Heft 1/99

garip dünya


Hab' meinen Club - Update: Frankfurt geht aus.
legal, illegal ...

Vor nicht allzu langer Zeit herrschte in der Frankfurter Partyszene so etwas wie Aufbruchstimmung. Durch Partys in alten Lagerhallen, Kellern, Tankstellen oder unter Autobahnbrücken wurden, wenn auch immer nur für begrenzte Zeit, bewußt illegal Räume angeeignet. Durch die Form der illegalen Aneignung unterschieden sich diese Orte erheblich von : legalen9 Locations: So eröffneten schon die ökonomischen Bedingungen, unter denen die Partys realisiert wurden, die Möglichkeit, hergebrachte Partystrukturen in Frage zu stellen. Das Equipment stellte oft einen deutlichen Kontrast gegenüber der technologisch ausgerüsteten Großraumdisco dar. Kleine bewegliche Soundsystems, oft unterbrochen durch die Tankpausen der Generatoren, beschallten zu temporären Clubs transformierte Parks und Industriebrachen, um sich nach ihrer copgewaltsamen Auflösung an anderen Orten immer wieder neu zu formieren.

Die konstitutiven Ausschlußmechanismen etablierter Clubs wurden hier oft gebrochen, auf strikte Kleidercodes, rassistische und sexistische Türpolitik verzichtet. Die Konstellation aus unregelmäßigem Event, provisorischer Funktionalisierung des Raumes und quasi-konspirativer Ankündigungspraxis schien kommerzielle Ambitionen zu unterlaufen, Ausschlüsse durch überhöhte Eintritts- und Getränkepreise blieben die Ausnahme. Mit dieser Form entzogen sich diese Partys . zumindest partiell . den sozialen und ökonomischen Kontrollstrategien der Stadt, die die zunehmende Kriminalisierung der Partyszene und wiederholte Copeinsätze zur Wiederherstellung ihrer territorialen Souveränität dagegen setzte.

Thematisiert wurde diese Entwicklung in den Frankfurter Nachttanzdemos, die '97 ihren Höhepunkt erreichten. Die Demos formulierten den breiten Protest gegen verschiedene Formen der Ausgrenzung und der ordnungspolitischen Restrukturierung des öffentlichen Raumes, die ihren Ausdruck als Sicherheitskonzepte in der Vertreibung von MigrantInnen und Obdachlosen, aber eben auch in der Zerschlagung der illegalen Partyszene fanden. Für dieses Anliegen war die illegale Demonstration adäquate Ausdrucksform, das Ordungsamt wählte Bullenparade mit Niederknüppelung und Copkessel als die seine. Die illegale Partyszene war damit aber alles andere als zerschlagen. Vielmehr wurde die illegale temporäre Aneignung von Raum nun zu einem politischen Handlungsinstrument gegenüber den städtischen Repressionsdiskursen Sauberkeits- und Sicherheitswahn, Drogen- und Userkriminalisierung.

Aus dieser Situation hätte eine Reihe von Szenarien widerständiger Praxisformen gegen Kontrolle und Disziplinierung hervorgehen können. Stattdessen machte sich eine gegenläufige Tendenz bemerkbar: Aus den Party- und Nachttanzdemo tragenden Zusammenhängen formierten sich Mach/kergrüppchen, die die illegale Struktur des Events zugunsten der sich ihnen bietenden Chance am Markt einzutauschen gewillt waren. Der : Legalisiererflügel9 der Partyszene bot sich nun der Stadt als Vermittlungspartner zur Subkultur an: Mit der gefälligen Gestattung der einen oder anderen : Homebase9 wäre eine Befriedung (sprich Entpolitisierung) zu erreichen.

Die Clublegalisierungswelle 98/99 verzahnte sich folgerichtig mit konsequenter Plättung der verbliebenen Illegalen, teilweise angestachelt durch Denunziationen der Etablierten (Nordisk-Schließung). Nun ist es sicher nicht das Wesentliche, die : Schweine9 im eigenen Sub auszumachen . wichtiger wäre die Reflexion der verbliebenen Möglichkeiten für Gegenkultur. So konnten Partys politisches Instrument insbesondere deswegen sein, weil sie die stadtarchitektonische Aufteilung in Arbeits-, Ruhe- und Freizeitzonen durchbrachen, während sich die Clubbetreiber in spe in die legalisierten und konzessionierten Erlebnisreservate einweisen lassen. So ist auf dem Gelände der Alten Brauerei explizit ein : Untergrundclub9 vorgesehen, bestimmend für den : Untergrundcharakter9 dürfte hier allerdings vorwiegend die topographische Lage im Untergeschoss des : King Kamehameha Clubs9 sein. Das geplante Ensemble an der Hanauer 186-198 wird mit einer Konzerthalle in einer von der Stadt gewünschten Zwischengröße zwischen Batschkapp und Festhalle abgerundet werden. Clubs folgen städtischer Planungslogik, unfähig den städtischen Umstrukturierungsmaßnahmen (Umnutzung des Güterbahnhofgeländes oder Umstrukturierung des Bahnhofsviertels) inhaltlich etwas entgegenzusetzen.

