Im folgenden Text handelt es sich um ein Experiment, in dem drei Paare in idealtypischer Weise auf ihre klassenspezifische Konstitution hin beobachtet werden. Dabei werden alle Klischeeregister gezogen, die zur Verfügung stehen. Die Begrifflichkeiten von Pierre Bourdieu geben den Rahmen dafür vor. Er hat versucht, den marxistischen Klassenbegriff um die gesellschaftliche Komplexität von verschiedenen sozialen Ungleichheiten zu erweitern. Verschiedene Klassenlagen reproduzieren in sich je variierende Vergeschlechtlichungen, deren Unterschiedlichkeiten zu betrachten sind. Im vollen Bewusstsein, dass hier gängige Klischees bedient werden und andere Lebensformen als heterosexuelle Zweierbeziehungen nicht repräsentiert sind, soll damit gezeigt werden, dass es nicht immer das gleiche heißen muss, als Frau oder Mann sozial konstruiert zu sein.

 

Ehepaar A. – sie arbeitet als Lagerarbeiterin und er als Lagerverwalter – wohnt in einer 2-Zimmer-Genossenschaftswohnung und hat zusammen ein Haushaltsnettoeinkommen von 2000 Euro, das als eine Form ökonomischen Kapitals zu verstehen ist. Sie hat einen Volksschulabschluss gemacht, jedoch aufgrund der Geburt des Sohnes ihre Ausbildung abgebrochen und nie mehr fortgesetzt bzw. beendet. Er hingegen hat nach bestandener mittlerer Reife einen Abschluss, staatlich institutionalisiertes legitimes Kulturkapital in Form von Titeln, zum Groß- und Außenhandelskaufmann gemacht. Sie fahren an jedem Wochentagmorgen gemeinsam mit ihrem kleinen Fiat zur Arbeit, er setzt sie an ihrer Arbeitstelle ab, sammelt sie nach Feierabend wieder ein, um anschließend gemeinsam einkaufen zu gehen. Da er überwiegend am Lenkrad sitzt, kommt es immer wieder zu großen Spannungen und heftigem Streit, weil sie seit ihrem 20. Lebensjahr einen Führerschein hat, aber im Alltag selten das Auto fahren darf. Im Einkaufswagen landen einfache Produkte wie Nudeln, Kartoffeln, Hackfleisch, Schnitzel, Blumenkohl u. ä. Charakteristisch für diese Lebensführung ist der illegitimeNotwendigkeitsgeschmack, der vor allem – auch aus ökonomischer Not – zur alltäglich notwendigen Reproduktion der Arbeitskraft beiträgt. Zu Hause angekommen, macht sie sich meistens direkt auf den Weg in die Küche und bereitet überwiegend alleine das Abendessen für die dreiköpfige Familie vor. Sie ist die Köchin, denn das ist nicht so sein Ding, sagt er. Jedoch unterstützt er sie je nach Fähigkeiten durch Zuarbeiten wie Gemüse waschen und schneiden etc. Das geschlechtsspezifische Kochen ist Ausdruck der traditionellen Arbeitsteilung und zeigt sich noch in anderen Bereichen der alltäglichen Reproduktionsarbeit im Haushalt. Die Arbeitsteilung ist allerdings als komplementär anzusehen, da sie sich wechselseitig nach Kompetenzen ergänzen und keine geschlechtshierarchischen Bewertungen zu existieren scheinen. Reproduktionsarbeit wird von beiden als Arbeit angesehen, die verteilt werden muss; dies geschieht jedoch zumeist in traditioneller Art und Weise. Das Kochen und Essen hat den Charakter einer alltäglichen, liebevollen Sorge für die Nächsten, es wird fast nie als öffentliche Angelegenheit praktiziert, bei der Freunden, Bekannten und Verwandten etwas demonstriert wird.

Im Laufe des Abends landen sie häufig mit der ein oder anderen Flasche Bier und Tüte Chips oder Schokolade vor dem Fernseher und ziehen sich irgendeine Show wie Big Brother, die Sportschau oder einen Spielfilm rein, um am nächsten Tag in der Firma mitreden zu können. Beispielsweise ist seine Kenntnis, wer am Samstag um 17.13 Uhr das Siegtor der Spitzenbegegnung der Fußball-Bundesliga geschossen hat, notwendig für seine dauerhafte Anerkennung innerhalb des Kollegiums. Wenn er nicht mitreden kann, stellt er sich früher oder später ins Abseits.

