diskus 3/00

Performing the Border
Geschlecht, transnationale Körper und Technologie

Durch das nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) hat sich auf der südlichen Seite des militärisch hochgerüsteten Grenzstreifens zwischen den USA und Mexiko ein gewichtiger Produktionshinterhof der US-Ökonomie etabliert. Hier werden vorwiegend von Frauen zu Niedriglöhnen auch die Produkte der High-Tech-Industrie gefertigt. Der nachfolgende Text beschäftigt sich mit den sozioökonomischen, ideologischen und ästhetischen Verflechtungen zwischen globaler Ökonomie und Geschlechterverhältnissen – zwischen Ausbeutung, Selbst-ermächtigungen, Gewalt und transgressiven Identitäten – in dieser spezifischen Region.

Performing the border ist die hier stark gekürzt vorliegende »Text-Fassung« eines gleichnamigen Videoprojekts von Ursula Biemann, das in Frankfurt während der diesjährigen Buchmesse vom Verlag b_books, Berlin und diskus im Mal Seh’n-Kino gezeigt wurde. Aus diesem Video stammen auch die (modifiziert) abgebildeten Stills. In seiner vollen Länge findet sich der Text in dem vonUrsula Biemann herausgegebenen Buch »been there and back to nowhere. Geschlecht in transnationalen Orten« (b_books 2000). Thanks for the right to re-publish.

Red.

Über die Videobilder einer durch die Wüste fahrenden Frau hört man im Off die Stimme der mexikanischen Künstlerin Bertha Jottar: »Es gibt nichts Natürliches an der Grenze, sie ist ein höchst konstruierter Ort, der durch überschreitende Leute reproduziert wird, denn ohne das Überschreiten haben wir keine Grenze. Dann ist sie nur eine imaginäre Linie, ein Fluss oder einfach eine Wand.«1 Ich habe die Frau am Steuer gefilmt und wurde unweigerlich Teil dieser Reise-Erzählung, die von der US-mexikanischen Grenze als einem performativen Ort spricht; einem Ort, der sich diskursiv über die Repräsentation der beiden Nationen konstituiert und der materiell wird durch die Einrichtung einer transnationalen, korporativen Zone, in der die nationalen Diskurse sowohl materialisiert als auch übergangen werden. Es ist ein ambivalenter Raum am Rande der beiden Gesellschaften, ferngesteuert von ihren Machtzentralen.


Export-Fertigungszone

In künstlichen posturbanen Industrieparks, die sich über große Wüstengebiete hinstrecken, montieren US-Firmen ihr elektronisches Equipment für die Kommunikationsindustrie. Die kapitalintensiven Operationen bleiben im Norden, die arbeitsintensiven Operationen sind südlich der Grenze angelegt. Innerhalb kurzer Zeit führten die Maquiladoras – die goldenen Mühlen – eine technologische Kultur der Repetition, der Registratur und der Kontrolle in die Wüstenstadt Ciudad Juarez ein. Hier werden die mikroelektronischen Komponenten hergestellt für die Datenverarbeitung, für medizinische Instrumente, für Cybertechnologien, Satellitensys-teme, Identifizierungs- und Simulationstechnologien und die optischen Instrumente für die Luftfahrt- und Militärindustrie.

Da ist nichts Natürliches an dieser transnationalen Zone, und möglicherweise ist auch nichts Reales daran. Es ist ein total simulierter Ort mit simulierter Politik – eine Zone, aus der jeder Begriff von Öffentlichkeit entfernt wurde. Jede Art von Versorgung, von der Unterkunft bis zur Wasser-, Gesundheits- und Kinderver-sorgung, ist der Verantwortung des Einzelnen überlassen bzw. spontaner BürgerInnen-Initiativen, die jahrelang für die Beschaffung der rudimentärsten Sozialleistungen kämpfen. Es ist wie nochmals von vorne beginnen zu müssen. Aller humanistischer Konsens ist hier außer Betrieb. Die posthumane Ära, die sich in den nördlichen Industriestaaten in den digitalen, futuristischen Bildern von gehypten Designern ausdrückt, lebt hier an der Grenze ihre dunkle Seite aus. (...)