Es wird aber in diesem Sommer hoffentlich nicht bei passivem Unmut über Langeweile und Abzock an Bar und Kasse der bereits legalisierten Clubs bleiben ...

Oliver Groß & Claus Weiland


Stress und Utopie
Vom 19. bis 21. März trafen sich in Berlin 260 AktivistInnen und Interessierte, um verschiedene Diskussionen der Existenzgeldforderung kennenzulernen und gegenüberzustellen. Das Spektrum der teilnehmenden Gruppen reichte von gewerkschaftslinken Zusammenhängen über EuromarschiererInnen, Arbeitslosen-, Jobber-, und Sozialhilfe-Initiativen bis hin zu den überall vertretenen Spät-, Alt-, Ex- und Post-Autonomen.

Nach einer etwas mißlungenen Auftaktveranstaltung, auf deren Podium außer lauter KritikerInnen keine einzige Person saß, die den Ansatz hätte argumentativ vertreten wollen, konnten die unterschiedlichen Zugänge zum Thema in den vier Foren »Sozialstaatskritik«, »Ende der Lohnarbeit?«, »Feministische Ökonomiekritik« und »Prekarisierung« ver-mittelt werden. Dabei stellte sich heraus, daß die Idee, über solche Debatten wieder eine soziale (Aneignungs-)Bewegung ins Leben zu rufen bzw. die verschiedenen existenten Strukturen zum Thema unter dem gemeinsamen Label in einen intensiven Austauschprozeß zu bringen, unter den Konferenz-TeilnehmerInnen nicht unumstritten war. In den Diskussionen war unüberhörbar, daß es als durchaus problematisch gilt, wenn über das ambivalente Vehikel einer : reformistischen Provokation9 die eigentlich : linken9 Inhalte immer erst ex post in die Debatte eingebracht werden können. Eine garantierte Existenz an sich würde halt weder die Ideologie der Arbeit umwerfen, noch die patriarchale Rollenverteilung, noch das desaströse Management der gesellschaftlichen Naturverhältnisse, und so weiter und so fort. Andererseits ist offensichtlich, daß eine Verwirklichung der Forderung keines dieser Felder unberührt lassen würde. Insofern spekuliert der Ansatz darauf, die Handlungsmöglichkeiten für linke Politik zu erweitern und gerade an den Unzulänglichkeiten der : Reform9 zu politisieren.

In diesem Spannungsfeld zwischen reformistischem Gesicht und utopischem Gehalt wird sich die Debatte wohl auch weiterhin bewegen. Berichte der einzelnen Foren, Einschätzungen, Beiträge können im Netz (www.nadir.org/nadir/initiativ/fels/konferen) gelesen und veröffentlicht werden.

Bodo Pallmer


[Betr.: Kurzschluß des hysterischen Materialismus]