Zur Reproduktion ihres sozialen Netzes treffen sie sich außerdem mit Freunden und Bekannten zum gelegentlichen gemeinsamen Kartenspielen am Wochenende, gehen zusammen auf Straßenfeste oder grillen sonntags gemeinsam. Ihre Zukunftsvorstellungen orientieren sich an der Aufrechterhaltung des Status quo und sind von Ängsten des Arbeitsplatzverlustes geprägt.

 

Paar B. lebt nach gescheiterter erster Ehe zusammen mit zwei erwachsenen Söhnen, die sie aus der ersten Ehe mit in die neue Beziehung gebracht hat. Heute ist sie, die einen Volksschulabschluss hat und gelernte Hauswirtschaftsgehilfin ist, Leiterin der Poststelle in einer großen Unternehmensberatung. Nach dem Abitur hat er ein geisteswissenschaftliches Studium begonnen, das er nicht beendet hat, und übt in dem gleichen Betrieb den Beruf des Programmierers aus. Ihr gemeinsames Einkommen bzw. ökonomisches Kapital (4500 Euro) ist so hoch, dass sie in einer großen 4-Zimmer-Wohnung leben können. Da sie beim gleichen Arbeitgeber sind, fahren sie nach dem gemeinsamen Frühstück mit ihrem VW Golf zur Arbeit hin und nach Feierabend zurück. Wenn sie von der Arbeit kommen, entscheiden sie nach Lust und Laune, ob sie zusammen noch etwas zu Essen kochen oder ob sie lieber Essen gehen. Das gemeinsame Kochen und Essen dient nicht einfach der profanen Ernährung, sondern auch als Medium des wechselseitigen Austausches und Sich-Verstehens. In Gesprächen und Diskussionen tauschen sie sich über persönliche Empfindungen bis hinzu Politik aus. Die zusammen hergestellten und verzehrten Mahlzeiten sind eine schöne Gelegenheit zum Sich-ineinander-Versenken in ihre Zweisamkeit.

Die anstehende Reproduktionsarbeit in ihrem Haushalt wie Wäsche waschen, Wohnung putzen, kochen usw. bewältigen sie mit ihrem egalitären Konzept von Hausarbeitsteilung, d.h. dass es keine inhaltliche Arbeitsteilung gibt. Mal kocht, putzt etc. der/die eine, mal der/die andere und die jeweils andere Person ist nicht beteiligt oder arbeitet der anderen zu. Sie bewerten die Aufgaben und Arbeiten im Haushalt nicht nach geschlechtspezifischen Kriterien. Dennoch ist es häufiger sie, die putzt oder aufräumt, weil es ihr einfach zu dreckig oder unordentlich ist. Somit ist die ungleiche Verteilung von der Reproduktionsarbeit, die trotz rhetorischer Gleichheit vorherrscht, nicht mehr auf einer geschlechterpolitischen Ebene, sondern auf einer persönlichen, geschmacklichen thematisierbar.

Ihr kleinbürgerlicher prätentiöser Geschmack bevorzugt die mediterrane Küche wie Pasta, abwechslungsreiche Salate und ihr beider Lieblingsessen ist Fisch. Zu ihren Speisen konsumieren sie meistens südeuropäische Weiß- und Rotweine wie Rioja aus dem Weinladen um die Ecke. Sein größtes Hobby ist Lesen, vor allem Schriften der antiken Philosophen. Sie hört lieber Musik. Ihre Lieblingsoperette legt sie jeden Sonntagnachmittag auf. Die Abende verbringen sie häufiger auch außerhalb der Wohnung. Sehr gerne gehen sie ins Kino oder auch schon mal ins Theater und inkorporieren in diesen Institutionen Kulturkapital, deren Inhalte sie in einer freundschaftlichen Runde bei einem gemeinsamen Abend z.B. in einem Weinlokal im Frankfurter Nordend präsentieren, aus-spielen können. Derartige Rituale ständig notwendiger Beziehungsarbeit mit Freunden und Bekannten an bestimmten Orten reproduzieren nicht nur diese Gruppe, sondern tragen auch zur Sicherung des gesellschaftlichen Status der beteiligten Individuen bei. Sie werden an diesen Orten mehr oder weniger von anderen Menschen wahrgenommen und (wieder-)erkannt, die ihnen ihre Anerkennung der Zugehörigkeit (in-)direkt zukommen lassen wie z.B. durch bestimmte Formen der gegenseitigen Begrüßungen.

