsten: (I can´t get no) Satisfaction. Nicht die refrainlose Version von Catpower. Satisfaction läuft jeden Samstagabend drei, vier Mal, ebenso die Doors und Ton, Steine, Scherben. Türen, Steine, Scherben eben. Dass Rio Reisers Scherbenhit »Komm, schlaf bei mir« an einen Mann adressiert ist, wollen hier nicht alle wissen. Die 93 kostet keinen Eintritt, schließlich ist es der Keller eines besetzten Hauses auf der prachtvollen Bockenheimer Landstraße. Aus den Fenstern wehen schwarzrote Fahnen zum Lob der­ ­Anarchie. In einem späteren Leben hängt gegenüber das Transparent des Literaturhauses. Manche Ex-Bewohner der 93 verkehren jetzt hier, einige wenige Ex-Bewohner halten hier Lesungen ab. Es gibt keine Türsteher in der 93. Trotzdem kommt nicht jeder rein. Normale Leute hätten Angst, über die dunkle Treppe in den dunklen Keller zu gehen, um unfreundlichen bis feindseligen Menschen warmes Flaschenbier abzukaufen. Wenn normal aussehende Leute reinkommen, riskieren sie, für Zivilpolizisten gehalten und dementsprechend behandelt zu werden. Keine Angst zu haben in der 93 ist ein Privileg, das sich dem Dazugehören verdankt. Dazugehören wollen alle. Zum inner circle der nachnamenlosen Fighter mit bestimmtem Artikel: der Matthias, der Johnny, der Kleinklein, der Raoul, der Dany, der Joschka. Selten war ich so stolz wie in jener Samstagnacht vor der 93 auf der Bockenheimer Landstrasse als ich von einem Lederjackentyp gefragt wurde: du bist doch im RK, oder? Für den Revolutionären Kampf gab es keinen Mitgliedsausweis. ­Dazuzugehören, das war eine Frage des Sozial­prestiges. Das konnte man sich durch langjährige Kärrnerarbeit im revolutionären Alltag erwerben. Nachts um eins Plakatekleben, morgens um fünf vor dem Opel Flugblätter verteilen, samstags um elf ­Bullenverprügeln auf der Zeil. Attraktiver und schneller für einen jungen Typen war der andere Weg in den RK: Ins Bett mit den schönen Frauen des RK. Dann wurde man Ernst genommen in der 93.

1975

Klaus Walter