»Eine Welt, in der
Interview
mit Judith Butler,
»Was
glauben und was hoffen Sie, wie die Zukunft der Geschlechter und die Zukunft
der Homosexualität aussehen wird? Wird es sie überhaupt geben, wenn wir mit
verschiedenen Geschlechtern spielen?« wurde Judith Butler von einer Redakteurin
der Wochenzeitung Freitag gefragt. Ihre barsche Antwort lautete: »Über ein ›Spiel
der Geschlechter‹ ist mir nichts bekannt. ›Queer‹ ist gewiss keine Identität,
sondern beschreibt die Mobilität von Begehren und Geschlecht. Diese Mobilität
kann aber nicht auf ein postmodernes ›Spiel‹ reduziert werden. Viele Männer
fühlen sich als Frauen, viele Frauen als Männer, und diese Trans-Identität ist
sehr oft tief verwurzelt und erzeugt Leid, wenn sie nicht anerkannt wird – wir
haben es also mit ernsthaften psychischen, sexuellen und politischen Themen zu
tun. [Deshalb] kann ich der Vorannahme Ihrer Frage nicht zustimmen.«A
Solche
Klarstellungen sind offensichtlich immer wieder mal notwendig – so hartnäckig
hält sich (hierzulande) eine Lesart, die die Thematisierung der Gewalt der
Verhältnisse durch Judith Butler übersieht und sie zur Theoretikerin des
»anything goes« erklärt. Darauf beziehen sich Butler-bashers und Butler-hypers
gleichermaßen. Während erstere das angebliche Fehlen der Berücksichtigung
materieller gesellschaftlicher Strukturen monieren und das Ende der Möglichkeit
linker Herrschaftskritik heraufziehen se-hen, freuen sich letztere über ihre
unglaubliche Freiheit und sehen sich in ihrem hippen Lebensgefühl bestätigt. So
z. B. zu lesen in der November-Ausgabe der Musikzeitschrift Intro: »Angesichts
popkultureller Phänomene wie Glamrock oder Disco, die offensiv die Formbarkeit
geschlechtlicher Identitäten vorgeführt haben, könnte man sogar fast auf die
Idee kommen, Butler habe das diesen Feldern inhärente Wissen einfach mal
theoretisch ausformuliert.«B
Das
Problem an solch feuilletonistischer Verflachung ist sicherlich nicht das
feuilletonistische, sondern die Verflachung, das Abschneiden produktiver
politischer Implikationen. Im Gegenteil – dass Butler breiter rezipiert wird,
als es manchen VertreterInnen reiner akademischer Lehren lieb ist, ist
natürlich gut und zeigte sich auch anlässlich des Foucault-Kongresses in
Frankfurt im letzten Jahr, wo der Hörsaal VI die Ströme derer nicht mehr fassen
konnte, die gekommen waren, um Butler zu hören und zu sehen. Einige maulten
dann, dass es vielen Leuten sowieso nur um das Event ginge und nicht um eine
ernsthafte theoretische Auseinandersetzung. Mal abgesehen davon, dass sich bei
derartigen Kongressen immer beides (bestenfalls?) vermischt, kann man Butlers
Auftauchen im Rahmen der Konferenz aber vielleicht wirklich als Event /
Ereignis bezeichnen: Anstatt, wie sonst üblich, als Alibi-Panel irgendwo am
Rande versteckt zu sein, wurden hier femi-queere Inhalte mitten im Zentrum der
Konferenz (und zur besten und arbeitnehmerinnenfreundlichen Samstagnachmittagszeit)
verhandelt. Dass es Butler (nicht nur auf dieser Konferenz) gelungen ist, ein
»ja, aber«-Thema mitten in als zentral betrachtete theoretische
Auseinandersetzungen zu katapultieren; dass sie z. B. nicht nur an Foucault
anschließt, um ihn für queere Anliegen produktiv zu machen, sondern dass sie
damit eine bestimmte Lesart von Foucault selbst durchsetzen konnte – dieser
(theorie-)politische Erfolg kann eine schon begeistern, auch ohne alle ihre
Bücher exzerpiert zu haben. (Denn darin – und darüber hinaus – geht es um was,
um politische Auseinandersetzungen, um Denk- und Lebbarkeiten, um Ermutigungen
...)