Aufgrund der Illusion, eine sichere Arbeitsstelle inne zu haben und des Beziehungsmodells der lebenslangen Zweisamkeit, sparen sie für ein kleines Haus am Mittelmeer, um dort ihren Ruhestand zu verbringen.

 

Das Paar C ist ein Manager_innenpaar, das zusammen ein Einkommen von 11000 Euro hat und in einem eigenen großen Haus in einem noblen Stadtviertel wohnt. In der geräumigen Garage steht neben einem Mercedes noch ein Audi A6. Nicht nur, dass das Haus und die Autos Ausdruck von viel ökonomischem Kapital sind, symbolisieren sie noch zusätzlich den gesellschaftlichen Status und die Anerkennung ihrer Besitzer_innen. Sie ist Verwaltungschefin einer privaten Bildungseinrichtung und er ist Geschäftsführer einer mittelständischen Elektronikfirma. Beide haben nach dem Abitur ein Hochschulstudium abgeschlossen. Dementsprechend weisen sie viel kulturelles Kapital auf. Beim beruflichen Werdegang zeigt sich eine Geschlechterdifferenz der Chancenstruktur, ihr kulturelles in ökonomisches Kapital auf dem (Arbeits-)Markt zu transformieren. Der Manager konnte in drei Karriereschritten zu seinem momentanen Posten gelangen, wobei neben dem Kulturkapital vor allem soziales Kapital entscheidend war. In seiner Berufsbiographie hatte er in entscheidenden Momenten Förderer und Wegbereiter an seiner Seite, die wie ein Katalysator für seine Karriere unterstützend wirkten. Hingegen hat sich die Managerin ihre Spitzenposition hauptsächlich aus eigener Kraft auf Basis ihrer akademischen Ausbildung und über relativ häufige Stellenwechsel erreicht, da sie im Vergleich zu ihrem Mann über weniger Sozialkapital verfügt und seltener gefördert wurde.

Das Paar hat eine Tochter, die wochentags von der osteuropäischen Haushälterin, die sich auch um das Waschen, Putzen, Bügeln kümmert, versorgt wird. Allerdings übernimmt sie nicht das abendliche Kochen, da die Jobs des Paares lange Arbeitszeiten mit sich bringen und sie meistens auswärts essen. Für das Paar gehört das Essen Gehen zum Alltag. Aufgrund ihres Sinns für Luxus und ihres legitimen Luxusgeschmacks gehen sie in piekfeine Restaurants der klassischen deutschen, italienischen und französischen Küche oder auch mal in eine extravagante Salatbar. Sehr wichtig ist für beide das Ambiente.

Es zeigt sich, dass das Manager_innenpaar beim Essen der Form anstelle der Substanz eine große Bedeutung gibt. Neben dem notwendigen ökonomischen Kapital hat sich das Manager_innenpaar in Laufe ihres Lebens gewisse kulturelle Fähigkeiten und Fertigkeiten angeeignet, so dass sie in diesen Restaurants verkehren können. Diese Fähigkeiten differieren entscheidend von denen der beiden anderen Paare. Es macht einen feinen Unterschied wie sie essen. Das Manager_innenpaar beherrscht bestimmte Formen des Essens, das wie ist entscheidend, wenn sie mit Freunden oder Geschäftspartnern in ein Sterne-Restaurant gehen, um Hummer zu verzehren oder Muscheln zu schlürfen.

