»Hier wird Wissen Wirklichkeit«

Kuck mal, wer da spricht - Ein ganz, ganz echte Wirklichkeit von Alfreda von Sinnen und Nico Hausmeister


Die Universität Frankfurt hat ein neues Briefpapier bekommen!

Besonders schön: In der letzten Zeile ein frischer Slogan: »Hier wird Wissen Wirklichkeit«. Den MitarbeiterInnen der Universität sollte dieser alliterale Erguss jedoch kein seltsames oder auch belustigendes Rätsel bleiben, wurde ihnen doch sogleich in der nächsten Uni-Intern die Auflösung dieser kniffeligen Frage stolz in einem präsidialen Aufruf präsentiert:

Alle Universitätsmitglieder sollen angesichts der vielen Angriffe von außen (dem bösen Außen, das sie nie richtig verstehen will) durch die Verwendung des exquisiten neuen uniformierten Briefpapiers Geschlossenheit demonstrieren.

Die Universität insgesamt betreffend fällt Selbsthilfegruppe erfahrenen LeserInnen die Diagnose schon lange denkbar leicht: Ein neurotischer Knast mit vielen Windmühlen. Doch was mit diesem Gebot darüber hinaus gemeint sein mag?

Die/der professionelle FragerIn (WissenschaftlerIn) setzt sich also erst mal brav und ungefährlich an einen Computer und schaut, ob die Internetpräsentation der ehrwürdigen Universität der quälenden Ungewissheit ein Ende bereiten kann. Auf der Startseite ... nichts ... und auch nach einer halben Stunde intensiven Forschens immer noch nichts außer einem gesperrten Link zum Briefpapierdownload, der allerdings offenbar nur für Auserwählte zur Verfügung steht.

Bleibt angesichts der gähnenden Informations-Leere die leninsche Frage: Was tun? Bleibt nur, selbst zu denken, was die Universitätsleitung gemeint haben könnte. Warum, warum nur macht sich die Frankfurter Universität einen so aberwitzigen Leitspruch zur Maxime und schreibt ihn dazu noch auf ihr Briefpapier? Hier wird Wissen Wirklichkeit: Möglich wären viele Antworten...

Variation Graswurzel

Die Universitätsleitung will zeigen, dass mann! verstanden hat (jawohl!), dass es sich beim Wirklichkeit werden immer schon um einen durch und durch naturwüchsigen Prozess handelt, der ohne irgendjemandes zutun geschieht. Durch Frankfurter ProfessorInnen, MitarbeiterInnen und Studierende wabert Wissen zur Wirklichkeit (WWW?). Das Wissen will einfach ganz von selbst Wirklichkeit werden; der Wirklichkeit Wille bricht sich in freier Wildbahn seinen Weg durchs Gestrüpp und erblüht in vollem Glanz. Ist doch ganz natürlich... Weltgeist goes university.

(Oder vielleicht nicht ganze ohne jedes Zutun: Ohne Gießen, Düngen und Schädlingsbekämpfungsmittel kein fetter Kohl und keine prächtige Sonnenblume... Puh.)

Variation Zielvereinbarung

Wissen soll Wirklichkeit werden. Ein wirklich frommer Wunsch der ehrwürdigen Universitätsleitung. Das Ganze, da sie anscheinend wissen (woher wohl?, siehe auch Variation Graswurzel), dass dem zur Zeit nicht so ist. Es kann sich hierbei allerdings selbstredend nur um ein temporäres Problem handeln, welches natürlich bald anhand von geschickt arrangierten Zielvereinbarungen, imponierendem Wissenschaftssommer, ultrawichtigem 90tem Geburtstag und den Wunderheilern Mc Kinsey behoben sein wird. Wichtig ist vor allem, dass wir die Chancen sehen, wahrnehmen und dann in jedem Fall zusammenstehen. Komme, was da wolle. Opferungen in Form von ehrenvollen Selbstaufgaben – gern auch ganzer Fachbereiche – ausdrücklich erwünscht! Wissen soll Wirklichkeit werden. Und wenn nicht heute, dann auf jeden Fall übermorgen! Wa(h)re und ehrgeizige Ziele vor Augen haben – das bedeutet die Welt, das bedeutet Zukunft! Und ohne Ehrgeiz keine Vision, nur so klappt die »Reform mit System«. (Nur kleine gallische Dörfer leisten noch erbitterten Widerstand.)