Es wird deutlich werden, dass die Art von Subjek-tivität, die Transnationalismus nördlich der Grenze hervorbringt, sich radikal von der Subjektivität unterscheidet, die im Süden produziert wird. Die Repräsentationen von transnationalen Subjekten, die vom globalen Kapitalismus produziert werden, unterscheiden sich hier deutlich. Während die identitären Eigenschaften der mobilen KonsumentInnen von Technologie verwischt werden, werden die Subjekte am produzierenden Ende immer mehr überdeterminiert und reduziert auf geschlechtliche, sexualisierte, ethnifizierte und nationalisierte Repräsentationen. (...)
Aus verschiedenen Gründen stellen die Montagefabriken hauptsächlich junge Frauen als Arbeitskräfte an. Jeden Tag treffen Hunderte von Frauen in Ciudad Juarez ein, einer Stadt, die direkt am Rio Grande gegenüber von El Paso, Texas, liegt. Diese Frauen machen den Großteil der Bevölkerung der Grenzstadt aus. Sie haben sich einen neuen Lebensraum geschaffen und gehen ihrer eigenen Vergnügungskultur nach. Sie haben Sozialverhältnisse und Geschlechterbeziehungen verändert und schreiben so die Texte ihrer Körper und ihrer Gesellschaft um. Sie sind die Hardware-Produzentinnen des Cyberspace, welcher Mobilität und Konsumfreiheit schafft – nicht für sich, sondern für Millionen anderer nördlich der Grenze. Sie gehören zwar zu den neuen Mitgliedern einer transnationalen Bürgerinnenschicht, aber zu ganz anderen Bedingungen.


Grenzenkommunizieren

In der Sprache der Konzerne werden die Bedingungen dieser Zone ausdrücklich klar. In der Sprache der Konzerne kann jede Einrichtung und jede Person in Begriffen von Demontage und Remontage gedacht werden. Sie stellen ihre Stätten auf und bauen sie wieder ab, je nachdem wo die Bedingungen am günstigsten sind. Die für die Fertigungsarbeit entwickelte Technologie ist schon lange auf die Personen übertragen worden, welche die Arbeit verrichten. Die Arbeiterin wird in einer post-humanen Terminologie technologisiert, in der ihr Körper fragmentiert, dehumanisiert und zu einer verfügbaren, austauschbaren und marktfähigen Komponente gemacht wird. (...)

Eine Werbeanzeige von Elamex Communications, einem Maquila-Unterhändler in El Paso, Texas, veranschaulicht die Kommunikation von Grenzen, die in Reaktion auf die Auflösung anderer Grenzen der Informationsgesellschaft mit allem Nachdruck aufgerichtet werden. Die Werbung von Elamex richtet sich an US-Konzerne, die eine Verlagerung ihrer arbeitsintensiven Elektronik-Montagen erwägen.2 Der Text setzt den Schwerpunkt auf Arbeitskosten, die auf einen Bruchteil gekürzt werden, auf Qualitätskontrolle, Steuerparadies, beschleunigte Inbetriebnahme, Nähe zum Hauptsitz und zum US-amerikanischen Markt, auf schnellen Umsatz, tiefe Transportkosten, Direktwahl, Flughafennähe. In ihren Begriffen ist Arbeit eine Ziffer: $ 1.00 die Stunde. Sie ist eine entkörperte, bezifferbare Einheit wie jeder andere Anreiz, der den Industriellen geboten wird, um ihre Tätigkeiten im nationalen Raum zu beenden und in der Freizone einzurichten. Das Bild der Anzeige spricht hingegen eine ganz andere Sprache. Es kommuniziert ein Zusammenwirken von psychologischen, sozialen und historischen Beziehungen, die im rationalen Argument für Effizient unterdrückt werden.