Sie lieben es, am Wochenende ein langes und ausgiebiges Frühstück mit vielen ausgefallenen Zutaten zu zelebrieren. Wenn sie für sich kochen, macht das die Frau. Sie ist für das Wochenendalltägliche, Monotone und privat Produzierte zuständig. Gekocht werden von ihr Gesundes, Frisches und Ausgewogenes. Er kocht für die öffentlichen Anlässe, wenn Freunde oder Geschäftspartner zu Besuch sind. Seine Zuständigkeit liegt im Bereich des Außeralltäglichen, des Spektakulären und der Öffentlichkeit. Im Gegensatz zu ihr zaubert er exquisite Menüs für 8-12 Personen. Er hat für sich das Kochen zu einem Feld der männlichen Ehre konstituiert, auf dem er sich und den Gästen beweisen kann, dass er mit komplexen Schwierigkeiten fertig wird. Dafür erntet er Anerkennung und öffentliches Lob. Für das alltägliche Kochen im Oikos gibt es allerdings kein Lob zu gewinnen, so dass er dies in der Regel nicht ausführt. So hat es für ihn auch die Funktion eines Mediums der (Selbst-)Repräsentation und stellt des Weiteren einen Sozialakt zur Aufrechterhaltung ihres sozialen Netzes dar. Im Kochen zeigt sich eine hierarchische Arbeitsteilung mit geschlechts- spezifischen Bewertungen. Nur durch die Möglichkeit, eine Haushaltshilfe bezahlen zu können, kauft sich die Managerin frei von der traditionellen Arbeitsteilung im Reproduktionsprozess.

Nicht nur durch diesen gesellschaftlichen Akt der Beziehungsarbeit reproduziert und multipliziert das Paar ihre Kapitalien bzw. Ressourcen, sondern sie sind noch Mitglied in einem Tennis- und Golfverein im Taunus, in denen sie regelmäßig aktiv sind. Ihre gesellschaftlichen Rituale sind als offensive Distinktionsfunktion in Gestalt der Demonstration des Anspruchs und Zugehörigkeit zu einer exklusiven Klasse von Kennern und Könnern zu verstehen.

 

Bei den Paaren zeigt sich in Bezug auf die alltägliche Reproduktion, dass es gravierende Unterschiede innerhalb der Klassen und Geschlechter gibt. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung nimmt zwar in der heutigen Gesellschaft unterschiedliche Ausprägungen an, allerdings basiert sie immer noch überwiegend auf der traditionellen Arbeitsteilung. Wenn sich der Mann an der Reproduktionsarbeit beteiligt – wie etwa beim Arbeiter_innenpaar – gibt es meistens entweder eine geschlechtsspezifische Bewertung und Ausführung der verschiedenen Aufgaben oder es existieren eklatante Differenzen der investierten Arbeitszeit, die bei der Frau erheblich höher ist. Anschließend daran gibt es vor allem für die Frau klassenspezifische Differenzen bei der alltäglichen Bewältigung der notwendigen Reproduktionsarbeit. Die Arbeiterin ist – geringfügig unterstützt durch ihren Mann – für alle notwendigen Aufgaben der Reproduktion zuständig. Nach Beendigung des außerhäuslichen Arbeitstages muss sie noch in ihrer »Freizeit« Wäsche waschen, Putzen, Essen kochen usw., da dem Arbeiter_innenpaar – und das gilt häufig auch für kleinbürgerliche Beziehungen – nicht das ökonomische Kapital zur Verfügung steht, diese Aufgaben an eine dritte Arbeitskraft wie eine Haushälter_in etc. zu delegieren. Für die Managerin unterscheidet sich die Welt der alltäglichen Reproduktion fundamental von den beiden anderen Paaren. Auf der einen Seiten herrscht bei diesem Paar zwar eine geschlechtspezifisch-hierarchische Arbeitsteilung, da sie für das alltäglich-private und er für das außeralltäglich-öffentlichen Kochen zuständig ist, allerdings hat das Paar aufgrund ihres großen ökonomischen Kapitals für die meisten alltäglichen Reproduktionsarbeiten eine Haushälterin. Die Managerin hat im Gegensatz zu den beiden anderen Frauen und vor allem zur Arbeiterin kaum Reproduktionsarbeit zu leisten.

Nicht nur an der Form, wie sich die Paare die anfallenden Reproduktionsarbeit aufteilen wird deutlich, dass Vergeschlechtlichung klassenspezifisch unterschiedlich wirkt und abläuft. Für eine erfolgreiche Managerin bedeutet es etwas anderes, weiblich zu sein (smart und doch durchsetzungsfähig, High Heels, aber doch fähig, zuzutreten) als für eine Arbeiterin in der Fabrik (arbeitsam und familienbewusst, Stahlkappenschuhe und trotzdem fügsam). Geschlechtspezifische Anrufungen und Erwartungen variieren je nach Klassenlage.

