diskus 1/98

Das Frankfurter Arbeitslosenzentrum (FALZ) wurde 1982 hauptsächlich als Beratungseinrichtung für SozialhilfebezieherInnen und Arbeitslose gegründet. Mit dem »Archiv von unten«, in welchem Zeitschriften, Flugblätter, Broschüren und Presseveröffentlichungen zum Themenbereich Arbeitslosigkeit und Armut dokumentiert werden, sowie dem Engagement in den »Bundesarbeitsgruppen gegen Arbeitslosigkeit und Armut« (BAG) hat es sich längst auch zu einem politischen Zentrum entwickelt. So finden die Planungstreffen für die monatlichen Aktionstage in Frankfurt im FALZ statt. Seine zentrale Forderung ist die nach »Existenzgeld« für ein »menschenwürdiges Leben«.
Die beiden anderen großen Organisationen in diesem Rahmen sind zum einen die »Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen« und zum anderen seit 1990 der hauptsächlich in den neuen Bundesländern existierende »Arbeitslosenverband«, der eher einer privaten Arbeitsvermittlung entspricht. (Red.)


»Wir sind die neue A-Klasse«
Interview mit Harald Rein vom Frankfurter Arbeitslosenzentrum (FALZ)

diskus: Arbeitslosigkeit gilt ja seit Anfang der 80er als gesellschaftspolitischer Skandal, die Situation von Arbeitslosen verschlechtert sich seitdem zunehmend. Warum kam es gerade jetzt im Februar zu den Protesten in der BRD?

Harald Rein: Es gibt Strukturen und es gibt Proteste seit es Arbeitslosigkeit gibt, nur im kleineren Maßstab und sie wurden bisher ignoriert. Erst jetzt, im Februar diesen Jahres, gab es eine gewisse Medienwirksamkeit, seitdem steht der Arbeitslosenprotest relativ hoch im Kurs. Die Hauptgründe sind sicherlich die Aktivitäten der Arbeitslosen in Frankreich. Die Proteste dort fanden zu einem Zeitpunkt statt, als es bereits die neue sozialistische Regierung gab und die meisten gar nicht damit gerechnet hatten, daß es zu solchen Protesten kommt. Diese Ereignisse haben bei den aktiven Arbeitslosen in Deutschland ein Bauchgrummeln, verursacht und man hat gedacht, das müßte doch eigentlich hier auch möglich sein. Dann gab es synergetische Effekte. Weil die französischen Aktionen medial präsent waren, gab es zunehmend Aufmerksamkeit für die Arbeitslosenproteste hier. Daher sind die relativ geglückten, radikalen, phantasievollen Aktionen der Arbeitslosen die wichtigste Ursache für die Präsenz von Nachrichten über Frankreich in den hiesigen Medien. Neben diesen Faktoren war aber auch die Verabschiedung eines neuen Arbeitsförderungsrechts ab dem 1. 1. 1998 mit vielfältigen Verschlechterungen und Schikanen gegen Erwerbslose eine wichtige Mobilisierungsgrundlage.

diskus: Haben diese Aktionen Anfang des Jahres zu einer Politisierung Eurer Aktivitäten jenseits der Beratungstätigkeit geführt ?

Harald Rein: Eine Verschiebung hat nicht stattgefunden, denn trotz sozialarbeiterischer Teilbereiche ist das FALZ immer bemüht gewesen, sich nicht als pädagogische Einrichtung zu verstehen. Wir sind nie der Meinung gewesen, daß man Arbeitslose betreuen müßte, weil es ihnen schlecht geht oder weil sie unter ihrer Arbeitslosigkeit leiden. Vielmehr sollte die Beratung den Arbeitslosen zu ihrem Recht verhelfen, sie unterstützen und darin bestärken, sich gegen ganz bestimmte Dinge zu wehren. Unsere Position zu sozialpolitischen Fragen hat schon häufig zu Problemen geführt, insbesondere mit der Stadt Frankfurt, weil das FALZ Arbeitslosen z.B. rät, sich zusammenzuschließen und gegen den Zwang zu wehren, für ein bis zwei Mark pro Stunde gemeinnützige Arbeit zu verrichten.

Das hat unter anderem zur Folge, daß Jahr für Jahr die Gelder für das FALZ gekürzt werden. Eine Planungssicherheit für längere Zeiträume wird damit verunmöglicht.

diskus: Nun wird den Protesten in Deutschland seitens der Medien und von vielen gesellschaftlichen Gruppen ja einige Sympathie entgegengebracht. Dabei spielen die »phantasievollen Aktionen« häufig eine zentrale Rolle. Die Aktionsformen haben aber oft etwas sehr zahnloses – wie beurteilst Du die Aktionsformen der deutschen Arbeitsloseninitiativen?

