Beatrice Preciados »Kontrasexuelles Manifest« erschien 2003 auf Deutsch. Der Text fand schnell Verbreitung in queeren Zusammenhängen, wurde Gegenstand von Diskussionsveranstaltung und Lesekreisen. Die diskus-Redaktion lud daraufhin eine Gruppe ein, die sich, von den ersten Zeilen angefixt, fortan regelmäßig zur Lektüre und Diskussion des Textes traf. Wir baten sie ihre Leseerfahrung kurz zu skizzieren, um davon ausgehend mit uns die Potentiale des Textes als theoretische Intervention, wie auch Anleitung einer kontrasexuellen Praxis kritisch zu diskutieren.

Preciado untersucht die Technologie sexueller Praktiken und beansprucht mit ihrem Entwurf der Kontrasexualität eine emanzipatorische Alternative zu diesen vorzulegen. Theoretisch bedient sie sich dabei vor allem bei Derrida, Butler, Deleuze und Foucault, von dessen Kontra-Produktivität sie ihr Kontra direkt übernimmt. Das Buch ist in seiner Manifestform weniger akademische Intervention als vielmehr Aufruf zu einer anderen sexuellen Praxis, die auch eine andere Beziehungspraxis impliziert.

Sie beginnt mit der Definition der Kontrasexualität. Der Dildo wird dabei zur zentralen Figur der Dekonstruktion und Subversion des vorherrschenden Sexualitätsregimes. Anschließend legt sie einen Vertragsentwurf vor, mit dessen Unterzeichnung auch die „natürliche“ geschlechtliche Position inklusive aller Verpflichtungen und Privilegien aufgegeben wird. Es folgen graphisch illustrierte kontrasexuelle Übungen. In diesen sind der Ablauf, die Anzahl der Personen und die Dauer des Akts genau festgelegt. Dildo und Anus – als zwei Untensilien die allen Menschen zur Verfügung stehen – spielen bei allen Übungen eine zentrale Rolle; wobei eben auch der Kopf oder Ellenbogen als solcher dienen kann.

Es folgen schließlich (theoretische) Ausführungen zur Geschichte des Dildos, zur medizinischen Konstruktion von Geschlecht, zum Leben als Cyborg und weiteren kontrasexuellen Themen.

 

_Neben den theoretischen Ausführungen schlägt Preciado in ihrem Manifest einige kontrasexuelle Übungen vor. Wie könnten Perspektiven einer alltagspraktischen Aneignung aussehen?

Denis. Ich kann für mich sagen, dass ich keine dieser Übungen ausprobiert habe, sondern habe sie als Anregung verstanden, um über die eigene Sexualpraktik nachzudenken und diese in Frage zu stellen. Mir persönlich lag es fern, mir den Kopf zu rasieren und rote Farbe auszuspucken. Ich habe das eher als Metapher gelesen. Wir haben das Interview mit Beatrice Preciado in der Jungle World#1 gelesen, in dem sie selbst aber auch die Ernsthaftigkeit davon betont hat. Sie hat dort gesagt, dass das kommunistische Manifest anfangs auch belacht wurde.

Testaterone. Die Übungen sind eine ziemlich radikale Performance. Denn auf der einen Seite gibt es die Zeichnungen von den Übungen und die Übungen selbst fangen mit der Performance eines Künstlers an. So habe ich auch die Übungen als Darstellungen, als Performances verstanden, die dazu anregen, über die eigene Technologie und eigene sexuelle Praxis/Praktiken nachzudenken. Was sich bei uns getan hat, war nicht die Ausübung der Übungen, sondern dass wir uns überlegt haben, Dildo-strap-ons aus Latex zu basteln oder uns welche zu kaufen.

Kai. Ich habe die Übungen auch nur als reflexives Moment verstanden. Ich fand das auch eher absurd, das wirklich auszuprobieren. Doch sie legt damit eine Struktur offen. Das Kopfrasieren ist auch ein schönes Bild dafür, wie man seinen Körper verändert, um auch in der hegemonialen Weise sexuell attraktiv zu werden. Was Frauen und Männer tun, um sexy zu sein, geht bis in einen gewalttätigen und schmerzhaften Bereich hinein. Das wird auch in dem sichtbar, was man bezahlt, um der heterosexistischen Norm zu genügen. Die Sichtbarkeit des Glatzkopfes habe ich darin eher als ein Bild für diese hegemoniale Praxis gesehen.