Ode an keinen Arbeitskreis

Überall
Kapital
Arbeitskreise
Hört
Hört
Ilona ja Ilona ist in keinem Kapital-Arbeitskreis
Wiebitte
Wiebitte
aber ja doch
kein Kapital-Arbeitskreis
wieso
aber ja
sage ich doch
Ilona ja Ilona ist in keinem Kapital-Arbeitskreis
Wozu
womit
was soll das
Aber ja doch
sie will
in wirklich
keinen
Kapital-Arbeitskreise sind die besten
die besten
wieso
wie kann das
wer weiß
Name ist Schall und Rauch
Gerd Endrekat und Dagmar
Jörg Hemmers aus Berlin
waren in Kapital-Arbeitskreisen
der Autor der Zahl
Kapital-Arbeitskreis?
Aber ja doch
aber ja aber ja aber ja sag ich doch Kapital-Arbeitskreis
Sie verstehen wohl kein Deutsch meine Dame
Sie will in keinen
Für Gaderobe wird nicht gehaftet
sie will in keinen Kapital-Arbeitskreis
aber jeder muß in einen Kapital-Arbeitskreis
sie will in keinen
jedermann war in einem
Kapital-Arbeitskreis
Kapital
Kapitel
Kaputt
Wer in keinem Kapital-Arbeitskreis ist geht kaputt
Warum willst du denn unbedingt kaputt gehen?
Auch Kaputte haben ein Recht auf Kapital-Arbeitskreise
Gerade Kaputte müssen einen Kapital-Arbeitskreis durchlaufen
Aber ja
das ist ihr Recht
Recht muß Recht bleiben
Niemand kaputt
Kaputte haben ein Recht
sie haben ein Recht auf
den roten echt roten zum Durchblick verhelfenden
Kapitalarbeitskreis
Vor Kapital-Arbeitskreisen sind alle Menschen gleich
Sie will keinen? wirklich keinen
o je ein Kapitalarbeitskreis
Arbeit und Kreise
arbeiten und kreisen arbeiten und kreisen arbeiten und
kreisen und kreisen
sie will in keinen
wir wollen daß sie
wir fordern von ihr
wir fordern unser gutes Recht
Die Internationale erkämpft das
Recht auf Arbeitskreise und Arbeitskreise und Arbeitskreise
und Arbeit und Arbeit
Warum
wozu
was soll das
was will sie
Red Army Fraction
Bakunin und Grotewohl
sie alle waren
sie haben Recht
Recht haben sie aber ja doch
aber ja
aber ja
warum
was heißt
was heißt recht
Beweis her
aber ja doch sie hat recht
auf keinen Kapitalarbeitskreis keinen Kapitalarbeitskreis
keinen Arbeitskreis keinen
Aber Kapitalarbeitskreise sind die besten

Peter-Paul Zahl
in: Die Glücklichen.
Schelmenroman, 1979


Speisetomaten, neutrale Information und das Wir-Gefühl
Über Gentechnik wissen wir ja viel zu wenig Bescheid, um mitreden zu können. Das finden zumindest die Hessische Landesregierung, die Hessische Technologiestiftung, der Verband der Chemischen Industrie und die Deutsche Industrievereinigung Biotechnologie, die darum im Januar und Februar eine gemeinsame »Informationsaktion« an hessischen Schulen durchgeführt haben. »Kernstück« der Aktion war das »BioTechMobil«, das »europaweit erste rollende Genlabor der Sicherheitsstufe S1«. Mit diesem Bus, der inzwischen in anderen Bundesländern unterwegs ist, soll ein »neutrales und wissenschaftlich fundiertes Informationsangebot zur Biotechnologie und Gentechnik« bereitgestellt werden. Neben bunten Postern finden sich dort auch Laborplätze, an denen wir z.B. das »Erbmaterial einer Speisetomate« isolieren können . und dabei erleben, daß »die DNA ein schleimiges Material ist, das Fäden zieht«.

Solche Informationen sind wichtig. Es geht nämlich um nichts geringeres als den Standort. Auf dem zentralen Poster der Ausstellung wird Roman Herzog zitiert: »Die Welt wartet nicht auf Deutschland.« Zu den Standortfaktoren gehört, so verrät die Hessische Technologiestiftung in einer ausliegenden Broschüre, »die Stellung der Bevölkerung zu biotechnischer Forschung und Produktion«. Diese Stellung ist nun leider »nicht immer positiv«. Die Technologiestiftung weiß auch, warum das so ist: »Das Mißtrauen gegenüber den Experten, den Politikern und auch gegenüber der Industrie ist ein generelles gesellschaftliches Problem. Das : Wir-Gefühl9 fehlt. Um ein : Wir-Gefühl9 zu erzeugen, bedarf es einer gemeinsamen Sprache sowie der Anerkennung der Kompetenz des Partners. Den Dialog ehrlich zu führen und über Partizipation zumindest Transparenz zu schaffen sind Zukunftsziele, die beachtet und umgesetzt werden müssen.« Nehme ich eine Tomate auseinander, wird meine Kompetenz als Partner endlich mal anerkannt und durch diese Partizipation wird nun auch transparent, daß die DNA ein schleimiges Material ist. Ach so. Und dann fühl' ich mich so richtig Wir.