In dieser Zone wird jede und jeder in ein transnationales Subjekt verwandelt, und ethnisierte Leute sind die Artikulatoren dieses Diskurses. Nur jenen Körpern wird ein Visum für Mobilität im transnationalen Raum zugesprochen, die es zulassen, markiert, ausgetauscht, kommodifiziert und wiederverwertet zu werden.
Die Anzeige funktioniert insofern als eine Technologie der Überwachung, als es die beiden abgebildeten Frauen innerhalb von sexuellen und ethnischen Kriterien einkapselt. Auf der linken Seite ein aztekisch gemeintes Profil mit rot-weiß-grünen, in die Zöpfe geflochtenen Seidenbändern und auf der rechten Seite ein asiatisches Profil mit Pagenschnitt und Lidstrich, der schräg gestellte Augen simulieren soll. Beide tragen eine Art folkloristische Kleidung. Über den ethnozentrischen Diskurs hinaus bindet das Bild die Frauen an eine allgemein exotisch/erotische nationale Einheit. Dies reduziert sie weiter auf einen Geo-Körper, einen Körper, der in eine Allegorie für einen geschlechtlich, ethnisch und national gezeichneten Kollektivkörper verwandelt ist, wobei die nationalen Tugenden eng mit den Interessen des Konzerns verknüpft sind. Während dieser Vorgang den weiblichen Körper nationalisiert, feminisiert er gleichzeitig die Offshore-Nationen Mexiko und die Philip-pinen, das südostasiatische Land, auf das sich diese Werbung vermutlich bezieht. (...)

Von Anfang an war die Feminisierung des Landes eine Strategie der gewaltsamen Bändigung und Eindämmung, die sowohl in den Bereich der Psychoanalyse als auch in den der politischen Ökonomie gehört. Die Erzeugung dieses historisch kultivierten Begehrens in der Elamex-Anzeige verdeutlicht die Rolle, welche dieses Begehren auch beim Einstellen der weiblichen Arbeitskraft spielt. Es stellt die Körper der Frauen in die Fantasiegeschichte der kolonialen Eroberung hinein. »Mexiko schlägt den Fernen Osten um 10 000 Meilen«, heißt es in der Schlagzeile. In diesem allzu bekannten Szenario werden die zwei Frauen gegeneinander ausgespielt und mit ihrer Sexualität und Weiblichkeit in Wettbewerb zueinander gebracht.

Die geschlechtlich und ethnisch gezeichnete Figur wird zur Artikulatorin der Grenze, dieser fragilen Linie, die den Rand des nationalen Körpers markiert. Im nationalen Diskurs ist die Grenze der Ort, von dem alle Krankheit, Illegalität, Verschmutzung und Armut kommt. Sie ist der verletzlichste, durchdringbarste Ort, an dem sich Ängste stauen. Wo würde sich die Panik um die nationale Identität besser verorten lassen? US-amerikanische Kunden müssen vor allem davon überzeugt werden, dass diese weiblichen Off-shore-Körper kontrolliert sind. Die Anzeige macht es sich zur Priorität, eine gezähmte, fügsame, verlässliche und disziplinierte weibliche Arbeitskraft zu versichern. Ihre manikürten Hände entsprechen dem Firmenstandard; ihr Gesicht drückt Ernsthaftigkeit, Konzentration und Präzision aus. Gefühllosigkeit. Kurz, sie stellt ein Replikat dar, das eigentliche Instrument. Mit dem Chip in der Hand ist ihr Körper in eine robotische Funktion eingeschrieben, er wird zur Verlängerung der Hand und nimmt den Platz des Oberkörpers ein. Ihr Körper wird vollständig technologisiert. (...)

Kommerzielle Repräsentationen stellen gewöhnlich nur die Designer und die high-end-Benutzer dar, die von diesen aufregenden, futuristischen Technologiebildern wieder profitieren. Sie verbessern ihr Gesellschaftsimage und ihren Wert im Arbeitsmarkt, während andere Beteiligte der Industrie – z. B. das Verkaufs- und Verwaltungspersonal im Bürosektor oder die TechnikerInnen und MontagearbeiterInnen im industriellen Sektor – systematisch von der Repräsentation ausgeschlossen sind. Meist finden sich Maquila-Frauen in ganz faden Darstellungen, in Verbindung mit Armut und Ausbeutungsdiskursen im soziologischen und Entwicklungs-Kontext wieder. Warum muss ich einem jungen männlichen Techniker $ 120 die Stunde bezahlen, um meinen Computer zu reparieren, und der jungen weiblichen Arbeiterin $ 1 die Stunde, damit sie ihn zusammenbaut? Es ist eben auch eine Frage der Repräsentation und ihrer performativen Kraft. Die Repräsentation transnationaler Subjekte, die der globale Kapitalismus hervorbringt, sind unterschiedlich in einer Technologie konsumierenden Gesellschaft, in der die Identitätsmerkmale ausgelöscht werden, und einer Technologie produzierenden Gesellschaft, deren Repräsentation durch geschlecht-liche, ethnische, sexualisierende und nationale Zuschreibungen überdeterminiert wird.