Testaterone. Die Kopfrasur in den Übungen geht mir total gegen den Strich. Ich habe keine Lust so gebrandmarkt zu werden; da steckt auch eine Ernsthaftigkeit drin: ›Wenn du in unserem Club mitmachen willst, musst du richtig radikal sein und dir die Haare abrasieren.‹ Warum dieser radikale Schritt, als Glatzkopf rumlaufen zu müssen? Was schon etwas plump ist, denn Glatzköpfe werden oft als dickheads bezeichnet.

Line. Wofür ist denn diese Reflexion eigentlich gut? Es wurde gesagt, dass die Praxen noch gar nicht radikal genug sind und man sich noch radikalere ausdenken müsste. Dann ist es auf einmal wieder nur eine Reflexion?

Kai. Reflexion schon im Sinne einer Macht der Kritik, und dennoch ist Reflexion vielleicht ein zu schwacher Begriff dafür. Sie hat damit aufgezeigt, auf wie vielfältige Weise und wie massiv diese Technologie gesellschaftlich funktioniert. Davon hat sie ihren Ansatz einer Machtverschiebung in eine egalitäre Richtung abgeleitet. Sie nimmt das Prinzip, möchte es aber jeder zur Verfügung stellen und entkoppelt das von einem biologischen Körper. Wir haben uns auch oft gefragt, warum wir dabei immer so lachen müssen.

_Antrainierung/Aneignung

Testaterone. Die Übungen zeigen auf, da würde ich schon mit Preciado übereinstimmen, dass sowohl ein Orgasmus als auch erogene Zonen antrainierte Praktiken und Technologien sind und dass es krasse Arbeit bedeutet, diese Zonen zu verschieben, aber eigentlich möglich ist.

Denis. Aber dass es eigentlich auch eine genauso krasse Arbeit ist, sich die hegemonialen Technologien anzutrainieren.

Testaterone. Ja, da zeigt sich schon, dass es Arbeit ist, die Zonen zu erotisieren und mit Sex und Lust zu verknüpfen, um dann irgendwann mal einen Orgasmus daraus zu haben. Damit schreibt sie eine radikale Weiterführung von Butler. Wo Butler endet, setzt Preciado an und wird konkret. Butler schreibt über Sex, nennt aber nie Ficken. Und bei Preciado geht es wirklich mal ums Ficken, das ist eine total radikale, rotzige, notwendige Fortsetzung von Butler.

_Die Macht des Dildos

Denis. Wir haben Dinge aber auch kritisch besprochen. Zum Beispiel die Vorstellung, dass ein Dildo dabei sein muss. Das reproduziert eine Vorstellung, bei der es immer einen Stängel und ein Loch geben muss und damit geht es gleich wieder um Penetration. Da haben wir uns schon danach gefragt, warum eigentlich?

Testaterone. Sie fängt mit Bildern an, die man kennt. Es ist dadurch leichter zu verstehen, wie wenn sie mit der Schulter anfangen würde. Sie arbeitet schon mit so was wie einem Stil und Loch, geht dann aber noch weiter. Ein Dildo kann auch ein Kopf sein. Sie nimmt erstmal die Formen eines Körpers, die sie vorfindet, nimmt ihnen aber die biologische Bestimmung und transformiert sie, so dass es nicht mehr der Stil und das Loch sein muss.

Bert. Sie geht von bereits existierenden Praktiken aus und übernimmt beispielsweise den Vertrag aus S/M Praktiken und der Dildo an sich ist ja auch nicht neu.

Testaterone. Ich würde sagen, dass Schritt eins ist, sich den Phallus anzueignen und den Penis zum Dildo zu machen bzw. zu sagen, dass der Dildo vor dem Penis da war. Das heißt den Geschlechtsmerkmalen die Macht nehmen und sie damit frei verfügbar machen.

Kai. Sie hat ältere feministische Theorien dafür kritisiert, dass die sich hauptsächlich mit dem weiblichen Körper beschäftigt haben und die Dekonstruktion des männlichen Körpers jetzt ansteht, da dieser nie bearbeitet wurde. Sie negiert damit die absolute Macht des Penis und sagt, dass es ein Symbol ist, das sich jeder nehmen kann, je nach dem, wo er oder sie sich verortet. Das Symbol zerstört hat sie damit aber nicht, sonder vielmehr damit gearbeitet.