Sagen zwei Schüler auf die Frage, was sie von der Ausstellung halten: »Es steht ja so schön da: Die Welt wartet nicht auf Deutschland!« . »Ja, genau: Wir müssen konkurrenzfähig bleiben!«

Uta Schirmer


Freie Bürger für freie Fahrt
Als hätten die USA an der Grenze zu Mexiko nicht schon genug Probleme mit Leuten, die sich, andere oder Zigaretten unrechtmäßigerweise ins Land bringen wollen. Nun stehlen diese Leute den rechtschaffenen US-Bürgern und -Bürgerinnen auch noch die Zeit.

Der Grenzstreifen zwischen Kalifornien und Mexiko gehört zu den hochgerüstetsten in den USA. Neben den Standardsicherungen wie meterhohem Zaun, Stacheldraht und Videoüberwachung ist hier eine ganze Armee von Grenzern samt Luftüberwachung und Bodenerschütterungsmeldern im Einsatz und an den eigentlichen Übergängen ist das ganze Arsenal an High-Tech-Datenüberprüfungen aufgeboten . an der Grenze zu einem Land, mit dem die USA eine Wirtschaftsgemeinschaft bildet. Dummerweise geraten auch die respektablen Reisenden in den Sog dieses Bollwerks: Sicher, erst mal beim Grenzer angekommen, werden sie flott durchgewunken; aber das vorherige Schlangestehen, bis von all den anderen die Migrationspapiere überprüft, die Fingerabdrücke gecheckt und sämtliche Koffer durchwühlt sind . das dauert eben seine Zeit.

Doch die US-Grenzbehörden zeigen sich flexibel: Warum nicht den bislang nur praktisch gemachten Unterschied zwischen verdächtigen und unverdächtigen Leuten schlicht formalisieren? Entledigt des alten Ideologieballasts von formaler Gleichheit klassifiziert man seit Neuestem die einen als low-risk- und die anderen als high-risk-people und teilt ihnen unterschiedliche Fahrbahnen zu. Die, die glauben ersteren Ansprüchen genüge zu tun, können sich einmal gründlich erfassen lassen und sind fortan mit einem Sender im Auto ausgestattet.

Dieser übermittelt schon beim Heranfahren dem Grenzbeamten alle erforderlichen Daten und bannt ein Photo des low-riskers auf dessen Bildschirm; kurzer Abgleich zwischen Real- und Screen-Gesicht und schon ist die Grenze in wenigen Sekunden passiert. Die nötigen 130 $ für dieses Privileg zahlen die, die es sich leisten können, sicher gerne:

Es ist ja so praktisch. Und welch ein Genuß ist der Blick einer solchermaßen bestätigten rechtschaffenen Persönlichkeit in den Rückspiegel auf all die gewöhnlichen Leute, die noch einige Stunden und einige hoffentlich für immer jenseits des Grenzzauns verbringen werden.

Christian Sälzer


do it again, ben: class, race and gender
Ben Diettrich legt heuer in der »reihe antifaschistischer texte« (rat) des unrast-Verlages ein überaus anspruchsvolles Projekt vor: die (Wieder-)Aufnahme einer, wie er selbst schreibt, »Klassenstrukturanaylse« des globalisierten Kapitalismus unter dem Titel »Klassenfragmentierung im Postfordismus«. Dabei nimmt er verschiedene Diskussionsstränge auf: die Klassenklassiker Karl Marx und Max Weber voraussetzend, irgendwo zwischen strukturalistischer Marxlektüre à la Althusser/Wallerstein/Balibar, Karl Heinz Roths »Wiederkehr der Proletarität«, autonomen Diskussionen der Triple Oppression, Erik Olin Wright und der an Poulantzas angelehnten Regulationstheorie von Joachim Hirsch et al. (diese Aufzählung ist keineswegs vollständig).

Wenn auch nach meinem persönlichen Geschmack die diversen Ansätze der : Kritischen Theorie9 der sogenannten : Frankfurter Schule9 (Marcuse oder Sohn-Rethel) viel zu kurz kommen, schmälert das keineswegs den Stellenwert des weit entwickelten Theorieentwurfes von Diettrich. Ein erkenntnisleitendes Interesse des im soziologisch-empirischen Sinne theorielastigen, materialreichen und gerade deshalb sehr lesenswerten Werkes scheint mir die praktische Intervention in die bestehenden Verhältnisse zu sein . jenseits vereinfachender Schemata wie des Ökonomismus und des Geschichtsdeterminismus.