Variation Häusle baue

Am wirklichsten sind immer noch Steine. Deswegen weg mit den verrotteten Bauten in Bockenheim und alles ganz neu und in Hochglanzformat! Wenn Karl-Heinz (Finanzminister und Saunafreund) Paläste bauen will (House of Finance auf dem Campus Westend – hat da etwa jemand IG-Farben gesagt?!), dann doch bitte unsere Wissenspaläste. Darin und vor allem damit kann Wissen dann höchst effizient(e) Wirklichkeit werden. Schaffe, schaffe, Häusle baue. Wenn alles schief geht mit dem Wettbewerb, dann haben wir wenigstens die und Karl-Heinz kann, wenn er denn doch mal pensioniert ist und so alt wie sein Denken wird, über den neuen Hochglanz-Campus schlendern und sein Lebenswerk bewundern (Zitat Universitätspräsident Steinberg im CoAE (Center of Accelerating Excellence)).

Und übrigens: Alle die, die einige Quadratmeter Büroraum auf dem graziösen neuen Campus in Anspruch nehmen wollen: Kämpft! Kämpft um die besten Plätze, die schönsten Fenster und die Nähe zur Teeküche! (siehe auch: Variation Wettbewerb).

Variation Wettbewerb

Nur die Harten kommen in den Garten und das hat schon Darwin gesagt! (Auch Juraprofessoren waren schon im Zoo). »Stärken stärken – anderes anderen überlassen« (Universitätspräsident Steinberg), so werden wir so stark wie unser großer Bruder Harvard.

Was deutsche Universitäten brauchen, gibt uns das Gesetz des Marktes vor (auch wenn der in Wiesbaden liegt, oder ohrenbetäubend aus dem Beirat von Wirtschaft und Politik flüstert (nennt sich dann auch Hochschulrat)). Damit alles besser wird, konkurrieren wir jetzt auch auf allen Ebenen gleichzeitig (wir sind so unerreicht multilateral, dass wir manchmal selbst in Andacht zu uns aufblicken, ach nein: an uns herunterschauen!): Intern die Fachbereiche um die Mittel, extern ... ja das wissen wir eigentlich auch gar nicht so genau, wir verkaufen bisher zumindest schon mal Tassen und Goetheköpfe (aber die sind echt abgründig schick). Ach, ja und die neue GmbH Campuservice vermietet unsere Räume, Hauptsache es kommt endlich mal Kohle rein. Und dann müssen sich die schläfrigen Geistes- oder SozialwissenschaftlerInnen mit ihren ewig nervenden Veranstaltungen ausnahmsweise eben mal anstrengen und sich mit externen Veranstaltern messen – die Konkurrenz schläft nicht! Und gewisse Fachbereiche haben wir schließlich lange genug verwöhnt, ohne dass was gescheites dabei rausgekommen wäre. Deshalb wird jetzt alles leistungsorientiert (das ist unser neues Lieblingswort und heißt so was ähnliches wie Wettbewerb): so bekommen die Fachbereiche eine Prämie für jedeN StudierendeN, die/der in der Regelstudienzeit fertig wird. Nicht blöd, haben wir doch gewissenhaft aufgepasst, dass das auch die richtigen Fachbereiche sind (wer denkt hier an Böses); denn baulich lässt sich einiges dafür tun (in (Turm-)Ruinen studiert’s sich halt nicht so fix...). Zusätzlich haben wir uns (das Präsidium, wer sonst) Mittel zur Innovationsförderung bereitgestellt, die wir immer schön denen geben, die endlich gelernt haben, genau nach unseren Vorstellungen zu handeln – und da werfe uns noch jemand Schwerfälligkeit vor! Das ist Innovation!

International ist der Wettbewerb auch enorm wichtig! Wir müssen verdammt noch mal einfach besser aussehen als all die anderen Universitäten (dafür haben wir eine neue Internetpräsenz und ein neues, geiles Logo, das uns alles viel Geld gekostet hat (über 100.000€ siehe unseren Rechenschaftsbericht)– aber eins ist klar: Es hat sich gelohnt!). Und unter uns gesagt: Wer will denn schon in der Provinzstadt Marburg oder so studieren – die Stärken für uns, den Anderen den Rest. Die wirklich exzellentesten WissenschaftlerInnen, die begreifen, dass sie bei uns viel Geld, Prestige und geradezu väterliche Förderung bekommen und sich gleichzeitig darüber klar sind, wo die Grenzen zwischen Erlaubtem und Unschönem verlaufen, kommen dann ganz von selbst zu uns. Und diese Nervensägen, die meinen, sich ständig in Dinge einmischen zu müssen, die sie nun gar nichts angehen, können wir hier nicht gebrauchen. Alle sollen einfach nur und genau in dem Bereich, für den wir sie beriefen, Exzellenz beweisen, so einfach ist das.