Rauhfaser. Mit dem Dildo und dem Anus verweist sie auf das Bild der Penetration. Aber ist es nicht vielleicht auch der mehrheitlich heterosexuelle Blick darauf, der diese Referenz wieder aufmacht?

Denis. Wenn ich das Wort Penetration höre, könnte ich schon kotzen. Das müsste ja nicht so sein. Aber in der Realität ist es oftmals scheiße. Deswegen will ich gar nicht per se dagegen reden. Das kann ja auch sehr geil sein. Die Frage ist nur, wie es aufgeladen ist oder gesellschaftlich gelebt wird.

Testaterone. Zwar gibt es eine Übung, in der Selbstpenetration vorkommt, in den meisten jedoch gibt es gar kein Loch. Es gibt den Dildo, der gestreichelt wird.

Anus. Vielleicht hat sie den Dildo und den Anus als zentrale Figuren in ihren kontrasexuellen Technologien auch gewählt, da alle Menschen einen Anus haben und jede Person sich einen Dildo aneignen kann. Es ist ein egalitäres Konzept, das zu nutzen, was allen Körpern eigen ist und damit ein Konzept von Sexualität zu entwerfen, das allen Menschen offen steht und an dem alle Körper teilhaben können. Könnt ihr euch vorstellen, dass man ein solches egalitäres Konzept von sexueller Praxis auch ohne Dildo und Anus entwerfen könnte?

Testaterone. Anus und Anus. Denn bei Anus und Dildo erscheint immer noch die Penetration. Mir kommt es immer so vor, dass zwei unterschiedliche Pole benötigt werden, wie Ying und Yang, die dann zusammen wachsen. Da geht sie in ihren Übungen schon auch weiter. Man könnte sich ja einen Arsch und einen Arsch vorstellen.
Katja Diefenbach hat bei einem Vortrag hier in Frankfurt gesagt, dass Preciado nicht im Sinn hatte, dass Analsex bei heterosexuellen Pärchen auch zum Repertoire gehört und sowieso eine schwule Praxis ist. Das ist nichts Neues.

_kontrasexuelle Lust und Arbeit

Anus. Wenn wir die ganze Zeit von Techniken reden, kam mir die Frage der Lust in den Sinn. Wenn es um Aneignung geht, geht es ja auch die Frage, was lustvoll angeeignet werden kann.

Testaterone. Die Selbstdildorisierung ist das einzige, was mir Lust bereitet hat. Die anderen Übungen fand ich sehr fern ab. Das war aber auch ihre Taktik, ein Feld aufzumachen, was wir erst mit Lust füllen müssen. Und das ist harte Arbeit. Die eine Übung dauert zwölf Stunden. Preciado versteht Kontrasex auch explizit als Arbeit. Das würde bedeuten, dass ich Geld dafür bekommen müsste, um die Übungen zu machen. Denn das ist auch Arbeit und ich kann es mir nicht leisten, zwölf Stunden nur mit sexuellen Übungen zu verbringen.

Kliboris. Und das ist ja schon knapp bemessen. Wenn ich mich zurück erinnere an meinen ersten Zungenkuss: Das ganze Leben stellst du dir vor, dass das hochgradig toll sein muss, dann hat das ja auch was mit Liebe zu tun. Du stellst dir vor, wie das funktioniert, und als ich es dann das erste Mal gemacht habe, fand ich es total eklig. Ich habe dann trotzdem weitergemacht. Es dauert, bis du dir das aneignest, sich deine Synapsen umkoppeln und du das dann mit Lust verbindest. Die praktischen Übungen waren zwar abschreckend, aber doch auch irgendwie logisch; wenn du diese ganze heterosexistische Norm, die du dir dein ganzes Leben antrainiert hast, aufbrechen willst, dann musst du was ganz anderes erlernen und bei Null beginnen.