Zu kritisieren wäre, daß Ben Diettrich neuere Thesen um das (vermeintliche?) revolutionäre Subjekt der »ArbeiterInnenklasse«, wie sie exemplarisch der uruguayische Autor Juan Grompone in seinem Beitrag »Zur Dynamik der Klassen im Kommunistischen Manifest« anläßlich der Pariser Manifest-Konferenz der KPF 1998 oder von einer ganz anderen Warte Jürgen Elsässer in seinem vor der Bundestagswahl erschienenen »Braunbuch DVU« (in seinem Epilog versteckt) formulieren, nicht berücksichtigt; und in diesem Zusammenhang ebenfalls nicht den sogar Marx selber zuweilen unterstellten Arbeitsfetischismus; so auch nicht die Einwürfe zu Marx' »Grundrissen« der »Post-«Operaisten wie des jüngst in Frankfurt gehörten Franco Bifo Berardi (www.copyriot.com/unefarce/no1/artikel/forza.htm).

Aber wenn es gar nicht der Anspruch des Autors ist (und sein kann), sämtliche Diskussionen um das revolutionäre Subjekt aufzunehmen, wie wäre also Diettrichs Vorgehen in diesem Sinne zu kritisieren . woher nähme man also den Maßstab der Kritik dafür?

caro octan

Ben Diettrich: Klassenfragmentierung im Postfordismus. Geschlecht, Arbeit, Rassismus, Marginalisierung, Münster 1999; ca. 280 S., ca. 39,80 DM, reihe antifaschistischer texte (rat) im Unrast-Verlag


tracks + cracks
zu kriTh & PoStru

Die Debatte um Kritische Theorie und radikalen Poststrukturalismus wird leider auch in linken Kreisen (etwa in jungle world) meist in einer unsäglich polemischen und redundanten Art und Weise geführt. Davon heben sich diese »theoretischen Lockerungsübungen« mit ihrem Anspruch, einen kontroversen aber produktiven Dialog zu führen, wohltuend ab . auch wenn die Korrespondenzen der Theorien nicht unbedingt direkt im Zentrum der einzelnen auf Vortragsmanuskripten basierenden Artikel stehen. Etwas verwunderlich ist allerdings, warum in dem Band die feministische Diskussion über passende Analysewerkzeuge zur Kritik/Dekonstruktion von Subjekt und Ge-schlecht nicht explizit thematisiert wird.

Zwischen Texten zu Adorno im ersten und Derrida und Deleuze im zweiten Teil wird der Situationismus Guy Debords als mögliches Bindeglied verortet. Es geht um Aktualisierungen klassischer Topoi: ein Beitrag zu Kulturindustrie in Zeiten des Pop & Post; Ansätze zur Reartikulation der Wertkritik jenseits einer »Refundamentalisierung der Kritischen Theorie als Werttheologie«. Wie poststrukturalistische Mikropolitiken höchst brauchbar zum »crack up« kapitalistischer Verhältnisse sein können, zeigt Katja Diefenbach in ihrem Beitrag zu Guattari, Deleuze und Foucault.

Wolfgang Hörbe

jour-fixe-initiative berlin (Hg.): Kritische Theorie und Poststrukturalismus. Theoretische Lockerungsübungen, Hamburg: Argument 1999; 144 S., 24,80 DM


Tausend Karten ohne Grenzen
T-Shirts, Baseballkappen, mousepads ... im Fanshop vor der Berliner Volksbühne konnten vom 4.. 7. Februar diesen Jahres nicht nur diverse Artikel mit dem ominösen »D&G«-Label erworben werden. Hinter Glas gab es etwa den Original-Damenstrumpf eines verstorbenen Stars der Pariser Intellektuellenszene zu bewundern. Einige wagten gar, dessen ebenfalls ausgestellten abgetragenen Mantel in unbeobachtet geglaubten Momenten zärtlich zu berühren.

In den Räumen des Theaters reichten unterdessen unter dem Titel »1000 Plateaus . Karten für das nächste Jahrtausend« (www.milleplateaux.de) die Auseinandersetzungen mit den Gedanken von Félix Guattari und Gilles Deleuze von akademischem Genie-Kult bis zur experimentellen Adaption in Schrift, Sprache und Musik.

Den für mich spannendsten Vortrag im großen Theatersaal hielt Michael Hardt im Anschluß an Marx und Deleuze über die gegenwärtigen Bedingungen der Kommunikation zwischen weltweiten widerständigen Kämpfen. Auf der gleichen Bühne wurde nachts elektronische Musik . : plateau techno9 . zelebriert, getanzt, begehrt und gelauscht.