Die Elamex-Anzeige wirkt durch einen doppelten Diskurs, durch den die offenbar gegensätzlichen Register des naturalisierten und technologisierten Körpers koordiniert werden. Die gängige Verbindung von »weiblich« und »natürlich« wird nicht durch eine andere klare Gleichsetzung ersetzt, sondern durch die beunruhigende Identifizierung des Weiblichen mit der unbestimmten Mischung von natürlich und technologisch. In dieser Verwicklung von Mechanik und Geschlecht wird der natürlich weibliche Körper abgekoppelt, auf die Maschine zugeschrieben und individuell neu verkörpert als »die Hand« oder »das Auge« eines neuen korporellen Ganzen. Dies sind übrigens jene Körperteile, für die eine Maquila-Frau eingestellt wird: ihre Augen und ihre Finger, denn digitale und mikroelektronische Herstellung erfordert ebenso große optische Genauigkeit wie Fingerfertigkeit. Doch ihre biologische Komponente macht sie anfällig und verletzlich. Ihre Sehkraft ist scharf genug für gerade acht Jahre, dann muss sie ersetzt werden durch eine frische Arbeitskraft. Somit wird ihre organische Sicht bei der Herstellung der Visualisierungstechnologien, auf die unsere Gesellschaft baut, kon-sumiert. Das zwanghafte Begehren nach Sehen und Sichtbarkeit ist ein bestimmendes Merkmal unserer Informationsgesellschaft, wie Mark Seltzers Analyse des Körper-Maschinen-Komplexes Ende des letzten Jahrhunderts mit großer Genauigkeit feststellte.3
Es hat dazu geführt, dass Wissenschaftler und Ingenieure ein ganzes Arsenal an Apparaten und Ins-trumenten entwickelten, um das Potential des menschlichen Auges zu vervielfachen. In den 90ern, beobachtet Rosi Braidotti, dringt der biotechnologische Blick in die intimsten Lebensstrukturen ein und macht das Unsichtbare sichtbar, restrukturiert das noch Ungeformte.4 Der Wunsch, alles sichtbar zu machen, ist auch eine Forderung, Dinge verständlich und regierbar zu machen. Es drückt gleichzeitig eine Fantasie der Überwachung und die Notwendigkeit der Verkörperung aus.5 (...)


Technologien der Kontrolle

Die in Juarez installierten Technologien der Grenz- und Arbeitskontrolle machen die gewaltsamen Beziehungen zwischen Vision, Überwachung, Macht und Körper offensichtlich. Gewerkschaftliche Organisation ist in den Maquiladoras strikt verboten. Einer der Hauptgründe weshalb die Maquiladoras weibliche Arbeitskräfte bevorzugen ist, dass Arbeiterinnen angeblich fügsamer sind und nicht gleich darangehen, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Da die jugendlichen Arbeiterinnen oft das einzige Familieneinkommen nach Hause bringen, üben die männlichen Familienmitglieder erheblichen Druck aus, den Job zu halten und sich den Arbeitsbedingungen zu fügen. Das Maquila-Programm verlässt sich auf die vorherrschenden patriarchalen Familienbeziehungen. Auch hat sich in den letzten Jahren die ganze Industriezone elektronisch vernetzt, und die Fabriken stellen Schwarze Listen auf mit Namen unerwünschter Subjekte, angefangen mit Mördern, Straffälligen aber auch »Feinden« der Maquila; gemeint sind Leute, die versuchen, die Bedingungen in den Maquiladoras in irgendeiner Weise zu verändern. Schwarze Listen sind eigentlich gesetzlich verboten, denn wenn man von einer Fabrik entlassen wird, gibt es keine Chance, irgendwo in der Zone noch Arbeit zu finden. Die Aktivistin Cipriana J. Herrera erzählte mir, dass sie zusammen mit zwei compañeras gefeuert wurde, weil sie eine Cafeteria verlangt hatten.6 Ihre Fabrik lag außerhalb des Industrieparks und es gab für mehrere Hundert ArbeiterInnen keinen Platz zum Essen. Wir sprechen nicht einmal davon, eine Gewerkschaft zu bilden, nicht von Lohnpolitik, Gesundheitsrisiken oder Menschenrechten. Frauen haben Angst davor, wegen des geringsten Ungehorsams ihren Job zu verlieren, niemals mehr einen anderen finden zu können und ihren Familien die Konsequenzen aufzubürden.