Nun
wird – und nicht nur mit Butler – queere Thematik hierzulande vielfach in
foucaultianischen Wendungen gedacht. Auf genannter Konferenz und auch in ihren
neueren gerade auf deutsch erschienenen Büchern bringt Butler insbesondere
durch ihren expliziten Bezug auf Hegel eine weitere Dimension ins Spiel:
Vielleicht klarer als der bislang vorherrschende Begriff der »Intelligibilität«
eröffnet das nun aufgegriffene und reformulierte Konzept der »Anerkennung«
Anschlüsse an explizit gesellschaftspolitische Debatten, insbesondere weil
Butler damit demokratie-
theoretische
Überlegungen verbindet. Solche Überlegungen einerseits und die Diskussionen
rund um Körper und Geschlecht andererseits sind aber bisher in linken (und)
fe-ministischen (und) queeren Zusammenhängen meist voneinander getrennte
Felder, deren Verbindungen intensiver zu diskutieren wären.
Das
nun folgende Interview, das wir in einer stark gekürzten Version nachdrucken,
könnte dazu beitragen, den genannten Verkürzungen in der Rezeption zu begegnen,
ohne den alten Schlagabtausch zum hundertsten Mal wieder ausfechten zu müssen.
alexuliuta
[...]
Carolin
Emcke / Martin Saar: Offensichtlich laufen in Ihrem neuen Buch zu Antigone, das
gerade auf Deutsch erschienen ist, einige der Kernprobleme Ihres gesamten
Werkes zusammen: Begierde, Subjektivierung und Subjektwerdung, Macht und
Widerstand.1 Wann haben Sie die Figur der Antigone für sich entdeckt? Wofür
steht Antigone?
Judith
Butler: Ich kam auf die Figur in einem Seminar über zeitgenössische
Hegel-Interpretationen. Und ich hatte das Gefühl, ich müsste mich mit Antigone
beschäftigen, nicht zuletzt weil sich die feministische Theorie an ihr abarbeitete.
Und ich war auch beschämt, weil ich als Hegelianerin bei mir eine Bildungslücke
spürte. Es begann also als eine Art Pflichtübung. Aber dann, als ich das
Theaterstück und die Interpretationen wirklich zu lesen begann, war ich
fasziniert. Als Erstes erstaunte mich, dass Hegel und die meisten anderen
Interpreten Antigone immer als Repräsentantin des Prinzips der Familie, der
Verwandtschaft [kinship] gelesen hatten. Das schien mir unwarscheinlich zu
sein. Schließlich heiratet sie nicht, hat keine Kinder, und sie verkündet, dass
sie kein anderes Familienmitglied außer ihrem Bruder Polyneikes bestatten
würde. Das scheint mir nicht gerade ein Beleg für Antigone als Personifizierung
des Prinzips der Verwandtschaft zu sein.
Emcke
/ Saar: Antigones nicht ganz normale Familiengeschichte wirft ja auch noch
einige Fragen hinsichtlich des Prinzps der Verwandtschaft auf...
Butler:
... der Inzest spielt in dieser Familie ja eine große Rolle. Wenn man so will,
haben Antigone und ihre Verwandten noch keine eigentliche Verwandtschaft
erreicht. [...] Es ist eine wirklich ernsthafte Frage, wie man ihr Schicksal
verstehen muss. Nun haben Lacan und Levi-Strauss behauptet, dass sie das
symbolische Gesetz übertritt. Und dies führt notwendigerweise zum Tod. Aber ich
denke, es geht hier nicht um das Symbolische, sondern um sehr spezifische
Gesetze, die sie übertritt. Stattdessen sollte man sich fragen, wie die Welt
der Gesetze aussehen müsste, in der Antigone am Leben geblieben wäre, hätte
leben können, in der das Leben für sie lebenswert gewesen wäre.
Emcke
/ Saar: Also ist Antigone weder eine Versagerin noch eine Heldin? Was wird
genau an ihr deutlich? Wie die Kriterien für soziales Leben aussehen müssten,
damit Antigone nicht ausgeschlossen worden wäre, damit sie nicht hätte sterben
müssen?