 

Bisher wurden die Paare überwiegend isoliert von einander betrachtet, welche Kapitalien wie Einkommen, Bildungsabschlüsse usw. sie aufweisen und welchen Lebensstil sie im Alltäglichen praktizieren. Es stellt sich anschließend die Frage was wahrscheinlich passieren würde, wie sie interagieren, wenn sie in einem sozialen Raum aufeinander treffen würden. Stellen wir uns vor, diese drei Paare befinden sich am Frankfurter Flughafen und aufgrund der Wetterverhältnisse sind die Flüge erstmal auf unbestimmte Zeit verschoben worden.

Die drei Paare sitzen wartend in der Abflughalle. Mit großer Wahrscheinlichkeit würden sie nicht mittels Kommunikation interagieren, um sich die Zeit zu vertreiben. Aufgrund ihres gesellschaftlich bedingten Habitus, der als ein System dauerhafter Dispositionen zu verstehen ist, in dem Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata zusammenwirken, und den daraus resultierenden distinktiven, symbolischen Lebensstilen wie z.B. Kleidung und körperlichen Verhaltensweisen wie der Körperhaltung oder Sprache entsteht eine Distanz, die wahrscheinlich dazu führt, dass sie nicht aufeinander zugehen. Wenn die Arbeiterin die Managerin ansprechen würde, bemerkten beide allein in der angewendeten Sprache eine gesellschaftliche Distanz. Das Vokabular und die Form der Aussprache der agierenden Personen ist klassenspezifisch, also von ihrer sozialen Position und/oder von ihrer Familientradition einschließlich ihrer Kapitalien – zu verstehen als Ressourcen zwischenmenschlicher Interaktion – geprägt, so dass zwischen Ihnen ab dem ersten gewechselten Wort eine Disharmonie im Raum steht. Trotz der gleichen Vergeschlechtlichung können die klassenspezifischen Unterschiede eine solidarische Kommunikation verhindern. Es ist wahrscheinlich, dass sich alle Beteiligten unwohl fühlen würden, wie es wahrscheinlich jede schon mal erlebt hat, wenn mensch einen Raum betritt, der nicht seinem klassenspezifischen Umfeld entspricht. Mit dem ersten Schritt oder Wort bemerkt mensch sofort bei sich ein eigenartiges Unwohlsein und fühlt sich fehl am Platz. Dies ist laut Bourdieu auf den Habitus zurückzuführen, der als eine einverleibte, verkörperlichte Struktur, die die individuelle Geschichte speichert und in der Gegenwart wirkmächtig ist, zu verstehen. Die Akteure wissen intuitiv, wo ihr Platz im sozialen Raum sprich der Gesellschaft ist: sie haben einen »praktischen Sinn« für ihre Interaktion. Die Einzelnen wissen unausgesprochen, welche Verhaltens- und Existenzweisen für die jeweiligen Akteure angemessen bzw. ausgeschlossen sind. Der Habitus ist daher als ein »System von Grenzen« zu verstehen.

Wahrscheinlicher ist, dass die verschiedenen Akteure ihre Wartezeit »standesgemäß« verbringen. Wenn die jeweiligen Paare ihre Bedürfnisse wie Hunger und Durst befriedigen oder einfach nur die Zeit überbrücken wollen, werden sie es wahrscheinlich ihrem klassenspezifischen Lebensstil entsprechend ausführen. Das Arbeiter_innenpaar würde wahrscheinlich Hamburger und Cola in einem Schnellrestaurant konsumieren, während das Manager_innenpaar in das nächstgelegene Luxus-Hotel gehen und ein Mehr-Gänge-Menue speisen würde.