Das Maquila-Programm ist ein strategisch wichtiger Punkt in der Ökonomie der mexikanischen Regierung. Das Einkommen aus der Export-Fertigungszone übersteigt bei weitem jenes der Wirtschaftszweige Öl oder Tourismus. Die Regierung kümmert sich intensiv um die Interessen der Maquilas. Und wir können da-von ausgehen, dass die US-Militarisierung der Grenze nicht nur dazu da ist, Illegale davon abzuhalten, die Grenze zu überqueren, sondern auch um die giganischen Investitionen der US-Industrie auf mexikanischem Boden zu schützen. Guillermina Villalva Valdez, eine führende ArbeiterInnenbewegungs-Aktivistin und Akademikerin, die mich während meines ersten Besuches in Juarez sehr unterstützt hat, starb vor wenigen Jahren in einem Flugzeugabsturz auf dem Weg nach Texas, zusammen mit vier anderen Schlüsselfiguren der Arbeiterbewegung.7 Die kleine Maschine explodierte in der Luft; wahrscheinlich durch eine Bombe. Gewerkschaftliche Aktivitäten werden von dem vernetzten korporativen System aufs genaueste verfolgt.

Zeitmanagement ist ein anderes wirksames Kontrollmittel. Aus praktischen Gründen sind die Industrieparks am Stadtrand angesiedelt. Sie sind durch öffentliche Verkehrsmittel nicht zu erreichen, also fahren private Busgesellschaften die ArbeiterInnen bei Schichtwechsel zwischen dem Stadtzentrum und den Fabriken hin und her, oft zu horrenden Tarifen, die bis zu einem Drittel des Monatslohns ausmachen können. Vor Tagesanbruch verlassen die ArbeiterInnen ihren Wohnort an der Peripherie, marschieren den langen Weg ins Zentrum, fahren von dort mit dem Bus eine weitere Stunde zu den Maquilas hinaus und treten um 6 Uhr die Frühschicht an. Sie verbringen dann 9 Stunden in der Fabrik und nehmen den gleichen Weg zurück. Da bleibt keine Zeit zu leben, keine Zeit zu denken, keine Zeit zu organisieren. Ihre ungeheure Zeitinvestition kommt der Technologie zugute, die unser Leben im Norden beschleunigt. (...)

Im elektronisch vernetzten Maquila-System wird jede einzelne Person identifiziert und profiliert. Zeit, Produktivität und der weibliche Körper werden vom weißen, männlichen Management streng überwacht. Die Körperkontrolle reicht bis zum Überprüfen des Monatszyklus, um sicherzustellen, dass die Arbeiterin nicht schwanger ist. Zwangsverhütung und Schwangerschaftstests sind an der Tagesordnung, und selbstverständlich bedeutet Schwangerschaft sofortige Entlassung. Die Reproduktion dieser Körper ist streng kontrolliert, von dem Moment an, in dem sie als produktiv bestimmt wurden. Die beschleunigte Industrialisierung hat heftige Veränderungen bewirkt zwischen den gegensätzlichen Registern von öffentlich und privat, von Arbeit und Fabrik einerseits und Heim und Familien andererseits, oder generell gesagt: zwischen dem Ökonomischen und dem Sexuellen. Wie überall waren in Mexiko diese Register traditionell geschlechtlich getrennt. Frauen kümmerten sich um die häusliche Sphäre während die Männer, Väter, Onkel, Brüder die Familie finanziell versorgten. Was Juarez in kurzer Zeitspanne erlebte, ist die Verschmelzung der getrennten Bereiche des privaten, weiblichen, häuslichen Raums der Reproduktion und des Verbrauchs mit dem des öffentlichen, männlichen Raums der Produktion. Mit der Einstellung von vorwiegend jungen Frauen ist dieses traditionelle Muster stark verändert worden, natürlich nicht konfliktlos. Es überrascht nicht, dass die Arbeiterin als die zentrale Figur des Konfliktes hervorgeht, denn sie verkörpert die beiden Funktionen der Produktion und der Reproduktion. Sie verkörpert gewissermaßen das Problem, das es zu kontrollieren gilt.