Im linken Seitenflügel des Gebäudes trafen sich die AktivistInnen von kein mensch ist illegal und cross the border um über Politikformen des für diesen Sommer geplanten zweiten Grenzcamps zu diskutieren. (www.contrast.org/borders) Über Filme und ausgelegte Flugschriften wurde diese Kampagne vielleicht auch solchen eher theoretisch interessierten KongreßbesucherInnen zugänglich, denen der Zusammenhang von rhizomatischer Geophilosophie und der Störung staatlicher Grenzregulierung nicht spontan einleuchtete. Am allabendlichen »elektronischen Lagerfeuer« wurde hier u.a. über das Verhältnis von Migration und immaterieller Arbeit debattiert. Dabei wurden immerhin produktive Fragen aufgeworfen, wozu es bei den meist klassisch-hermetischen Podiumsvorträgen gar nicht erst kam. So waren etwa bei dem Panel »Fluchthilfen: Politik und Kontrolle« m.E. lediglich die Überlegungen Joseph Vogls zum politischen Asyl anregend.

Zwischen den gleichzeitig verstreut stattfindenden Veranstaltungen gab es neben viel hektischer Bewegung auch Zonen, wie rund um die Büchertische von b_books (www.txt.de/b_books), wo sich mit Videoinstallationen und wechselnden DJs an den Platten eine flirrende Atmosphäre herstellte.

Bloß wo kamen all die vielen Uli Knecht her, die immer wieder versuchten, die teilweise bieder-offiziösen Aufführungen im Theater zu stören? Ein Quartier und Fluchtpunkt war wohl der Schizowladen auf dem Vorplatz.

Wolfgang Hörbe


Das System Hirsch
Im Frühjahr letzten Jahres feierte Joachim Hirsch, Soziologieprofessor an der Uni-Frankfurt seinen 60. Geburtstag. Aus diesem Anlaß wurde, wie das so üblich ist in diesen Kreisen, ihm zu Ehren eine Tagung veranstaltet. Titel: »Kein Staat zu machen – Zur Kritik der Sozialwissenschaften«. Die dort gehaltenen Vorträge drängten dann, wiederum nicht unüblich, zur Veröffentlichung und sind seit Ende letzten Jahres in Gestalt eines gleichnamigen Buches erhältlich. Das Problem mit solchen Geburtstagsgeschenken ist freilich, daß sich die Frage auftut, wo der Zusammenhang sei zwischen den Texten und dem Schaffen des Beschenkten. So mag es mit jedem Sammelband gehen. Der vorliegende jedoch versprach durch den eigenen Anspruch, der sich auch im Titel niederschlägt, mehr zu sein als ein Theorie-Gemischtwarenladen, verfaßt von Kolleginnen und »Schülern«, die auf die eine oder andere Weise der theoretischen und politischen Arbeit von Hirsch verbunden sind.

Was nicht weiter schlimm wäre, wenn nicht der Eindruck entstünde, daß der Band nur deshalb stolze 500 Seiten umfaßt, weil die Herausgeber die politische Auseinandersetzung gescheut und einfach alles zusammengestellt haben, was irgendwie zum System Hirsch gehört. Schon eine Auswahl hätte als politische Intervention gedeutet werden können. Aber die war offenbar nicht gewollt.

Mit Interesse habe ich gleichwohl den Teil über »Die Linke an den Hochschulen« gelesen, zum einen, weil die Beschäftigung mit Politik an der Hochschule zumindest ansatzweise kontrovers verläuft. So ist hier der einzige Beitrag zu finden, der sich explizit kritisch mit dem »radikalen Reformismus« auseinandersetzt (Kunz/Oy: »Hochschule: (k)ein radikales Reformhaus«). Zum anderen vermittelte dieser Abschnitt – etwa in den Texten zum Hochschulstreik im Wintersemester 97/98 – noch am ehesten den Eindruck, daß die Frage, was es praktisch heißen kann, »keinen Staat zu machen«, überhaupt irgendjemanden ernsthaft interessiert.

Serhat Karakayali

Christoph Görg/Roland Roth (Hg.) 1998: Kein Staat zu machen. Zur Kritik der Sozialwissenschaften, Münster: Westfälisches Dampfboot. 504 S., 58,– DM