Butler:
Ja. Hegel und Lacan glauben, dass Antigone an der Schwelle von dem steht, was
überhaupt als erkennbar und verstehbar gilt. Ich setze mich davon ab, indem ich
mich frage: Welche spezifischen Formen von Intelligibilität beschränken und
verurteilen Antigone? Was mich noch mehr umtreibt, ist die Frage, wie die Figur
der Antigone, wie die Geschichte ihres Scheiterns im heutigen Diskurs immer
noch verwendet wird, um eine bestimmte Form der Intelligibilität zu etablieren
und zu stabilisieren. [...]
Emcke
/ Saar: Ihr bald auf Deutsch erscheinendes Buch The Psychic Life of Power
vereinigt Diskussionen verschiedener Theorien.2 Was ist das Leitmotiv für die
Essays? Ist es die schon oben erwähnte und auch im Titel anklingende doppelte
Bedeutung von Subjektivierung als einerseits Unterwerfung, andererseits
Subjektwerdung?
Butler:
Die Texte in dieser Sammlung sind Antworten auf die alte Frage, warum es so
schwer ist, sich aus früheren Unterwerfungen zu lösen. Manchmal hat man Angst,
diese Frage auch nur zu stellen, weil sie in der Logik zu stehen scheint, die
das Opfer für seine Leiden und sein Schicksal verantwortlich machen will. Oder
anders gefragt: Wieso sind es ge-nau die Begriffe, die uns beleidigen,
verletzen, kontrollieren, regulieren, ohne die wir nicht zu leben wissen, die
wir brauchen, um eine öffentliche oder soziale Position einzunehmen? Die
Psychoanalyse wirft die Frage auf, wieso wir uns ausgerechnet an die Begriffe
binden, die uns abwerten und herabsetzen. Die übliche Antwort ist, dass wir
nicht ohne sie sein können, sie ermöglichen uns, am Leben zu bleiben. Das ist
paradox.
Emcke
/ Saar: Ist das ihr Verständnis von dem, was bei Wendy Brown »wounded
attachment« heißt? 3
Butler:
Ja, vermutlich. Ich will ja nicht sagen, dass es immer genau die Sprache ist,
von der wir am meisten abhängig sind, die uns am meisten demütigt, aber das
kommt oft vor. Foucault warnt uns: Die Identitätskategorien sind außer
Kontrolle, sie regulieren und kontrollieren uns. Manchmal übernehmen wir aber auch
absichtlich eine Kategorialisierung oder bewegen uns im Rahmen etablierter
Kategorien, weil wir sie uns auch aneignen und durch sie öffentlichen Einfluss
ausüben können. So könnte ich zum Beispiel sagen: »Ich als Frau glaube
Folgendes«. Das wäre nicht leicht für mich, aber auch nicht unmöglich, so zu
reden. Wenn ich so rede, setze ich mich einer gewissen Verletzlichkeit aus –
und ich verstehe es als eine wichtige politische Geste, um eine gewisse
Anerkennung sicherzustellen; man operiert also immer mit einer bestimmten
Ambivalenz. Stuart Hall hat das am Beispiel der Bezeichnung »schwarz« gezeigt,
andere mit »queer«, im Rap in den USA werden rassistische Bezeichnungen so
umfunktioniert: Man besetzt einen verletzenden Begriff, genau um die Verletzung
auszustellen und den Begriff eine andere Bedeutung annehmen zu lassen.
Was
die Frage nach dem »wounded attachment« angeht, will ich nur noch kurz sagen,
dass Foucault eine Sache theoretisch nicht denken konnte: die Begierde, in
seinem Sein zu bestehen in Spinozas Sinne, und die Tatsache, dass die Begierde
zu sein nur durch Anerkennung erfüllt werden kann, ganz hegelianisch
verstanden. Wenn ich mich hier also von Wendy Brown unterscheide, dann darin,
dass ich die Frage nach Verletzung und Identität wahrscheinlich mithilfe der
spinozistischen und hegelianischen Vorläufer der Psychoanalyse und natürlich
auch mit Freud stellen würde. Die Begierde zu sein, erkannt, gesehen, anerkannt
zu werden, halte ich für fundamental, und manchmal nehmen wir in Kauf, aufgrund
von Begriffen erkannt, wahrgenommen, platziert, aufgenommen und aner-
kannt
zu werden, die uns einer enormen Ambivalenz aussetzen, aber wir tun es dennoch,
weil wir nur so sein, das heißt anerkannt werden können.4
Manchmal
sind die verfügbaren Anerkennungsbegriffe hochambivalent, und eine soziale
Existenz wird nur um einen hohen Preis versprochen, und eine Art Opfer wird
gefordert. Ich würde sogar sagen, ein bestimmter Entfremdungseffekt ist der
Preis dafür, einen solchen Ort überhaupt einnehmen zu können. Nur so können wir
im Raum des Lesbaren, Intelligiblen, Anerkennbaren handeln.