Seit NAFTA materialisiert die Grenze diesen Konflikt eindrücklich. Das Abkommen garantiert den freien Fluss von Gütern, verhindert aber den Durchlass von denjenigen Personen, die diese Güter herstellen. Das Überqueren der Ware steht für gute nachbarschaftliche Beziehungen, während das Überqueren von Personen kriminalisiert und polizeilich überwacht wird. (...)


Die Sexualisierung des Territoriums

Eine der deutlichsten und vielleicht auch bedenklichsten Einsichten, die ich an der Grenze gewonnen habe, ist dass die Arbeiterschaft im Süden nicht nur feminisiert, sondern auch sexualisiert worden ist, dass die Arbeiterinnen im wahrsten Sinne des Wortes in ihrer Sexualität adressiert werden. Strukturell gesehen haben junge Frauen in Juarez drei Optionen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen: Sie können in der Maquila arbeiten. Wenn sie in der Fabrik wegen mangelnder Ausbildung nicht genommen werden, können sie domestica werden und privat als Hausmädchen arbeiten. Wenn eine Frau keine Empfehlung für eine solche Stelle aufbringen kann, bleibt ihr noch eine Option: die Prostitution. Doch auch die Sicherung eines Fabrikjobs ist oft nicht die letzte Lösung. Die ungenügenden Löhne zwingen viele Frauen dazu, zusätzlich Geld durch Wochenend-Prostitution zu verdienen. Seit der Schließung der Grenze und ihrer militärischen Durchsetzung gibt es jedoch sehr viel weniger US-Kunden und weniger in den USA lebende Mexikaner, die die Grenze überqueren, um ihre Dollars in Juarez auszugeben. Darin zeigt sich schon die gegenseitige Durchdringung von Arbeitsmarkt und Sexualmarkt innerhalb dieser Wirtschaftsordnung. Diese eine Ziffer, 1 $ pro Stunde, bedeutet die Sexualisierung des ausgelagerten Arbeitsmarkts, der die Frauen an den Rand der Obszönität treibt und sie auf Sex reduziert. Diese eine Ziffer impliziert Zuhälterei durch Großkonzerne. Nicht dass sie direkt am Profit aus der Prostitution partizipieren, aber sie profitieren davon, Arbeitskräften nur ein Taschengeld zahlen zu müssen und die Frauen davon abhängig zu machen, ihren Körper zu kommodifizieren. Prostitution ist nicht nur Bestandteil von Exzess in der zollfreien Zone. Sie ist ein struktureller Teil des globalen Kapitalismus. Seit die Grenze in den 90er-Jahren dichtgemacht und militärisch verstärkt wurde, hat sich die Konkurrenz zwischen den professionellen Prostituierten und den jüngeren, oft heranwachsenden Maquila-Arbeiterinnen, die am Wochenende auf den Strich gehen, verschärft. Die Dynamik an der Grenze zeigt, wie auch der Kundenschwund die Prostitution nicht abnehmen, sondern zunehmen lässt. Bezeichnenderweise ist Juarez, wo Prostitution aus der Maquila-Ökonomie hervorgeht, frei von Zuhältern. (...)