Nur so kann Wissen wirklich Wirklichkeit werden! Und was nicht wirklichkeitstauglich ist, wird eben radikal wegkonkurriert, so ist das Leben eben...

Variation Heimat

Frankfurt ist die Heimat der Banken an sich! Wir müssen die Universität nur erwecken, damit es alle begreifen und die Universität mit der Stadt auch die Heimat der Banken für sich wird. Die Europäische Zentralbank ist doch ein so schöner Wettbewerbsfaktor, den müssen wir nutzen (schade eigentlich, dass die D-Mark abgeschafft wurde). Die stiftet so schön mit der Deutschen Bank, auch Professuren und so. Eigentlich haben wir den Wettbewerb damit schon lange gewonnen. Wir müssen nur das Netzwerk der Alt-Studierenden (Alumni, was auch immer diese Abkürzung heißt) fördern, dann vergessen die bestimmt den knallharten Wettbewerb in ihren Unternehmen und helfen uns indem sie uns was von ihrem Gewinn abgeben, ganz bestimmt! Wenn es uns gelingt, den Universitätskörper gegen verschusselte TheoretikerInnen und ihre verweichlichenden Theoriespielchen zu immunisieren, bekommt auch niemand hier mehr komische Ideen und verpestet unsere fröhliche hessische Atmosphäre mit theoristischem Gedankengut.

Das sich ein Verband der Heimatvertriebenen der Frankfurter Schule gegründet hat, da können wir doch auch nichts für. Endlich muss doch mal die Vergangenheit vergangen sein, und wir Enkel können doch nicht für alles verhaftet werden! Wir haben dem Adorno schließlich auch ein so schönes Zentrum für Vertreibung hinter Glas gebaut (auf dem Adornoplatz, sieht doch jedeR). Puh, was ein Glück, dass da kein Haus von uns dransteht. Wir sind die Guten, verdammt!

Variation Dienstleistung

Und kommen wir schließlich zu der wichtigen Funktion, die die Universität in unserer Gesellschaft inne hat: Die Universität soll einen Zweck erfüllen. Die deutschen Untenehmen brauchen leistungsfähige Arbeitskräfte - der Wirtschaftsstandort Deutschland liegt uns allen doch sehr am Herzen – und unser bescheidener Auftrag in dem Ganzen ist es, diese flexiblen und innovativen Arbeitskräfte heranzuziehen. Diesen Dienst an der Gesellschaft zu leisten, ist unser ausdrücklich erklärtes Ziel. Eine ganz besondere Rolle dabei spielen natürlich wie stets die Wirtschafts- und Rechtswissenschaften. Was die schaffen, ist einfach beeindruckend und viel wirklicher als sämtliche geisteswissenschaftlichen Spitzfindigkeiten, die sowieso außerhalb der Uni keiner Sau etwas nützen und infolgedessen auch niemanden interessieren dürften. Bei den Naturwissenschaften sieht die Sache zum Teil anders aus: Physik, Chemie und Biologie produzieren eben die Wissenstechnologie, die wir alle brauchen und auf der unser aller Fortschritt beruht.

Am besten ist es doch, wenn hier bei uns das Wissen Wirklichkeit wird, was wir hier in Frankfurt und in Deutschland brauchen. Und das sind sicherlich keine arbeitslosen und griesgrämigen MiesmacherInnen und GesellschaftsnörglerInnen! Wir ziehen hier das Personal der oberen Chefetagen heran, damit da draußen im wahren Leben besser ausgebeu-, äh pardon: Wissen angewandt werden kann. Das war ja eigentlich schon immer so, aber die Zeiten ändern sich und wir haben sogar den ehrgeizigen Anspruch, der Zeit ein klein wenig voraus zu sein. .

Natürlich haben wir bei aller Liebe nicht für alles Geld, aber mal ganz ehrlich: Ist jemand schon mal von der Literatur im Saarland im 18. Jahrhundert satt geworden? Wer das nicht wahr haben will, der ist doch von gestern. Wir sind die DienstleisterInnen für die Gesellschaft, in der wir leben und in der wir unsere Kinder aufziehen, schließlich bezahlt die uns doch auch. Hier wird Wissen Wirklichkeit.

Variation Nike

Was soll die Frage, Nike wird schließlich auch nicht gefragt, was mit »Just do it« gemeint ist. Werbeagentur und Marktforschung haben bewiesen: Genau das wirkt!