Emcke
/ Saar: Wie lässt sich mit dieser ungewöhnlichen Bezugnahme auf Spinoza das
Verhältnis von Begierde und Anerkennung anders verstehen?
Butler:
Spinozas Formulierung einer Begierde, nicht nur zu sein, sondern in seinem Sein
zu bestehen, ist nicht nur theoretisch folgenreich gewesen, sondern war auch
für mich der Ausgangspunkt für zwei Reformulierungen, eine psychoanalytische
und eine machttheoretische. In seinem eigenen Sein bestehen zu wollen, heißt
für Spinoza, nicht dasselbe zu bleiben, sondern bedeutet eine Veränderung und
Erweiterung des Vorgefundenen. Die Begierde zu bestehen kann nicht auf eine
rein bewahrende oder erhaltende Funktion der Begierde reduziert werden; sie wäre
sonst nichts anderes als das, was bei Freud später Selbsterhaltungstrieb heißt.
Aber weil sich die Begierde selbst wandelt, um zu bestehen, stellt sie Bestehen
oder Persistenz über Identität. Damit stellt sich die Aufgabe, wie man die
Bedingungen, unter denen »Überleben« möglich ist, auffinden und unterscheiden
kann.
In
der Tat kann uns unser hartnäckiges Festhalten am Leben dazu bringen,
Existenzbedingungen zu akzeptieren, die unser Leben negieren und entwerten; und
man kann sich darüber täuschen, welcher Weg zu einem mehr oder weniger besseren
»Leben« führt. Das sieht wie ein enormes Entscheidungsproblem für das Subjekt
aus, aber andererseits können die sozialen Kategorien, die Leben und
Anerkennung versprechen und garantieren, selbst problematisch und wenig
lebensfördernd sein. Aber ich denke, es ist wichtig und erhellend zu fragen:
Unter welchen Bedingungen wird Identität lesbar und erkennbar, und wie binden
uns diese
Bedingungen
– im Namen des
Lebens
– an Selbstidentifizierungen, die uns begrenzen und verletzen können? Die
Begierde, in seinem Sein zu bestehen, setzt uns auch der sozialen Verletzung
aus. Die Begierde nach Anerkennung muss durch eine kritische Analyse der
Bedingungen der Anerkennung ergänzt werden.
Emcke
/ Saar: Das klingt wirklich sehr nach Hegel ...
Butler:
Ja, das ist ein ganz hegelianischer Gedanke, und er macht auch klar, wieso es
nicht reicht, zum Psychoanalytiker zu gehen, wenn man sich aus früheren
Verletzungen befreien will. Wir müssen auch fragen: Welche Kategorien sind denn
überhaupt verfügbar, um existieren zu können und (an)erkennbar zu sein? [...]
Wenn
man sich die Frage schwul-lesbischer Ehen als Beispiel für das Einfordern von
Anerkennung anschaut, habe ich einige kritische Fragen. Selbst wenn man
Anerkennung erreicht, wie wird man dann konstituiert und was im Leben der
Gemeinschaft wird gleichzeitig von der neuen Norm dekonstituiert? Plötzlich
sind stark konservative Vorstellungen von sexueller Praxis, monogamer Beziehung
und Familienstrukturen im Spiel und diskreditieren andere Lebensweisen, die für
unsere gesamte soziale Bewegung bisher absolut entscheidend waren.
Emcke
/ Saar: Woher kommt die »Begierde zu sein«? Ist es lebensphilosophisch oder
anthropologisch begründet, eine condition humaine?