Mit der Maquila-Industrie sind mehrere Hundert Bars und Tanzclubs in Juarez entstanden. Freitags und samstags um 16 Uhr, wenn die Frauen von der Frühschicht zurückkehren, sind diese Bars und Tanzclubs in Downtown Juarez geöffnet. Vor zehn Jahren, während meiner ersten Drehzeit in Juarez, waren die Tanzwettbewerbe nach ganz traditionellen Geschlechtervorbildern gestaltet. Frauen konkurrierten mit Schleckstängel auf der Bühne und führten die begehrlichste Körpersprache auf, die sie für den männlichen Blick zustande brachten. (...) Heute ist die Verschiebung der Kaufkraft auf die jungen Frauen in den Tanzclubs offensichtlich. Die Unterhaltung richtet sich mit Shows männlicher Stripper und Tanzwettbewerben für Männer vornehmlich an weibliche Kunden. Hier sind es Frauen, die den Sex-Appeal von Männern bewerten. Die Songs sind den Mädchen von Torreon oder von Durango gewidmet, den Geburtsorten eines Großteils der Maquila-Arbeiterinnen. Oftmals drücken die Musiktexte explizit sexuelles Begehren von Frauen aus; die ganze Unterhaltungsmaschine ist auf ihr Vergnügen ausgerichtet. Die Verschiebung der Einkommensmuster ermächtigt die Frauen in ihren persönlichen Beziehungen. Sie ermöglicht ihnen den öffentlichen Ausdruck von sexuellem Begehren und leistet die Befriedigung dieser Wünsche mit ökonomischen Mitteln anstelle von anderen traditionellen Dienstleistungen im Bereich von Heim oder emotioneller Reproduktion. (...)


Transgressive Identitäten

Die raffiniertesten Technologien der Überwachung haben Risse und Lecke, und es gibt Löcher im Grenz-zaun und Pfade, die durch die Wüstentäler führen, auf denen Frauen bei Nacht Schwangere über die Grenze bringen. Diese Frauen wissen, wie sie Schlangenbisse und Dehydration vermeiden können, und verlangen wenig Geld dafür, die Schwangeren sicher in einem US-amerikanischen Spital abzuliefern. In der transnationalen Zone habe ich nach solchen Erzählungen Ausschau gehalten, alternativen Wünschen, die sich in transgressiven Bahnen ausdrücken. Wir sollten jedoch bedenken, dass Strategien der Überschreitung aus unterschiedlichen Motivationen hervorgehen können. Während Intellektuelle wie Bhabha oder kulturelle Produzentinnen wie ich subversive Strategien wählen, weil sie zu einem bestimmten Zeitpunkt von kulturellem Interesse sind, wurde Concha, die ein gewöhnliches Leben bevorzugen würde, durch eine Notlage in transgressive Lebensformen hineingedrängt. (...)

»Ich kenne Concha seit etwa fünf Jahren«, sagt Angela Escajeda, während wir zu den Ansiedlungen an der Peripherie rausfahren, »seit sie hier in diesem Haus lebte, das sie aus den Materialabfällen der Maquiladoras baute. Sie sah sich auf einmal von ihrem Mann verlassen und realisierte, dass sie als schwangere Frau keine Arbeit finden würde in Juarez. So traf Concha jemanden – ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht war für sie –, der ihr sagte, wie sie in den USA Zigaretten verkaufen könne. Concha fing also an, über die Grenze zu gehen, dort Zigaretten billiger einzukaufen, sie hinüberzubringen, die Steuern abzuziehen und sie dann billiger auf der anderen Seite wieder in Zirkulation zu bringen. Später, dank ihren Fähigkeiten die Grenze zu passieren und die US-amerikanischen Migrationsbeamten zu umgehen, fing Concha an, Leute illegal hinüberzubringen. Ihre Strategien waren vielseitig und variabel. 1994 war sie mit der Militarisierung der Grenze konfrontiert, als Sylvester Reyes die Grenze zu den USA dicht machte und sich die Aggression gegen Passanten verstärkte. Concha gelang es, die »Undokumentierten« geheim hinüberzubringen und plötzlich, ohne dass sie sich dessen so richtig bewusst war, begann sie Leute zu schleppen. Sie wurde so berühmt, dass Leute von Zentralamerika, bis hinunter nach Nicaragua sie aufsuchten. Sie brachte sie hinüber und verlangte nur kleine Summen dafür, verglichen mit anderen Schleppern. Concha half oft schwangeren Frauen, die im Norden gebären wollen, um US-amerikanische Kinder zu haben, in der Über-legung, dass diese ihnen eines Tages zu Papieren verhelfen und sie von den Leistungen dort drüben profitieren lassen. Concha hatte eine Art ‘Service für schwangere Frauen‘, die sie im öffentlichen Spital in El Paso ablieferte.«