Testaterone. Trotzdem hatten wir in der Pubertät ja auch so ein Ziel vor Augen, das uns von Werbung und den gesamten gesellschaftlichen Verhältnissen vorgespiegelt wurde. Das war einfach nur eine grausame Anpassung und Beschneidung, bis alle da rein passen und drin sind. Man könnte da mal eine Umfrage machen, inwieweit die Sozialisation und Pubertät beispielsweise für Mädchen lustig war. Trotzdem hat man sich darin ja auch eine Nische geschaffen, zumindest war es in meiner sexuellen Sozialisation so, dass ich irgendwann darin einen Orgasmus hatte. Das hat man sich auch erkämpft. Wieder davon wegzugehen, ist natürlich etwas anderes. Soll man dann wieder eine Pubertät haben und wieder eine Anpassung an irgendwelche kleinen Kartons, in die man versucht reinzupassen?

Bert. In der Pubertät gab es einmal das Problem mit den konkreten Technologien und die lustvoll aufzuladen, aber in der Sozialisation von Mädchen steckt ja auch eine grausame Hierarchisierung. Man bekommt dann erzählt: ›Schau, irgendwann wollen Jungs nur noch das Eine. Du brauchst aber nicht, wenn du nicht magst. Wenn du nicht magst, machst du einfach … nichts.‹ Und wenn man bei einem Typen schlafen wollte, aber Angst hatte, dass etwas passiert bekam man solche Tipps, wie ›Zieh doch einfach einen Badeanzug drunter.‹ Wir haben lange darüber diskutiert, dass sich jede ihre Techniken hart erarbeitet und in ihren Praktiken eingerichtet hat und es funktioniert inzwischen auch einigermaßen oder manchmal auch super. Es gab dann die zwei Ebene, dass es einerseits anregend war, Sex als Technologie zu denken, aber andererseits den praktischen Schritt zu machen, die bereits angeeigneten Technologien zu verwerfen, auch skeptisch betrachtet wurde.

Testaterone. Das spannende dabei ist, dass wirklich die Bettdecke gelüftet wird. Ich habe gemerkt, dass ich danach meinen Körper und meine Beziehung anders angeschaut habe.

Kliboris. Wenn wir damit anfangen, uns diese Technologien anzueignen, sind wir definitiv out-laws. Geh mal mit dieser neu erworbenen Lust und den Praktiken auf eine Party und such jemanden, die mit dir kontrasexuell die Nacht verbringt.

Bert. Jede von uns hat sich sowieso schon außerhalb der klassischen Normen verortet und individuell arrangiert. Mit diesem neuen Blick wurde das stärker in Frage gestellt und die Technologien selbst sind deutlicher zu Tage getreten. Das hört sich jetzt etwas weichspülermäßig an, aber ich halte es schon für einen großen Fortschritt, wenn sich Leute nicht nur neue Technologien aneignen würden, sondern diese Technologien als solche überhaupt erstmal erkennen und ihre scheinbare Natürlichkeit anzweifeln. Der Perspektivwechsel macht schon sehr viel aus.

Kai. Dem würde ich auch zustimmen. Wenn wir nur 20 Jahre zurückschauen, gab es da Sexualpraktiken, die überhaupt nicht zur Diskussion standen und heute en vogue oder wild sind. Die werden in ein bestehendes System integriert. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass man all diese kontrasexuellen Praktiken machen kann, aber es ändert sich nichts an den Machtverhältnissen.

_Kontrasexueller Vertrag
und alltägliche Praktiken

Verz-a-tile. Allerdings fand ich neben den Praktiken den Vertrag total wichtig. Weil es dabei darum geht, zu regeln, wann es überhaupt möglich ist, kontrasexuell in Aktion zu treten. Ich war total angefixt davon. Es gibt aber ein Problem dabei: die Realität. Versuch das mal alleine durchzuziehen …

Denis. Der von Preciado aufgesetzte Vertrag beschreibt genauso diese unausgesprochenen Verträgen, die es sowieso gibt und die selten offen ausgehandelt werden. Die Frage ist dabei nur, wo man anfängt, etwas zu verändern. Das ist immer die Wand, gegen die man denkt.

Rauhfaser. Wir hatten uns auch zum Vertrag als bürgerliche Metapher gefragt, wo oder wie man eine Instanz denken kann, die die Einhaltung der Regeln und Vereinbarungen garantiert? Kann das auch ein Problem dabei sein?

