diskus 1/98

[cross the border]

So hatte es sich Berlinale-Direktor Ulrich Gregor bestimmt nicht vorgestellt. Mit dem Slogan »Kein Mensch ist illegal«, Transparenten und Sprechchören versuchten knapp hundert Menschen die Preisverleihung der diesjährigen Berliner Filmfestspiele für ihren Protest zu nutzen. Sie hatten keine Chance: die Kameras der TV-Stationen drehten ab, die Polizei verbot den Megaphoneinsatz und anschließend war in den Medien kein Sterbenswörtchen zu vernehmen von einer Aktion, die gegen die Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes gedacht war.

»Mehr Politik!« hatte Gregor den deutschen Filmemachern noch drei Tage zuvor zugerufen. Zu läppisch wirkten die Lichterketten-Spots der Komödianten-Riege um Doris Dörrie angesichts der aktuellen französischen Spiel- und Dokumentarfilmproduktion. Diese steht im Moment im Bann des Appell der 66 Cineasten, die vor genau einem Jahr mit ihrer Weigerung, das neue französische Ausländerrecht zu akzeptieren, über hunderttausend Menschen auf die Straße getrieben haben und damit sicher nicht unmaßgeblich zum Regierungswechsel beitrugen.

Kunst und Politik?
Und in Deutschland? Daß für weite Teile des Establishment die Koketterie mit dem rebellischen Pathos von »68« zum »kulturellen Kapital« gehört, ist nun wirklich nichts neues. Und eigentlich auch egal, denn aktuelle Fragen sind im Moment eher: Gibt es nach dem Showdown auf der documenta X nun einen Boom der Polit-Kunst oder zieht sich zumindest die Kunstkritik nach jahrelanger Erörterung von »Identitätspolitik« und »Interdisziplinarität« zyklisch ins Unpolitische zurück, wie es Isabelle Graw im Jahresrückblick von Spex prognostizierte? Zwingt die Übersättigung des Kunstmarktes mit Theorie und Symposien zu einer Renaissance des Pinselstriches oder sind es ausgerechnet die neuen Technologien, welche eine praktische Kritik der Systeme »Kunst« und »Politik«, produktive Konflikte und Verknüpfungen zwischen künftigen sozialen Bewegungen und einem neuen Typus von Künstlern und Intellektuellen ermöglichen?

Szenen wie die in Berlin sind in Frankreich seit zwei Jahren fester Programmpunkt jedes größeren kulturellen Ereignisses von Cannes bis Avignon. Am 20. März 1996 hatten dreihundert Schwarzafrikaner in Paris die Kirche Saint-Ambroise besetzt, um sich ihrer drohenden Abschiebung zu widersetzen. In wenigen Monaten weitete sich die Aktion landesweit aus zur Massenbewegung der »sans papiers«: Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere treten aus dem Schatten der Illegalität und fordern ihre Rechte ein. Ihr einziger Schutz vor dem staatlichen Repressionsapparat ist eine möglichst große öffentliche Aufmerksamkeit.

Noch in der guten alten Tradition französischer Intellektueller stellten sich Filmemacher und Schauspielerinnen vor die rechtlosen Rebellen: sie boten ihre Vermittlungstätigkeit an, organisierten Demonstrationen, drehten Filme, formulierten Appelle. Allein: unter den UnterzeichnerInnen und Aktiven befanden sich nur ein paar der üblichen Verdächtigen, ansonsten aber eine Vielzahl von jungen FilmemacherInnen, die wenn überhaupt, dann keineswegs durch politisches Engagement aufgefallen waren.