Die Erzählung von Conchas überschreitenden Praktiken steht in radikalem Widerspruch zu den zahmen, fügsamen, leitbaren Körpern der Elamex-Anzeige. Concha passiert die Grenze auf neuen Pfaden, welche sich mit dem ersten Wind verwischen, und geht in der Illegalität ein und aus. Es ist nicht ein einmaliges Überschreiten mit der Aussicht, auf der anderen Seite jemand anderes zu werden. Concha ist ein Subjekt des vorübergehenden Transits, das durch die transnationale Zone kreuzt und immer neue Strategien findet, um die vorherrschenden Machtstrukturen auf ihren Geheimgängen zu umfahren. Die Figur des coyote, der Schlepperin, die Leute über die Grenze schmuggelt, drückt diese Art von »neuem Subjekt« aus, wie es sich Feministinnen und andere PoststrukturalistInnen vorstellen. Als Passantin zwischen kulturellen Orten ist sie die Vermittlerin und ständige Übersetzerin von unterschiedlichen Ablagerungen und registriert dabei Sprache und kulturelle Codes. Als ich in Conchas Haus ankam, war sie bereits nicht mehr da, ohne Nachsendeadresse zu hinterlassen. Sie ist in diesem Sinn durch das System der BürgerInnenkontrolle nicht adressierbar. Sie ist zutiefst subversiv in ihrer Flüchtigkeit, in der mobilen und vergänglichen Natur ihrer Tätigkeit und durch die Desidentifikation und Untreue dem nationalen Programm gegenüber. Hier wird der schwangere, mütterliche Körper, der gewöhnlich das Objekt großen biotechnologischen Interesses und reproduktiver Kontrolle ist, zum Ort der Überschreitung. Concha trägt diese Körper von der transnationalen Zone, in der ihnen die Sozialleistungen von den US-Arbeitsgebern abgesprochen werden, in den nationalen Raum, in dem sie die Leistungen, die ihnen zustehen, in Empfang nehmen können. (...)

Die Grenze ist also eine Frage der Repräsentation, aber performative Realisierung lastet im Endeffekt auf jungen mexikanischen Frauen. Sie setzen die digitalen Technologien zusammen, ihre Zeit und ihre Körper werden bis hin zum Monatszyklus durch das weiße männliche Management strikt kontrolliert und Prostitution wird für viele von ihnen eine Notwendigkeit in dieser Ökonomie, in der sexuelle Gewalt die öffentliche Sphäre charakterisiert. Die Frauen in Juarez haben den Mut zu überleben und darüber hinaus, unter repressiven Bedingungen nein zu sagen zur Gleichgültigkeit und Ausbeutung. Ich anerkenne jede Anstrengung, die sie unternehmen, andere Frauen darin zu unterstützen, bessere und alternative Lebensformen an der Grenze zu finden und so den Text ihrer Subjektivität und Sozietät immer wieder aufs Neue zu schreiben und zu beschreiben.

Ursula Biemann

Anmerkungen:
< 1 > Bertha Jottar, mexikanische Künstlerin, leitet mein Video-Essay Performing the Border ein (43 Minuten, 1999). (back)
< 2 > Elamex ist der größte Produktions-Unterhändler in Mexiko mit Jahresverkäufen von US$ 129 Millionen in 1998 und 17 Fabriken mit Operationen in Elektronik und Elektromechanik für die automotive, Telekommunikations-, Computer-, Militär- und Medizin-Industrie. Diese Anzeige zirkulierte in Industrie-Fachzeitschriften Mitte der 80er-Jahre. (www.elamex.com) (back)
< 3 > Rosi Braidotti, Nomadic Subjects, embodiment and sexual difference in contemporary feminist theory (NY: Colombia University Press, 1994), S. 43. (back)
< 4 > Mark Seltzer, Bodies and Machines (NY: Routledge, 1992), S. 96. (back)
< 5 > Cipriana Herrera, Works for Ciso, Centro de investigación y solidaridad. (back)
< 6 > Guillermina Villalva Valdez war Gründerin von COMO, Centro de organisación para mujeres obreras, einem Zentrum für die Weiterbildung und Politisierung von Arbeiterinnen. (back)


 
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