Testaterone. Sie antwortet auf eine bürokratische Gesellschaft mit einer bürokratischen Lösung. Mir geht es nicht so, dass ich einen Vertrag unterschreiben möchte, trotzdem ist es spannend zu überlegen, wie solche informellen Verträge ausgehandelt werden.
Wenn ich auf einer Party bin, checke ich ja auch ab, was ich an Sex knüpfe. Da wird Schluss gemacht mit dieser ganzen Romantik-Kacke. Es ist angenehm, sich mit Codes darauf zu einigen, was man genau von einander will. Ich finde es total schlimm, bis fünf Uhr auf einer Party bleiben zu müssen, nur um das zu kriegen.

Verz-a-tile. An dieser Stelle findet doch die Enthebung der Macht statt. Es gibt eben nicht eine Kontrollstelle, die schaut wie was läuft und laufen soll. Es läuft halt. Es stehen sich eine diverse Anzahl von Leuten gegenüber, die eine Abmachung miteinander haben. Ich will natürlich wissen, auf was ich mich einlasse.

Denis. Der Vertag zeigt ja auch nur, dass alles offen ist: Es gibt keine Regeln von außen, die Regeln legen wir fest. Die Menschen, die zusammen Lust und Sex haben wollen, bestimmen das selbst.

Bert. Der Vertrag macht doch nur in der direkten und konkreten Absprache Sinn. Mich hat daran gestört, dass sich dabei nichts einfach entwickeln kann, denn alles wird vorher festgelegt. Aber wenn man diese angelernte Technologie durchbrechen will, macht es nur in der konsequenten Form Sinn, auch auf die Spontaneität zu verzichten. Einerseits ist das das spannende daran und macht auch total viel Sinn, anderseits merke ich auch, dass ich an meiner Lust und meinen Bildern von Lust hänge und die nicht leichtfertig aufgeben will.

_Lust und Differenz

Anus. Meine Erfahrung hat sich in dem Buch auch dort widergespiegelt, wo Differenz und das Spielen mit Differenz als etwas Lustvolles auftaucht. In der Rollenaufteilung in der die Lust am Dominanten und am Passiven möglich wird. Der Vertrag spielt mit dieser Rollenaufteilung statt sie vollkommen aufzulösen.

Denis. Die Idee der Differenz ist eher das, was wir in der gängigen Vorstellung von Sexualität sowieso finden. Für mich wäre eher der Gedanke lustvoll, dass es nicht unbedingt Differenz geben muss. Ich kann mir auch gut vorstellen, Gleichheit geil zu finden.

Verz-a-tile. Man kann die Macht nicht einfach rausnehmen. Das ist meines Erachtens ein wesentlicher Punkt, der auch Lust ausmacht. In der Kontrasexualität ist die Hierarchie in der Differenz aufgehoben bzw. momentaner belegt. Heterosexistisch betrachtet ist Differenz nur mit Hierarchie zu haben.

Bert. Gleichzeitig ist die Frage der Dominanz in heterosexistischen Kreisen sehr verbreitet und das hat in linken Kreisen dazu geführt, diese Dominanz zu tabuisieren. Da können ein Vertrag oder klare Absprachen Zugänge ermöglichen, die dann auch wieder lustvoll besetzt werden können. Sonst ist es schwer, weil es immer heterosexistisch aufgeladen ist.

Testaterone. Wir haben jetzt so geredet: Die Person, die den Dildo hat, hat die Macht und ist dominant, und die andere Person, die ihn nicht hat, ist passiv. Aber ist das überhaupt so gemeint? Ich glaube nicht, dass das Buch so eine lineare Abfolge hat. Vielmehr ist zu fragen: Was bedeutet denn Macht in der Sexualität überhaupt? Heißt das gleich Dominanz? Kann in einer devoten Haltung nicht auch Macht liegen?
Wenn man zu ihrem Beispiel zurückgeht: Eine Person bekommt den Kopf geschoren und wird gerieben. Der Kopf symbolisiert einen Dildo, tut aber nichts außer rote Flüssigkeit auszuspucken. Wer hat in dem Moment die Macht? Die Personen, die reiben? Die, die den Kopf scheren? Die Macht liegt nicht im Dildo; sie liegt immer dazwischen.