Harald Rein: Auch die Arbeitslosen sind geprägt von den gesellschaftlichen Formen, in denen Konflikte hier ausgetragen werden, deshalb werden natürlich hauptsächlich Aktionen durchgeführt, in denen »Arbeitsplätzchen« verteilt werden oder »Kohlsuppe« gekocht wird; das sind Formen in denen versucht wird, das Problem spielerisch in die Öffentlichkeit zu tragen. Nun ist es nicht falsch, phantasievolle Aktionen durchzuführen. Nur ist es noch nicht gelungen, diesen Aktionen ihren bittstellerischen Gestus zu nehmen und eine andere Richtung zu geben, sie in weitaus radikalere Kampfformen zu überführen. Also etwa damit anzufangen, steinharte Plätzchen zu backen und damit die Zentrale eines Unternehmerverbandes zu beschmeißen oder die Kohlsuppe in die Deutsche Bank zu kippen.

Bisher haben in nur ganz wenigen Regionen Arbeitslose zu sowohl phantasievollen als auch radikaleren Formen des Widerstandes gegriffen. Das ist aber der Punkt, an dem sich entscheidet, inwieweit und ob der Staat sich mit den Protesten auseinandersetzt. Bisher sind die Proteste ja weitgehend ignoriert worden.

diskus: Wie bereits erwähnt, hat sich die soziale Situation von Arbeitslosen ja seit fast zwei Jahrzehnten kontinuierlich verschlechtert. Welche konkreten Verschlechterungen haben denn jetzt zu den Protesten geführt?

Harald Rein: Zunächst ist das Arbeitsförderungsgesetz zu nennen, dessen Hauptfunktion darin besteht, die Arbeitslosen zu zwingen, jede Arbeit anzunehmen. Es gibt keinen Berufsschutz mehr, d.h., es spielt keine Rolle, ob ich Hilfsarbeiter oder Professor bin: Ab dem siebten Monat meiner Arbeitslosigkeit muß ich jede Tätigkeit annehmen, die mir mindestens so viel bringt wie mein Arbeitslosengeld oder meine Arbeitslosenhilfe. Sämtliche Maßnahmen im Arbeitsförderungsrecht sind so angelegt, daß wer einmal in dieser Maschinerie drinsteckt, Stück für Stück die soziale Stufenleiter nach unten gedrückt wird und früher oder später im Armutsbereich landet. So kann innerhalb kürzester Zeit ein Facharbeiter als Pförtner vermittelt werden. Mit seinem sinkenden Einkommen reduziert sich bei erneuter Arbeitslosigkeit eben auch der Anspruch auf Arbeitslosengeld.

diskus: Kann man das als Anzeichen dafür sehen, daß der Staat in Form der Sozialgesetzgebung auf eine Neuordnung der Arbeitsgesellschaft reagiert, in der von Vollbeschäftigung nicht einmal mehr als Ideal ausgegangen wird?

Harald Rein: Klar ist zunächst einmal, daß die Verursacher von Arbeitslosigkeit die Unternehmen sind, die z.B. ihre Profite mit immer weniger Arbeitskräften realisieren. Der Staat ist insofern nicht ganz die richtige Adresse. In diesem Gesellschaftssystem kann er die Unternehmen eben nicht zwingen, existenzsichernde Arbeitsplätze zu schaffen. Von Anfang der achtziger bis zu Beginn der neunziger Jahre bestand die staatliche Arbeitsmarktpolitik im wesentlichen in der Stärkung des sog. zweiten Arbeitsmarktes über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) und in der Förderung von beruflicher Fortbildung und Umschulungen. All diese Programme sind massiv heruntergefahren worden. Umschulungen und Fortbildungen gibt es kaum noch und die ABM existieren zwar noch, werden aber auch stark reduziert. Oder aber sie haben sich im Kern verschlechtert: Neue ABM-Anträge werden nur noch mit einer Tarifsenkung um 20% genehmigt. Die staatliche Strategie hat also nichts mit der Schaffung von existenzsichernden Arbeitsplätzen zu tun.

diskus: Was sind die Gründe dafür? Geht es ums Geld-Sparen, um reine Schikane oder gibt es die Option, mit der Absenkung der Lohnniveaus langfristig den unteren Dienstleistungssektor mit billigen Arbeitskräften zu bedienen?

Harald Rein: Es steckt die Auffassung dahinter, daß man die Arbeitslosen mehr kontrollieren und schikanieren müßte, z.B. durch die dreimonatige Meldepflicht oder durch regelmäßiges Vorlegen von Bewerbungen, um sogenanntes Eigenbemühen nachzuweisen. Dahinter steckt der Vorwurf: Ihr habt euch bislang zu wenig um einen neuen Arbeitsplatz bemüht und seid selbst schuld an eurer Arbeitslosigkeit. Im Grunde genommen geht es um ein »in Bewegung halten« der Arbeitslosen. Das ist in erster Linie Schikane.

Es handelt sich aber auch um eine Strategie. Grundlage dafür ist die Annahme, daß es ein Poten-tial an Arbeitsplätzen besonders im Billiglohnbereich gibt und daß dieses Potential nur deshalb nicht ausgeschöpft worden ist, weil sich noch nicht genügend Menschen finden lassen, die für so wenig Geld eine so beschissene Arbeit machen. Um die Strategie zu realisieren, muß es ein Zwangsinstrumentarium geben, mit dem die Arbeitslosen in diese Billigjobs gedrängt werden können. Das ist der Hintergrund oder einer der Hintergründe, vor dem dieses Gesetz entstanden ist.