»Einen Voltaire verhaftet man nicht« soll de Gaulle einmal über das Engagement Sartres im Algerienkrieg fallen gelassen haben. Heute gibt es keinen Sartre, und auch keine Intellektuellen mehr, die in Gefahr stehen, verhaftet werden zu können. Das Modell »Engagement« hat offensichtlich ausgedient. Seit den frühen 80er Jahren haben sich die »Unberührbaren«, die seit Zolas »j’accuse« fast hundert Jahre lang ihren guten Namen in die Waagschale warfen, um der Sache der Unterdrückten Gehör zu verleihen, derart an die Macht angedient, daß sie ihren Ruf endgültig verspielt haben. Wenn heute KünstlerInnen und Intellektuelle politisch intervenieren, wird man die großen Namen vergeblich suchen und vor allem das »Im-Namen-Anderer-Sprechen«. Der Name ist unerheblich geworden, denn das Engagement ist durch eine neue Form abgelöst worden, die immer weiter um sich greift: den Aktivismus.

Aktivismus!
Für den Aktivismus spielt das Echo in der Öffentlichkeit eine untergeordnete Rolle, für den Aktivismus gilt: »Schluß mit der funktionalen Dialektik von Engagement und Verrat!« Viel spannender ist, direkt an den Schnittstellen zwischen sozialer Realität und den Choreographien medialer Vermittlung einzugreifen, eigenhändig taktische Manipulationen vorzunehmen, die unvorhersehbare Ergebnisse zeitigen. Der Aktivismus reflektiert und ästhetisiert soziale Prozesse, vom klassischen Protest bis moderner Kommunikationsguerilla. Wenn es kein »Gut« und »Böse« mehr gibt, dann gibt es auch kein »gut« und »schlecht« mehr. Was zählt, ist formale, stilistische, ästhetische Mannigfaltigkeit, und diese wird umso größer je selbstbewußter, eine neue Generation von KünstlerInnen und AktivistInnen mit dem Inhalt umgeht, der in den Zeiten von Internet meistens auch besser »content« genannt wird.

Im »Hybrid Workspace« auf der letztjährigen documenta, einem relativ wenig beachteten Projekt in der Orangerie, trafen sich hundert Tage lang die Vorreiter des »Aktivismus«: »We want Bandwith« riefen die Amsterdamer Netz-Pioniere von »de waag«, die kurz zuvor die Internet-Aktivitäten gegen den Euro-Gipfel koordiniert hatten. Von »Cyberfeminism« bis zum »Tactical Media Manifesto« präsentierte sich eine Techno-Avantgarde, die bei Politik nicht die Nase rümpft und denen aktuelle soziale Auseinandersetzungen die künstlerische Basis bedeuten. Christoph Schlingensief schließlich nutzte den »Hybrid Workspace« für seinen Aufruf, Helmut Kohl zu töten. Was er wirklich meinte, ließ sich einige Wochen später bei seiner Theateraktion »7 Tage Notruf für Deutschland« nicht mehr ignorieren: Interventionen im öffentlichen Raum, welche die Abgeschmacktheit des Engagements zynisch reflektieren, gleichzeitig aber die Straße als ursprüngliches Terrain für die unverstellte Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit zurückfordern.

Als Tribut an die Bewegung der »sans papiers« konzipierte die internationale Gruppe [cross the border] ihren Beitrag zu Anfang des Hybrid Workspace: zehn Tage lang wurde die Orangerie in eine Schnittstelle zu den aktuellen Auseinandersetzungen in Paris umgebaut. »Copy and Paste« hieß die Devise, unter der geladene Vertreter von Flüchtlingsorganisationen und antirassistischen Gruppen aus dem kirchlichen, gewerkschaftlichen und autonomen Spektrum gemeinsam den Appell »kein mensch ist illegal« verabschiedeten. Die Kampagne orientiert sich an ihrem französischen Vorbild: Künstler werden selbst aktiv, gestalten Web-Projekte und Installationen, machen Radio, produzieren Filme und Ausstellungen. Sie gehen auf die Straße – nicht um gesehen zu werden, sondern um zu intervenieren. Sie gehen in Museen und auf Festivals, nicht um ausgestellt zu werden, sondern um die Wirklichkeit hereinbrechen zu lassen. Und die Wirklichkeit ist geprägt von immer neuen und immer stärker befestigten Grenzen, in einer Welt, in der zwar Geld und Kapital frei herumvagabundieren dürfen, nicht aber die meisten Menschen.

Florian Schneider