_Kontrasexuelle Altersvorsorge

Rauhfaser. Bisher ging es um vereinzelte, temporäre sexuelle Begegnungen innerhalb eines kontrasexuellen Vertrags. Ich hatte die Idee des Vertrags aber auch längerfristig verstanden, z. B. auf ein Jahr ausgerichtet und auch mit mehreren Menschen gleichzeitig abgeschlossen. In dieser Zeit passieren ja Beziehungen, auch wenn es keine Liebesbeziehungen sind, man lebt zusammen, verbringt auch einen Alltag miteinander. Wie kann man da Macht vollkommen ausklammern? Wie könnten darin Beziehungen aussehen? Wie ließe sich eine kontrasexuelle Gesellschaft denken?

Das Problem hat uns damals in der Diskussion an die 68er-Freie-Liebe-Konzepte erinnert, die unter anderem daran gescheitert sind, dass sie nicht alles auf einmal verändern konnten. Dieser ganze Müllberg an emotionalen Technologien kann eben nicht einfach so, per definitionem, ausgehebelt werden. Das ist schwer vorstellbar. Die Gesellschaft, die Preciado durch ihr Manifest entwirft, bleibt da schwammig.

Bert. Die Umsetzung von den kontrasexuellen Ideen stellt Sex sehr ins Zentrum und wir haben uns gefragt, was das überhaupt für eine Rolle spielt. Wir kamen oft an den Punkt, an dem wir das sehr anstrengend fanden. Es wäre eine Lebensaufgabe, sich umzuprogrammieren. Bis wir Orgasmen im Ellenbogen haben, ist es ein weiter Weg.

Denis. Damit ist aber die Frage, welche Rolle Sexualität im Alltag oder im Leben spielt, immer noch ungeklärt. Ist das eine Freizeitbeschäftigung oder was? Und das Verhältnis von Sex und Fürsorge oder Alltag könnte schließlich auch im Vertrag geregelt sein. Wenn in meinem kontrasexuellen Vertrag steht, wenn ich krank bin, kommst du und kochst mir einen Tee, dann ist das so.

Verz-a-tile. Sie stellt ja gar nicht in Frage, dass die Leute Beziehungen haben. Aber sie löst die Sexualität davon ab. Sie sagt endlich mal, das mit dem Tee kochen hat nichts mit dem Vögeln zu tun. Ganz konsequent würde das heißen, man entscheidet sich für Leute, mit denen man alt werden will, aber in diesem Leben ist Sex nicht verankert.

Testaterone. Es wird verkannt, dass in der Ehe, romantische Zweierbeziehung (rzb) Bedürfnisse drinstecken, die mit Kontrasex nicht gedeckt werden. Wenn ich mir eine neue Gesellschaft vorstelle, oder allein nur die Linke, die die klassischen Beziehungsmodelle auflösen wollte, aber wenig Alternativen angeboten hat, dann geht es um eine radikale Veränderung. Zum Beispiel eine neue Pubertät beginnen mit dem Schrei: »Ich will raus hier!« Ich eigne mir eine neue Technologie an und diesmal bestimme ich die selber. Solche Aspekte fehlen mir in dem Buch, da alles emotional entkoppelt wird.
Eine kontrasexuell Gesellschaft oder überhaupt der Schritt weg von der rzb, würde eine freundschaftliche Hängematte voraussetzen, in die ich mich fallen lassen kann, wenn es mir schlecht geht. Wenn ich drei Monate krank sein würde, kümmert sich dann jemand um mich, kocht mir Tee? Es gibt ganz viele Sachen in diesem Sinne, die für mich noch nicht geklärt sind. Wie sich der Alltag genossenschaftlich, freundschaftlich organisieren lässt, so das niemand mehr durchfällt, dass bspw. jemand für ihre Freundinnen so untragbar wird, dass nur noch die Psychatrie bleibt. Zumindest in meiner rzb kann ich mir bei einigen dieser Dinge sicher sein aufgefangen zu werden …

Denis. Auch in der rzb stehst du oft genug alleine da.