Butler:
Ich würde die »Begierde, in seinem Sein zu bestehen«, wie es in Spinozas Ethik
entworfen wird, als eine Art Ausgangspunkt oder Voraussetzung verstehen. Ich
denke, man weiß erst, was es ist, wenn es sich realisiert, und das geht nur
durch Anerkennung. Das Komplizierte ist, dass man nicht außerhalb von
Kategorien der Anerkennung sein kann, auch wenn es sein kann, dass man nicht
innerhalb sein kann. An diesem Punkt scheint es mir wichtig, darauf
hinzuarbeiten, dass man sich den bestehenden Anerkennungskategorien nicht einfach
anpasst, um Zugang zur Anerkennung zu erreichen, sondern eine kritische
Perspektive auf sie gewinnt. Was macht die verfügbaren Anerkennungskategorien
aus, wie könnte man sie ändern? Man muss immer in einem gewissen Sinn »draußen«
bleiben, um eine kritische Perspektive einnehmen zu können.
Emcke
/ Saar: Das bedeutet, dass es in den Kämpfen um Anerkennung nicht nur um die
Anerkennung als etwas Bestimmtes, eine Identität, z. B. eine Minderheit mit
bestimmten
Eigenschaften und Rechten geht, sondern auch um ein neues Aushandeln der
Kriterien von Anerkennung, um die Normen selbst?
Butler:
Es könnte um eine Umgestaltung der vermeintlichen Norm oder um ein Umgestalten
des gesamten Feldes der Normen gehen, die bestimmen, was ei-nen Menschen
(an)erkennbar macht und was nicht. Ich glaube, darum ging es mir bei dem
Antigone-Projekt: herauszufinden, was das Menschliche in einigen Fällen lesbar
und (an)erkennbar macht und was nicht. Anders gefragt: Wie stellt sich durch
die Macht der Anerkennung eine ontologische Verteilung, eine ontologische
Ordnung her? Was ist der »ontologische Effekt« der Anerkennung?
Emcke
/ Saar: Ist der Kampf um Anerkennung prinzipiell unendlich?
Butler:
Eine Erfüllung von Anerkennung wäre der Tod. Manche machen sich Sorgen, wenn
sie hören, Anerkennung sei nie ganz realisierbar, als ob man dann nicht dafür
kämpfen müsste. Aber ich denke, dem Kampf selber kommt ein Wert zu. Wir sind in
der paradoxen Lage, Anerkennung zu benötigen, aber wir sind auch darauf
angewiesen, dass wir an der Umgestaltung der Anerkennungsbegriffe mitwirken
können. Es gibt hier eine Produktivität des Begehrens, das nie mit einer
bestimmten Anerkennung zu erfüllen ist. Keine Anerkennung kann das Begehren
ganz erfüllen, das ist ein guter hegelianischer Punkt und gar nichts
Postmodernes..., aber auf der anderen Seite gibt es auch keine Möglichkeit, das
vollständige Begehren nicht zu begehren... (lacht). [...]
Emcke
/ Saar: Um die Frage politischer Ansprüche geht es in Contingency, Hegemony,
Universality: Contemporary Dialogues on the Left, einem faszinierenden
Austausch zwischen Ernesto Laclau, Slavoj Zizek und Ihnen.5 Was ist ein
politischer Universalitätsanspruch? In welchem Sinn nehmen politische
Forderungen eine allgemei-ne Form an?
Butler:
Ich formuliere in diesem Buch das Konzept der »kulturellen Übersetzung«
zwischen verschiedenen Ansprüchen an Universalität. [...] Ich denke auch dass
es konkurrierende Logiken von Universalität geben kann, aber dann bleibt die Frage,
wie man Pluralität denken kann. Ich denke, es gibt keine Universalität ohne ein
Denken der Pluralität. Es gibt zwei Möglichkeiten, über die Universalität von
Ansprüchen nachzudenken. Es gibt einmal Forderungen oder Ansprüche, die
Personen oder Gruppen darauf erheben dazuzugehören, Teil des Allgemeinen zu
sein, Rechte zu haben und von Rechten geschützt zu werden, die als allgemeine
Rechte oder Rechte für alle Menschen verstanden werden. Es geht also darum, ein
Recht oder die Möglichkeit auf öffentliche Partizipation, auf Inklusion, auf
Einschluss in die Norm einzufordern.