In diesem Zusammenhang wird häufig auf das Beispiel USA verwiesen, die es geschafft hätten, mit Billigjobs im Dienstleistungssektor die Arbeitslosigkeit zu senken. Was dabei jedoch häufig unter den Tisch fällt, ist, daß die Zahl der Arbeitslosen zwar statistisch abnimmt, nicht aber die Armut. Tatsächlich sieht es nämlich so aus, daß viele Menschen gezwungen sind, mehrere Jobs anzunehmen und trotzdem mit dem so verdienten Geld kaum auskommen. Armut durch Arbeit also.

diskus: Angesichts dieser Entwicklung scheint die Forderung nach Arbeit zu kurz gegriffen. Die französischen Arbeitslosen scheinen sich dagegen mit ihrer Forderung nach mehr Geld keinen arbeitsmarktpolitischen Illusionen hinzugeben. Gibt es Übereinstimmungen mit den inhaltlichen Forderungen der französischen Arbeitslosenproteste und mit welcher politischen Perspektive verbinden sich diese?

Harald Rein: Was das FALZ inhaltlich voll unterstützen kann, ist, daß die französischen Arbeitslosen eben nicht gerufen haben: »Wir wollen Arbeit, koste es, was es wolle«, sondern als zentrale Forderung aufstellten: »Wir wollen mehr Geld – wir kommen mit dem, was wir haben, nicht aus«. Eine Forderung, die wir hier im Frankfurter Raum auch vertreten.

Weil aber die Arbeitslosenszene in Deutschland sehr heterogen ist – es gibt auch Initiativen, die in erster Linie Arbeit fordern – erschien es uns sinnvoll, einen Forderungskatalog aufzustellen, den alle mittragen können. An erster Stelle steht dabei die Forderung nach der Zurücknahme des neuen Arbeitsförderungsgesetzes (SGB III). Das wird bundesweit von nahezu allen Gruppen in den Vordergrund gestellt. Umstrittener dagegen ist die Forderung nach einer sofortigen Anhebung von Arbeitslosengeld und –hilfe. Dies wird vor allem von solchen Gruppen unterstützt, denen es um eine materielle Verbesserung für Arbeitslose geht.

Um die notwendige Verbindung zu den Noch-Beschäftigten zu verdeutlichen fordern viele Initiativen zum dritten eine drastische Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich.

Die vierte Forderung ist diejenige nach Existenzgeld, eine schon früh von Arbeitsloseninitiativen entwickelte Perspektive, die vor allem von unabhängigen Initiativen getragen wird. Bei der Idee des Existenzgeldes geht es weniger um einen bestimmten Geldbetrag, als vielmehr um eine Reaktion auf die grundlegende Umstrukturierung der Arbeitsgesellschaft. Es ist davon auszugehen, daß Vollbeschäftigung nie mehr erreicht werden wird; dennoch gibt es genügend gesellschaftlichen Reichtum, den es aber anders zu verteilen gilt. Mit diesem Reichtum müssen diejenigen unterstützt werden, die unter den gegebenen Bedingungen nicht arbeiten können oder wollen.

diskus: Kann man innerhalb der Arbeitslosenbewegung von einem Konflikt zwischen diesen beiden Positionen: Recht auf Arbeit und Recht auf Existenzgeld sprechen?

Harald Rein: Diese inhaltliche Auseinandersetzung prägte die erste Zeit der bundesweiten Zusammenarbeit von Arbeitsloseninitiativen. Mittlerweile spielt das »Recht auf Arbeit« allerdings keine große Rolle mehr. Nicht weil die einen die anderen überzeugt hätten, sondern weil die objektiven Verhältnisse diese Forderung zunehmend unrealistisch erschienen ließ. Vielmehr gibt es heute die Einschätzung, daß ein formales Recht auf Arbeit keinen Einfluß auf die realen ökonomisch-gesellschaftlichen Entwicklungen hätte. Das hat bei vielen, gerade bei den gewerkschaftlichen Arbeitslosengruppen zu einer Annäherung an das Existenzgeld-Konzept geführt.

diskus: Welche politischen Perspektiven siehst Du für eine Arbeitslosenbewegung?

Harald Rein: Seit Mitte der siebziger Jahre gibt es in der Bundesrepublik Versuche, sich gegen die Auswirkungen von Erwerbslosigkeit zu wehren. Seit 1982, dem Jahr des ersten Arbeitslosenkongresses, geschieht dies in organisierter Form. Ob wir es in Zukunft mit einer Arbeitslosenprotestbewegung zu tun haben werden, wird die nächste Zeit zeigen. Momentan gibt es Protestformen von Arbeitslosen, die die Grundlage einer Bewegung bilden könnten. Entscheidend wird aber sein, ob es bei einer Mehrheit der Arbeitslosen zu Bewußtseins- und Verhaltensänderungen – in Richtung des Aufbrechens ihres loyalen Verhältnisses zu den gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen, die für ihre Erwerbslosigkeit verantwortlich sind – kommen wird.