Testaterone. Ja, stimmt, sie ist auch kein Garant, aber trotzdem bleibt die Frage wichtig. Da kommen wir jetzt auch wieder auf die Altersversorge, die ich eben noch belacht habe. Die Leute müssen immer aktiv, fit und gesund sein um …

Denis. … um überhaupt eine sexuelle Beziehung einzugehen. Das ist doch der Punkt. Sexuelle Bedürfnisse zu haben ist die eine Sache, aber die erfüllt zu bekommen ist ja nicht so einfach, das wird ja nicht einfach so angeboten. Wie kommst du dahin, wie kannst du deine Bedürfnisse artikulieren, und teilt sie jemand mit dir?

_Sexualität und Alltag. Welche Rolle spielt Sex im Leben?

Bert. Die Frage ist auch, was an Sex ist eigentlich wichtig. Was flasht einen daran? Ist es das Körpergefühl, der Egokick oder das Spiel, oder Prestige?

Verz-a-tile. Für mich ist das klar als Bedürfnis definiert, das zu spüren, also nicht nur ein Hirn-Fick. Aber ich hatte schon immer Probleme, das an zwischenmenschliche Beziehungen zu koppeln. Da gab es schon immer eine Diskrepanz.

Testaterone. Ich finde es nur schwierig, etwas dazu zu sagen, weil man schnell bei der Psychoanalyse und der Triebsublimierung ist. Ich könnte das gar nicht auseinanderklamüsern, wo überall in meinem Alltag Sex steckt. Ich kann kritisch darauf kommen, dass obwohl ich nur eine Stunde Sex am Tag habe, die restlichen Stunden meines Tages sexuell umgeleitet sind. Eine solche Perspektive ist problematisch.
Anus. Sex erfüllt unglaublich viele Funktionen, da geht es um Formen von Anerkennung, um Identität. Wer bin ich während dem Sex, als wer komme ich raus? Das spannende an Kontrasex ist auch, das von den Gefühlen und Funktionen abzukoppeln und ihm auch neue Funktionen zuzuweisen. Insofern können für mich die Übungen auch mehr sein als nur Reflexionsinstrument.

_Kontrasex als politischer Einsatz

Line. Ihr habt die ganze Zeit auch von der Arbeit geredet, die in so ein Projekt investiert werden muss. Es geht ja auch gar nicht darum, etwas zu entwickeln, was nur toll klingt, sondern es gibt ja auch eine Notwendigkeit etwas Neues zu entwickeln, weil das alte so unglaublich bekackt ist. Ich muss immer daran denken, dass für mich hegemoniale Sexualität total anstrengend ist. Es ist ja nicht damit getan, das in der Pubertät zu lernen, sondern auf jeder Party es wiederholt werden. Da sind Hoffungen, stundenlange Vorbereitungen, auf Partys rumchecken… Gleichzeitig ist das Ergebnis auch oft enttäuschend, es gibt so eine Langweile. Kontrasex ist ein Angebot, mit dem immer gleichen aufzuhören.

Testaterone. Es gab darin auch die Aufforderung, die Technologien weiterzuentwickeln und das weiter zu denken. Nicht nur an uns – kleine Proletarier des Anus – sondern auch an die Wissenschaft.

Anus. Ist Kontrasexualität etwas, das auf die Liste politischer Forderungen gehört? Sollte das auf Flugblätter geschrieben und die Leute agitiert werden?

Testaterone. Eigentlich schon. Da kommen mehrere Punkte zusammen. Ein Punkt ist, dass die Auseinandersetzung mit dem Buch dazu geführt hat, meine romantische Zweierbeziehung zu öffnen und festzustellen, dass RZBs einfach nicht funktionieren. Das will ich schon für mich klar haben und manchen Leuten auch einfach ins Gesicht schreien. Ich merke selbst, wie schwierig das ist, damit alleine klar zu kommen und das aufzubrechen. Trotzdem finde ich es als politische Forderung total wichtig. Wir als Gruppe haben uns nicht hingesetzt und gesagt, wir machen jetzt irgendwas. Aber im eigenen Hirn hat es weitergearbeitet.

Rauhfaser. Die Perspektive sollte aber doch eine kollektive sein. Das schlimme an den Zweierbeziehungen in der heterosexistischen Matrix ist ja auch, dass man so alleine da drin steckt.

Bert. Mit dem Kontrasexuellen Manifest haben wir uns zwar auseinandergesetzt, es aber auch als Spiegel verstanden. Wir haben eben keine der Übungen ausprobiert. Deswegen finde ich es nicht sinnvoll Flugblätter raus zu hauen und es zu propagieren.