Aber
was tun wir, wenn die sogenannten universellen Rechte oft nicht universell
gelten oder so formuliert sind, dass sie für bestimmte Menschen innerhalb ihrer
politischen Sprache nicht lesbar sind? Viele Philosophen finden das nicht
problematisch; in ihren Augen beziehen sich die universellen Rechte qua
Menschlichkeit auch auf Individuen, die die Sprache der Universalität oder die
universellen Rechte ablehnen. Ich halte das für epistemologischen
Imperialismus. Man tut so, als ob diejenigen, die eine andere politische
Sprache haben und anders über politische Rechte denken, irgendwie weniger
entwickelt wären oder dringend der Aufklärung durch den wahrhaft
universalistischen Standpunkt bedürften. Man stellt sich gar nicht erst die
Frage, ob und wie man die repräsentiert, die nicht repräsentiert werden wollen,
dabei beschäftigt diese Frage die Ethnologen und Anthropologen schon seit
Jahrzehnten.
Ich
will nicht sagen, man könne nicht universalisieren! Und ich sage auch nicht,
man müsse sich immer auf lokale Ansprüche beschränken. Ich möchte den Anspruch
auf Universalität erheben können, das ist politisch extrem wichtig. Meine
Beschäftigung mit internationalen Fragen allgemeiner sexueller Menschenrechte
hat mir sehr deutlich gemacht, dass man diesen Anspruch erheben muss.6
Emcke / Saar: Aber geht es dann um mehr als einen
strategischen Universalismus?
Butler:
Ich weiß nicht, ob er nur strategisch ist. Wenn die feministische Aktivistin
Charlotte Bunch über »weibliche Menschenrechte« – eine seltsame Formulierung! –
redet, will sie eine universelle Anerkennung der Menschenrechte von Frauen
einfordern. Sie will aber auch behaupten, dass wir nicht immer im Voraus wissen
können, welche Form diese Forderung annehmen wird und welche Bedeutung sie in
einem bestimmten Kontext haben wird. Und vielleicht wird sogar der
Rechtsdiskurs nicht die zentrale Form sein, in der sich dieser Anspruch
artikulieren wird, und wird zu Gunsten einer anderen Sprache der Partizipation,
der Repräsentation, der Umverteilung etc. suspendiert.
Für
mich stellt sich die Frage so: Wenn Universalität ohne Selbstwiderspruch
wirksam sein soll, kann sie nicht willkürlich auf eine bestimmte kulturelle
Sphäre oder eine bestimmte Sprache eingeschränkt werden; sie muss einen Prozess
kultureller Übersetzung durchlaufen, um sich selbst als substanzielle
Universalität zu realisieren [...].
Emcke
/ Saar: Der Kampf um Universalität ist also ein offener Prozess? Was halten Sie
von prozeduralistischen Formulierungen dieses politischen Projekts? Kann es
institutionalisiert werden?
Butler:
Das schließe ich nicht aus. Aber auch das Einrichten von Prozeduren, die
Universalität umsetzen sollen, ist nicht immun gegenüber genau diesen Prozessen
kultureller Übersetzung. Auf eine gewisse Weise ist das eine rhetorische Frage:
Wo und wie, durch welches Medium, vor welchem Publikum und mit welchen Folgen
erheben Menschen ihre Ansprüche? Das ist die grundlegende Frage der Rhetorik,
und wenn die Philosophie auf die kulturelle Dimension und überhaupt auf ihre
eigenen Ansprüche auf Universalität antworten will, muss sie sich der
verschiedenen und sehr spezifischen rhetorischen Formen bewusst werden, in
denen politische An- und Einsprüche formuliert werden.
Universalität
ist für mich nicht nur ein strategisches Werkzeug. Ich glaube, wenn man
Universalität als nicht-imperialistischen Anspruch ernst nimmt und sie nicht
paternalistisch oder unter Berufung auf »Vernunft« Orten und Sprachen
aufzwingt, die sich ihr widersetzen, muss man diese Kategorie einigen
kulturellen Herausforderungen aussetzen. Das ist die einzige Möglichkeit,
Universalität konkreter und inklusiver zu reartikulieren.
Das
wird manche nervös machen, sie scheuen das Aufeinandertreffen, den Kampf, das Risiko;
sie gehen davon aus, dass man Universalität in der Vernunft oder in einer
bestimmten Form von angeblich universaler Vernunft begründen kann, unabhängig
davon, ob sie als solche anerkannt ist.
Emcke
/ Saar: Wäre das der Anspruch von dem, was Sie »radical democracy« nennen?
Butler:
Ja, ich fühle mich diesem Projekt namens »radical demo-cracy« verbunden. [...]