Aufgrund des unterschiedlichen klassenspezifischen Habitus ist es eher unwahrscheinlich, dass die Paare überhaupt interagieren. Zwar ist die Chance größer, dass sich näher stehende Akteure wie das Arbeiter_innenpaar mit anderen Arbeiter_innenpaaren zusammen schließen bzw. treffen, jedoch ist diese Annäherung der Nächsten nicht zwingend notwendig. Genauso wenig ist eine Annäherung der Fernsten niemals auszuschließen. Gesamtgesellschaftlich gesehen und das soll durch dieses Beispiel verdeutlich werden, reproduzieren sich soziale Klassen überwiegend innerhalb ihrer eigenen Klasse. Die Fortexistenz der Klassengesellschaft, wenn auch in pluralisierter Form, zeigt sich auch auf dem Heirats- und Beziehungsmarkt: Homogamie, das heißt eine sozial passende Partnerschaft, ist immer noch der Regelfall. Verallgemeinert heißt es, dass erst mittels (Klassen-)Habitus und dem darin vorhandenen Geschmack eine Verbindung zwischen (objektiver) Klassenlage und (symbolischer) Lebensführung entsteht, wodurch sich Klassen im Alltag realisieren, Herrschafts- und Machtverhältnisse entstehen und sich ständig reproduzieren.

 

Sowohl Bourdieu als auch Feministinnen nutzen den Begriff des Habitus, um die Konstituierung von Geschlechtlichkeiten in der sozialen Praxis zu analysieren. Das Konzept bietet die Möglichkeit, eine Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft bzw. zwischen Struktur und Handlung zu denken. Für die feministische Diskussion eröffnet es neue Perspektiven, wenn es sich um die Frage des Körpers der Subjekte bzw. Akteur_innen handelt.

Festzuhalten ist mit Bourdieu, dass die Klassen- und Geschlechterherrschaft erst durch alltägliche Praxen realisiert werden. Er denkt die Herrschafts- und Machtverhältnisse zunächst aus der Klassenperspektive, versteht das Geschlecht aber auch als omnipräsent. Eine Klasse oder Klassenfraktion erhält ihren Charakter erst durch das darin vorhandene Geschlechterverhältnis. In den verschiedenen Klassen sind unterschiedliche Geschlechterverhältnisse vorhanden, wie es bei den drei Paaren anhand des Koch-Beispiels und der jeweils spezifischen Arbeitsteilung zu erkennen ist.

Für die politische Praxis gibt es Anknüpfungspunkte auf den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen. Für die Konstitution des Habitus von Individuen, Gruppen und Klassen einschließlich der Geschlechter, sind die gesellschaftlichen Existenzbedingungen (materiell, kulturell und sozial) prägend und deren alltägliche Handlungen werden über ihn vermittelt und wirken auf die gesellschaftliche Struktur zurück. Für die Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse ist ihre symbolische Gewalt ein weiterer Stabilitätsfaktor. Als Konsequenz heißt dies, dass es eine Verknüpfung unterschiedlicher Kämpfe geben muss. Es benötigt das Hereintragen von progressiv-emanzipatorischen Ideen und Praktiken in gesellschaftliche Auseinandersetzungen um materielle Ressourcen (z.B. Arbeitskämpfe um die Verteilung von ökon. Kapital), um kulturelle Ressourcen (z.B. Kämpfe um den Zugang zu Bildungsinstitutionen) und in Verbindung damit eine Kritik an herrschenden Klassifikationen auf der symbolischen wie z.B. auf der sprachlichen Ebene. Bourdieu lenkt mit seinem Konzept den Blick auf die alltäglichen Kämpfe und Praxen, in denen bestehenden Herrschaftsverhältnisse immer wieder reproduziert werden.

Benny Fuchs

 

.notes

Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M.

Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard: Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt: Sonderband; 2, Göttingen

Bourdieu, Pierre (1985): Sozialer Raum und Klassen. Leçon sur la leçon, Frankfurt/M.

Bourdieu, Pierre (1992): Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg

Bourdieu, Pierre (1997a):Eine sanfte Gewalt. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Irene Dölling und Margarete Steinrücke. In Dölling, Irene / Krais, Beate (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, S.218-230, Frankfurt/M.

Bourdieu, Pierre (1997b): Die männlich Herrschaft. In Dölling, Irene / Krais, Beate (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, S.153-217, Frankfurt/M.

Frerichs, Petra/Steinrücke Margareta (1997): Klasse, Geschlecht, Kultur. Köln

Krais, Beate (2002) : Habitus, Bielefeld