Anus. Aber das ist doch ein interessanter Punkt, wenn die Frage nach dem politischen Einsatz gestellt wird. Also »Wir wollen niemanden aufdrängen kontrasexuelle Übungen zu machen. Wir haben sie selber nicht gemacht.« Ist natürlich nichts was man propagieren kann. Hingegen die Erfahrung, die hier im Raum steht und die alle offensichtlich teilen, dass das Buch unglaublich viel an Reflektion über Beziehungsformen in Gang gesetzt hat. Allein das ist doch schon wünschenswert, dass mehr Leute darüber auch diskutieren und insofern ein Aspekt, der sich durchaus politisch einsetzen lässt. Es wäre noch einmal eine andere Frage nach der Aneignung, um eben einen Prozesse der Reflektion in Gang zu setzen. Wir würden uns sehr einschränken, wenn wir solche Konzepte nur propagieren dürften, wenn wir sie auch praktizieren. Den Skandal der heteronormativen Ordnung wenigsten Mal zu benennen wäre doch ein Anfang.

Kai. Wir haben uns den Text erarbeitet, dennoch bei der vorgeschlagenen Praxis ging es nicht weiter. Ich hatte da das Gefühl, dass es wenig visionäre Aufladung gibt. Das hat viel mit unserem Problem mit dem Machtbegriff zu tun. Das Buch und die Diskussion war zwar sau spannend, aber es hat trotzdem nichts beschrieben, wo ich hin will. Es war eher wieder so eine theoretische Spielerei, die Möglichkeit der Verschiebung von Machtverhältnissen, aber das ist jetzt auch nicht so wirklich sexy.

Anus. Könntet ihr euch vorstellen, die heterosexuellen Zweierbeziehungen bspw. auf die Tagesordnung von einem Plenum zu setzen?

Testaterone. Das würde ich nicht machen, weil ich selbst daran zu knabbern habe. Es rührt sehr viel an einem selber, und da fällt es mir schwer, Leute dafür offen zu kritisieren. Das ist im kleineren Rahmen produktiver. Ich wollte nicht zu Leuten sagen: ›Ihr seid totale heterosexistische Spießer, die in irgendeiner Matrix leben, die total uncool ist und wir haben es voll raus.‹

Verz-a-tile. Es braucht auf jeden Fall Gegenüber, die darin auch eine gewisse Vorkenntnis haben, sonst fliegt man damit auf die Schnauze. Als Einzelkämpfer geht es halt nicht. Von mir aus dann halt mit allen die mitdenken, aber dahin muss man halt auch erstmal kommen. Die Frage ist schon spannend, wie kommen wir dahin, nicht nur im kleinen Kreis.

Kai. Sexualität und Zweierbeziehungen sind emotional an eine selbst gebunden. Das heißt nicht, dass es weniger politisch ist, aber wir sind weit entfernt davon zu sagen, Sexualität hat nichts mit Emotionen zu tun. In einer Semiöffentlichkeit offen und ehrlich darüber zu sprechen, ist problematisch.

Testaterone. Es geht um eine neue Form von Vergesellschaftung und da ist es schwer, sich raus zu nehmen. Ich kann mir so ein Plenum vorstellen und finde es auch wichtig, solche politischen Interventionen zu machen. Praktikabel ist es aber anfangs eher im kleinen Rahmen. Ich hätte auch Angst, dass das in eine Selbsterfahrungsrichtung geht. Es müsste praktisch werden, aber man sollte schon genau überlegen wie.

Anus. Dort lauert die Intimterror-Falle der siebziger Jahre, in der alle ihre Klotüren aushängen mussten und sich dann angesichts der Geruchsbelästigung, während sie in der Badewanne lagen, doch nicht wohl gefühlt haben. Dennoch bleibt die Dringlichkeit, Beziehungen zu politisieren.

Bert. Hängt eure Türen aus!

 

*.notes

#1 »Proletarier des Anus«, Interview mit Beatrice Preciado. Teil I, Jungle World, Nr. 50, 1.12.2004; »Kontrasexuelle Therapie« Teil II, Jungle World, Nr. 51, 8.12. 2004