Ich habe schon sehr früh darauf hingewiesen, dass das Subjekt in meiner Arbeit
eine politisch privilegierte Instanz ist. In anderen Worten: Wenn wir zum
Beispiel über Menschen und ihr angeblich nicht-normatives, nicht
normenkonformes Geschlecht sprechen, stellt sich die Frage, ob ihre
Menschlichkeit anerkannt wird. Wenn wir über Bevölkerungen sprechen, sehen wir,
dass ein Teil der Be-
völkerung
als Bürgerinnen und Bürger anerkannt sind und ein anderer Teil einen
mehrdeutigen Status zwischen Legalität und Illegalität innehat. Innerhalb einer
Bevölkerung haben einige den Bürgerschaftsstatus, andere haben ihn nicht ganz,
und es gibt immer die Lebewesen, die genau an der Grenze dessen leben, was
(an)erkennbar ist. [...]
Ich
denke, dass sich politische Gemeinschaften in dem Maße produzieren und
reproduzieren, wie sie durch Grenzziehungen das nicht-ganz-Lesbare, nicht-ganz-Lebbare
als Teil ihrer eigenen Gemeinschaft produzieren, als verleugneten, aber
konstitutiven Teil der Gemeinschaft. Und da setzt der richtige Kampf um
demokratische Selbstdefinition ein.
Emcke
/ Saar: Weil auf demokratischem Weg für den Einschluss der Ausgeschlossenen
gekämpft werden kann?
Butler:
Diese Lebewesen sind gewissermaßen bei uns, mit uns, ohne ganz anerkannt zu
sein, ohne am öffentlichen Leben teilzunehmen, nicht außerhalb der
Gesellschaft, aber auch nicht unsichtbar. Für mich ergibt sich daraus das Ziel
einer radikaler verstandenen Inklusion, einem inklusiveren Verständnis dessen,
was als menschliches Leben zählt und anerkannt wird, und das Ziel, Subjekten,
die sich bisher gewissermaßen am Rand des Intelligiblen und Anerkennungswürdigen
befanden, einen größeren Zugang zur Anerkennbarkeit zu ermöglichen. Das macht
manchmal radikale
Interventionen
in die Norm, die Anerkennbarkeit reguliert, nötig, und nicht nur Anpassung. Das
scheint mir ein politisches Projekt zu sein, und das ist wohl die Norm, auf die
ich mich für eine radikaler inklusive Gemeinschaft berufe.
[...]
_*.. Das Interview erschien in der längeren
Originalfassung erstmalig in: Deutschen Zeitschrift für Philosophie, Jg. 49,
Heft 4, September 2001. Wir danken herzlich für die Nachdruckerlaubnis.
_ #
.. Vorspann:
_ A
.. Andrea Roedig: »Über ein ›Spiel der
Geschlechter‹ ist mir nichts bekannt. ...« Interview mit Judith Butler, in:
Freitag Nr. 36, 2001.
_ B
.. Sven Opitz: »Judith Butler. Das
Subjekt und die Macht.« In: Intro Nr.
89, November 2001.
_ # .. Interview:
_ 1
.. Judith Butler: »Antigones Verlangen:
Verwandtschaft zwischen Leben und Tod«, Frankfurt / M. 2001.
_ 2
.. Judith Butler: »The Psychic Life of
Power: Theories of Subjection.«, Stanford 1997; dt.: »Psyche der Macht: Das
Subjekt der Unterwerfung.«, Frankfurt / M. 2001.
_ 3
.. Vgl.: Wendy Brown: »States of
Injury: Freedom and Power in Late Modernity.«, Princeton 1995.
_ 4
.. Zum conatus in suo esse perseverare
und zur spezifisch menschlichen cupiditas vgl.: Baruch de Spinoza: »Die Ethik.«
(1677), III / 6, 7, IV / 18, dt. / lat., Stuttgart 1977, 273 ff. und 475 ff.
_ 5
.. Judith Butler / Ernesto Laclau /
Slavoj Zizek: »Contingency, Hegemony, Universality: Contemporary Dialogues on
the Left.«, London 2000.
_ 6
.. Vgl. zur deutschen Diskussion: Nico
J. Berger / Sabine Hark / Antke Engel / Corinna Genschel / Eva Schäfer (Hg.):
»Queering Demokratie: Sexuelle Politiken.«, Berlin 2000.